Wie ein intellektuelles Spiel

Von kata_____lovic

Rückläufiger Merkur von Emily Segal balanciert mit post-ironischer Distanz in der „Zukunftsübelkeit“ der Start-up-Kultur der 2010er-Jahre in New York. Die kosmische Kraft von Merkur, dem Planeten der Kommunikation, der Information und des Wissens, lenkt den Text. Rückläufiger Merkur ist nicht nur eine Planetenformation mit mystischer Bedeutung, er ist auch eine Metapher für eine persönliche und gesellschaftliche Entwicklung. Ebenso dient die Aura-Farbe Magenta dem semi-autofiktionalen Roman als Symbol. Magenta determiniert Segals Non-Konforminsmus, ihre Künstlerinnen-Identität, ihre Unfähigkeit, sich Autoritäten unterzuordnen und ihre Ambivalenz hinsichtlich Gruppen, Trends und Bewegungen.

Dimension nach Dimension nach Dimension

Das Flirten mit der Esoterik, der Achtsamkeit, der Aura und dem Kosmos füllt eine Lücke des vereinzelten, ironischen Zugangs zum Leben, in dem der Eindruck präsent ist, alles zu durchschauen, intellektuell zu durchdringen, nicht mitmachen zu wollen und trotzdem vor der Notwendigkeit zu stehen, Geld verdienen zu müssen.

Es ist wie ein intellektuelles Spiel Rückläufiger Merkur zu lesen, denn Segal führt Dimension nach Dimension nach Dimension ein, so dass es fast unmöglich erscheint, alle Erkenntnisebenen und Twists dieses Zukunftsromans zu berücksichtigen. Segal spielt mit den Genres des „Künstler:innenromans“ und der in der Literatur omnipräsenten Autofiktion, verdreht sie als Teile der unzähligen Metaebenen und Anspielungen. Soziologie, Literaturwissenschaften, Kulturtheorie, Kunsttheorie, Techphänomene, Popkultur, Feminismus, Kulturkritik, Kapitalismuskritik, New Age – all das findet Einzug und wird durchdrungen, aus der Nähe betrachtet und meist in ironischer Distanz wieder gebrochen.

‚Post-ironische‘ Einstellung zur Arbeit

Rückläufiger Merkur setzt ein in einer typischen Phase, die freischaffende Künstler:innen durchlaufen. Segal ist in den 20ern, ein Elitestudium hinter sich, hat sie mehrere Jobs im Marketing wieder hingeworfen. Mit dem Internetprojekt und Kollektiv K-Hole findet sie zwar Zusammenkunft und eine Aufgabe, aber die Krankenversicherung kann sie sich nicht leisten

eXe, ein aufstrebendes Tech-Start-up, das aus ähnlichen Strukturen entstanden war wie K-Hole, wirbt schon lange um sie. Nach einer Phase des Nicht-Ja-und-nicht-Nein-Sagens folgt Segal scheinbar einer Laune und steigt ein. eXe hat ein online-Tool entwickelt, wird hoch gehandelt, hat Investoren, geht an die Börse, doch es gibt kein Produkt, keinen Plan, keine Monetarisierung. Segals Aufgabe soll es sein, ein Branding und eine Strategie zu entwickeln. 

Sie wähnt die Chance, Kunst und Brotjob zu verbinden: „Als Künstlerin in einem Unternehmen zu arbeiten, war für mich anfangs die Möglichkeit gewesen, mir etwas zu bewahren, was man eine ‚post-ironische‘ Einstellung zu seiner Arbeit nannte.“

Escitalopram, dazu Alkohol und Benzos

Kühl und mit kritischem Abstand betrachtet Segal aus der Zukunft heraus die vergangene Segal. Die vergangene Segal scheint frei, in gesunder Distanz zum Brotjob, doch sie konzentriert Kreativität, Freundschaft, Begehren, Exzess und Rekreation auf das Leben im Start-up, mit zwei scheinbar befreundeten netten attraktiven Jungs als Chefs. „Ein mattsamtiges Gewebe… oder eine gallertartige Schicht“ senkte sich auf ihre Welt herab und trübt den Blick auf Abhängigkeiten, Willkür, Druck und patriarchale Machtausübung. Sie gerät in einen emotionalen Shutdown. Es depressiv zu nennen wäre viel zu gestern – Segal beschreibt sich als post-depressiv. Sie nimmt Escitalopram ein, dazu Alkohol und Benzos, wie scheinbar alle um sie herum. Es stirbt alles ab, die Kreativität, die zwischenmenschlichen Begegnungen mit Sinn. Segal verspürt kein Begehren in keine Richtung, ein sexloses und indifferentes Leben, ohne Überzeugung geht sie zur altmodischen Psychotherapie. 

Doch dann verschieben sich die kosmischen Konstellationen. Der Blutmond läutet die Transformation ein, das „feierliche Gefühl, dass etwas kurz vor dem Zusammenbruch steht“. Segal ist im rückläufigen Merkur. Sie kündigt, muss aber feststellen, dass sie auch darin nicht nur kosmisch gelenkt wird, denn ein befreundeter in der Kunstwelt finanziell erfolgreicher freischaffender Künstler soll es nun richten, so wollen es die eXe-Jungs. Es werden die Seiten gewechselt, sie ist wieder freischaffende Künstlerin und steht vor der Notwendigkeit, Geld zu verdienen und ein anderer freischaffender Künstler nimmt ihren Platz ein.

Eine nicht leicht zu verdauende Distanz

Sprachlich ist Rückläufiger Merkur auch in der Übersetzung von Cornelia Röser von hoher Qualität, denn Beschleunigung, Energie und Intensität korrespondieren mit dem Inhalt. Der Text hat ein hohes Tempo und Dichte, als sie hineinrennt in eXe, dann bleiben die äußeren Geschehnisse zwar temporeich, aber Segal tritt aus ihrem Körper, wird eine leere Hülle, wir werden mit ihr langsam und bleiben auf ironischer Distanz. Als der Merkur rückläufig ist, bremst die Welt außerhalb von Segal ab, alles wird langsamer, greifbarer. Der Text und Segal werden vitaler, ihre Wahrnehmung und ihr Körper werden wieder wach.

Wer es warm braucht und sich mit den Figuren zu verbinden versucht, der oder dem wird Rückläufiger Merkur nicht schmecken, denn wir bleiben auf Distanz und die Kost ist nicht leicht zu verdauen. Es braucht Freude an intellektuellen Kapriolen, an Zeitgeistigem und verschachtelter Popkultur, um Rücklaufiger Merkur mit Begeisterung in sich aufzunehmen.

kata_____lovic ist Psychotherapeutin und so wie hier mit vielen klugen Einschätzungen auf bookstagram unterwegs.

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Emily Segal: Rückläufiger Merkur; 1. Auflage, Juli 2022; Aus dem Englischen von Cornelia Röser; 221 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN 978-3-7518-0080-8; Matthes & Seitz Berlin; 22,00 €

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