Ein gedankenvoller Abend mit Avi Primor

Israel – ein Land im Ausnahmezustand. Seit dem terroristischen Angriff der radikalislamistischen Hamas am 7. Oktober 2023, fünfzig Jahre nachdem Ägypten und Syrien das Land angriffen und es zum so genannten Jom-Kippur-Krieg kam, scheint nichts mehr wie vorher. Der Schock sitzt tief, die Überraschung war groß. Doch war es ähnlich wie im Oktober 1973, als Geheimdienstinformationen über einen möglichen bevorstehenden Angriff von Premierministerin Golda Meir und ihrem Verteidigungsminister Moshe Dayan nicht für vollgenommen worden sind? (Meir hatte damals auch andere Sorgen den österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky betreffend.) Hätte die Regierung um Benjamin Netanyahu wissen können, ja wissen müssen, dass die Hamas mit Hilfe des iranischen Terrorregimes eine solche Attacke plant?

Das sind Fragen, deren konkrete Beantwortung wohl in der Zukunft liegt. Dessen unbenommen ist klar, dass im Vorfeld einiges schieflief, dass Netanjahu und seine rechten und ultra-rechten Koalitionspartner damit beschäftigt waren, eine unbeliebte Justizreform, die die einzige Demokratie im Nahen Osten näher an eine Diktatur gerückt hätte, durchzudrücken. Versagen durch Egoismus, wenn mensch so will, denn dem „Bibi“ genannten Premier geht es in erster Linie darum, nicht ins Gefängnis zu kommen, laufen doch Prozesse wegen Korruption und dergleichen gegen ihn.

Was war und was kann sein?

Vierzehn Jahre soll die Hamas den Angriff vorbereitet haben – natürlich mit Hilfe von Geld, das über Israel nach Gaza kam. Der Gedanke war jener, dass die Palästinenser schon keinen Krieg würden haben wollen, zu groß das Risiko, zu mächtig Israel, zu wichtig der Geldfluss. Weit gefehlt, wie der bestens vernetzte, ehemalige israelische Botschafter in Deutschland (1993 bis 1999) Avi Primor nicht nur in seinem soeben im Quadriga Verlag erschienenen Buch Bedrohtes Israel. Ein Land im Ausnahmezustand schreibt, sondern es auch lebhaft am Abend der Buchvorstellung im Berliner Pfefferberg Theater zu erzählen weiß.

Eine gute Stunde lang spricht der 1935 in Tel Aviv geborene Ex-Diplomat, der mittlerweile einen trilateralen Studiengang für israelische, palästinensische und jordanische Studiernde an dem von ihm gegründeten Zentrum für europäische Studien am Interdiscplinary Center Herzliya in Israel letitet, mit der Journalistin und 3satKulturzeitModeratorin Vivian Perkovic am vergangenen Samstagabend. Es geht um einige der ersten arabisch-israelischen Kriege (wie bspw. den Palästinakrieg 1948/1949, den Sechstagekrieg 1967 oder den erwähnten Jom-Kippur-Krieg), darum, wo Israel in den Wochen und Monaten vor dem 7. Oktober 2023 stand, wie nun damit umzugehen sei und ob es die Möglichkeit eines Friedens und im Zuge dessen einer Zwei-Staaten-Lösung, die Primor seit Jahrzehnten ausdrücklich befürwortet, geben könne.

Grausamkeit und Anerkennung

Primor befasst sich in Bedrohtes Israel ausführlich mit dem Versuch Netanjahus, demokratische Prinzipien zu hintertreiben und den Einfluss der Justiz zu beschneiden. Dass er am Samstagabend deutliche Worte fand, verwundert da kaum (mehr dazu auch noch in unserer zeitnah kommenden Buchrezension). Apropos Gerichtsbarkeit: Dass die Ermittlungen zu Menschenrechtsverbrechen im aktuellen kriegerischen Konflikt aufgenommen wurden, verwundert den ehemaligen Botschafter natürlich nicht. In Bezug auf vorhergehende Kriege meint Avi Primor auch, dass diese es nun einmal mit sich brächten, dass grausame Dinge auf allen beteiligten Seiten geschähen. Unschön, aber dies liegt eben in der Natur von Kriegen.

Auf die Frage Vivian Perkovics, inwieweit zusätzlich zur bereits erfolgten Anerkennung Palästinas als Staat durch 140 von 193 Staaten der Vereinten Nationen, die ohnehin ein schwieriges Verhältnis zu Israel haben (siehe dazu auch das lesenswerte Buch Vereinte Nationen gegen Israel. Wie die UNO den jüdischen Staat delegitimiert, erschienen 2018 bei Hentrich & Hentrich), nun auch jene der EU-Länder Schweden, Norwegen, Irland und Spanien Sorge oder ähnliches auslösen, antwortet Primor lakonisch: „Das bedeutet gar nichts.“ Es handele sich lediglich um eine moralische Geste, über die mensch sich in Israel beziehungsweise die israelische Regierung weder Gedanken noch Sorgen mache.

Nudging und Soft Power

Mit dieser rechtsgerichteten Regierungskoalition könne er sich auch a) kein Ende des Krieges vorstellen und b) sei eine Zwei-Staaten-Lösung derzeit nicht denkbar. Dies vor allem eingedenk des Ministers für Nationale Sicherheit Itmar Ben-Gvir, Vorsitzender der religiös-nationalistischen Partei Otzma Jehudit, der bzw. die durchaus als Zünglein an der Waage gesehen werden. Wie sich nun der am Sonntag erfolgte Rücktritt Benny Gantz‘ (Parteienbündnis HaMahane HaMamlachti) aus dem Kriegskabinett und dessen Forderung nach Neuwahlen auf die derzeitige Situation auswirkt, konnte Primor naturgemäß nicht kommentieren und generell wäre hier nur Spekulation möglich.

Blick in die Zukunft // © the little queer review

Die starke Abhängigkeit von den USA könnten Netanyahu jedoch beweglich(er) machen, meint der Ex-Diplomat. Eine Art Nudging des sowohl Israel als auch „Bibi“ aufrichtig freundschaftlich verbundenen US-Präsidenten Joe Biden könnte helfen – so sich diesem auch europäische Staaten wie Deutschland, Frankreich (wobei hier nach der für Emmanuel Macron verheerenden Europawahl abzuwarten bleibt, wie die Neuwahlen am 30. Juni und 7. Juli ausgehen und ob eine Marine Le Pen an die Macht kommt) oder England anschlössen. (Kürzlich übrigens gelesen, dass Biden Netanyahu im kleinen Kreis auch mal „Arschloch“ nenne… Verständlich, wenn ich überlege, wie ich meine Freund*innen und Bekannten manches Mal, auch ganz direkt, bezeichne.) Immerhin vollbrachte es der „Pendel-Pilger“ Henry Kissinger 1974 auch, mit einer Art Soft Power, Israel dazu zu bringen sich vom Suezkanal zurückzuziehen.

Zukunft und Bedrohung durch Demo

Der kurzweilige Abend endete dann recht abrupt nach ziemlich genau einer Stunde, mit der Antwort auf die Frage, was Avi Primor denn so zu machen gedenke oder bereits mache. Der ließ sich natürlich nicht in seine Kontaktkarten schauen und erwiderte lediglich schmunzelnd, dass er weiter seinen trilateralen Studiengang betreue sowie Meinungsartikel und Bücher schreibe – weswegen er nun hier und unterwegs sei und mit Leuten über all dies sprechen könne. Anschließend wurden Bücher signiert, da schaute der weitsichtige Primor auch direkt in die Zukunft und datierte seine Unterschrift vom 8. Juni mal direkt auf den 9. Juni 2024.

Die Demonstration zieht am Pfefferberg Theater vorbei // © the little queer review

Als wir übrigens auf dem Fußweg zum Pfefferberg Theater waren und auf der Terrasse auf den Beginn der Veranstaltung um 20:00 Uhr warteten, bewegte sich ein sehr lauter, den deutschen Staat als Mörder und gleichsam Israel die Alleinschuld an allem gebender und teils nicht nur dezent aggressiver propalästinensischer Demonstrationszug über die Schönhauser Allee im als ach so bürgerlich gelobten Prenzlauer Berg. Dabei diverse nicht nur „israelkritische“ Parolen skandierend am jüdischen Friedhof und dem ehemaligen jüdischen Altersheim vorbei. Von ein, zwei Teilnehmern wurden wir, neben ein paar anderen, auch gefilmt, fotografiert, beschimpft und, sagen wir mal seicht, bedroht. Dass wir hier einigen Abstand zu diesen hatten und die Polizei zwar zurückhaltend aber doch mit vielen Personen vor Ort war, beruhigte. Ebenso war es erbaulich zu sehen, dass es an der Ecke Schönhauser Alle/Wörther Straße eine kleine Gruppe Gegendemonstrierender gab.

Dass nicht nur wir mit einem leicht mulmigen Gefühl im Pfefferberg Theater saßen, muss an dieser Stelle wohl nicht erläutert werden.

AS

Zum Buch: Avi Primor: Bedrohtes Israel. Ein Land im Ausnahmezustand; Mai 2024; 224 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-86995-143-0; Quadriga Verlag; 24,00 €

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