Auf der Suche nach dem Selbst

Daniel Hell klärt uns in „Das Selbst in der Krise – Krise des Selbst“ über die Anfälligkeit für Kränkungen auf, erzählt wie der moderne Mensch zum Selbst fand und wie fragil es seither geblieben ist.

Von Nora Eckert

Eine persönliche Bemerkung vorweg: 

Bei einem meiner Lieblingsphilosophen fand ich einen Satz, der sich für mich wie ein Merksatz für mein Leben anfühlte. Es geht darin um Selbstfindung und um unseren Platz in der Welt. Das Selbst sagt, was ein Mensch ist. Wir suchen also eine Antwort auf die Frage „Was bin ich?“ Nur ist das mit dem Erkennen so eine Sache. In den Spiegel zu schauen, hilft da nicht weiter. Man sieht sich nur verkehrt. In meiner Jugend hat mich dieses Selbst beschäftigt. Vor allem mit der Pubertät kam da so einiges in Bewegung und das ist wahrscheinlich bei den meisten Menschen so. Aber wie findet man eine Antwort, wenn die Frage unklar ist und dieses Was ständig ins Leere geht?

Dass da etwas offen blieb in meiner Lebensrechnung, war allerdings spürbar, auch wenn sich das nicht beschreiben ließ. Weshalb ich mich eher wie in einem Schwebezustand erlebte, in einer seltsamen Unentschiedenheit. Und dann plötzlich war die Frage da – es ging um das trans*Sein. Das war der Schlüssel. Und mit einmal passte alles zusammen und ergab Sinn.

Aber nun der Merksatz, er stammt von Stanley Cavell und klingt fast banal, so einfach ist er: „Das Los, ein Selbst zu besitzen – menschlich zu sein –, ist eines, bei dem das Selbst stets gefunden werden muss; es ist vom Schicksal bestimmt, gesucht zu werden oder nicht, erkannt zu werden oder nicht.“ So gesehen, besteht immer auch die Gefahr, sein Leben zu verpassen, weil das Selbst nicht erkannt wird.

Ein stabiles Selbst zu besitzen kommt mir heute wie ein Privileg vor. Denn es verleiht Selbstsicherheit und ein Selbstbewusstsein, das keineswegs für alle auch selbst-verständlich zu sein scheint, wie mir jüngst das Buch von Daniel Hell zu verstehen gab, das von einem Selbst im Krisenmodus handelt.

Worin aber besteht die Krise? Und vor allem was ist überhaupt ein Selbst?

Der Autor Daniel Hell ist Psychiater und Psychotherapeut. Er war Professor an der Universität Zürich und führt heute eine psychiatrisch-psychotherapeutische Praxis. Er war und ist in Theorie und Praxis gleichermaßen unterwegs. Sein neuestes, gerade im Schwabe Verlag erschienenes Buch enthält diesen umfassenden Blick auf das Selbst, ist also theoretisch fundiert und mit Lebenspraxis illustriert. Es ist fachwissenschaftlich und trotzdem so geschrieben, dass auch Nicht-Expert*innen eine gewinnbringende Lektüre an die Hand bekommen. Hell, das sei schon mal vorweggenommen, versteht sich auf eine anschauliche Sprache und Erkenntnisgewinn ist garantiert.

Er beginnt mit einer kleinen Begriffsgeschichte und die reicht zurück bis in die Antike, der vielbeschworenen Wiege unserer westlichen Kultur. Bevor der Begriff des Selbst in unser Denken Einzug hielt, sprach man vorzugsweise von der Seele des Menschen. Mit der Ablösung des Seelenbegriffs durch den des „Selbst“ drückt sich eine grundlegende Veränderung des Menschenbildes aus. Es ist das der Moderne. „Während also die Seele eher ein Symbol für das (Er-)Leben ist, stellt das ‚Selbst‘ eher ein Konstrukt oder funktionelles Modell dar.“

Das geht einher mit der Unterscheidung von präreflexivem und reflexivem Selbstbewusstsein. Wobei Hell das präreflexive als ein leibliches und affektives Selbstgefühl beschreibt, das wir aus frühester Kindheit mit in unser Leben nehmen, gewissermaßen als ein im Hintergrund wirkendes Erbe. Entscheidend für die Selbstfindung ist das reflexive Bewusstsein, was Cavell als Suche und Erkenntnis bezeichnet und mit dem Menschsein elementar verbindet. Bei Hell ist das Menschsein weitergedacht und konkretisiert als Individualität. Genau darin aber erkennt Hell auch das Risikopotenzial:

„Das ‚Selbst‘ gibt wieder, wie sich jemand beurteilt, aber kaum, wie jemand körperlich empfindet oder seelisch fühlt. Dieses moderne ‚Selbst‘ hat zwar individualistische Züge einer Selbstbestimmung und Selbstermächtigung, ist aber infolge der damit einhergehenden Selbstbeurteilung sehr fragil.“

Angreifbar werde das Selbst zum einen, weil wir immer auch von der Sicht der anderen auf uns abhängen. Die Gefahr einer Kluft zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung ist stets virulent. Zum anderen wirkt es fragil, weil sich möglicherweise ein Widerspruch auftut zwischen dem, wie wir uns selbst sehen und die nicht einlösbaren Erwartungen aus diesem Selbstbild. Die Verunsicherung des Selbst kennt also einen äußeren und inneren „Feind“. 

Dennoch besitzt es für uns allergrößte Bedeutung. Es sagt, was mir eigen ist und was mich ausdrückt. Auch wenn dem Selbst gleichwohl etwas Unfassbares anhafte, so hinterlasse es wahrnehmbare und analysierbare Spuren. Hell vergleicht das mit dem physikalischen Begriff der Energie. „Niemand hat die Energie je zu Gesicht bekommen und trotzdem ist ihr Effekt vorhanden.“

Als Psychiater interessiert sich Hell ebenso für die Frage, was mit dem Selbst in Verbindung mit psychischen Erkrankungen geschieht – so etwa im Fall von Schizophrenie oder von Depression. In diesen Kapiteln spricht er wohl mehr die Expert*innen an. Wenn es dann allerdings um die therapeutische Praxis geht, liest sich das zuweilen doch recht gruselig. Im Fall von Depressionen arbeitet die Psychiatrie mit nachgerade sadistisch anmutenden Methoden, nämlich mit Schocktherapien aller Art. Man kann diese Kapitel gerne überspringen und hoffen, die so behandelten Menschen mögen das am Ende tatsächlich als Heilung erfahren. 

Wirklich spannend wird es dann wieder, wo Hell das Thema der narzisstischen Kränkung aufgreift, verbunden mit der Feststellung, Kränkungen seien heute allgemein häufiger. Welche Bewandtnis hat es mit dieser gesteigerten Verletzlichkeit? Hier kommen wir einer Antwort näher, warum das Selbst für die Moderne und ihr verändertes, von Autonomie geprägtes Menschenbild einen solchen Bedeutungszuwachs erfuhr. Mit dem unabhängiger werdenden Individuum gewinnt nämlich der reflexive Selbstbezug an Gewicht. Gleichzeitig wachse, so Hell, die präreflexive Empfindlichkeit und Aufmerksamkeit für den eigenen Körper.

Den Individualismus bezeichnet Hell als Soziokultur, die ein „unternehmerisches Selbst“ beschert habe. Mit dem Individualismus geht auch ein Bedeutungsgewinn bei der Frage der Selbstachtung einher, allerdings auch „die Gefahr des Scheiterns an idealisierten Selbstbildern“. Unsere digitalisierte Welt forciert das Ganze, indem es unseren Alltag mentalisiere und virtualisiere. „Je individualistischer eine Gesellschaft ist, desto größer wird das Bedürfnis nach Anerkennung und als desto existenziell bedrohter werden Kränkungen erfahren – erst recht, wenn bei emotionaler Vereinzelung die mitmenschliche Nähe fehlt, um Kränkungen abzufedern. 

Das spricht freilich keineswegs gegen die Emanzipation, die uns eine größere Unabhängigkeit beschert hat. Sie erfordert aber gewisse Strategien für unseren Alltag: Das Akzeptiert-Werden gerade auch im Scheitern scheint ein geeignetes Mittel zu sein. Wobei Hell betont, dass dies keine Einbahnstraße sei, denn wir müssen lernen, uns selbst zu akzeptieren, wenn das Akzeptiert-Werden durch unsere Umwelt wirksam sein soll. Das bedeutet, „aktiv zu resignieren“ und „auf das Schattenboxen zu verzichten und die eigene Verwundbarkeit anzunehmen“. 

„Die moderne Kultur des Individualismus, die die Selbstermächtigung und Selbstverwirklichung sozial verordnet, trägt zum Paradox bei, dass die unreflektierte Forderung nach Autonomie das Selbstgefühl der Scham eher behindert und die sozial bedingte Kränkung eher fördert.“

Das ist, wie gesagt, kein Widerruf des Individualismus, nur hat eben alles scheinbar seinen Preis. Die Chancen überwiegen, wie der Soziologe Anthony Giddens zu verstehen gibt: „Wir sind nicht was wir sind, sondern was wir aus uns machen.“ Und das schließt zugleich ein, sich selbst anzunehmen, wie man ist, und nicht so sein zu müssen, wie andere es von uns wünschen. Oder sinngemäß in den Worten von Alain Ehrenberg, ebenfalls ein Vertreter der Soziologie, als emanzipierte Menschen haben wir Schuld und Gehorsam eingetauscht gegen Verantwortung und Handeln. Also worüber beklagen wir uns?

Nora Eckert ist Publizistin und Ausführender Vorstand bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society

Daniel Hell: Das Selbst in der Krise – Krise des Selbst; März 2022; Broschur; ISBN 978-3-7965-4442-2; Schwabe Verlag; 23,00 CHF

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