Das viel längere Menschenleben eintauschen

„In diesem Moment setzte die Mutter einen heiseren, trocken Schrei ab und Freudenberg erstarrte. Er hatte einen Laut erwartet, aber nicht einen solchen, sofort in ihn eindringenden, sein Blut durchmischenden Ton.“

Carl-Christian Elze – Freudenberg

Eine Frage, die sich mir nicht nur beim Lesen von Carl-Christian Elzes für den Deutschen Buchpreis 2022 nominierten Debütroman Freudenberg stellt, sondern generell, wenn ich Bücher erst nach einer Nominierung oder dem Wissen um eine Auszeichung in die Hand nehme, ist, ob ich sie dann unterbewusst anders lese. Diese stellt sich selbstredend lediglich bei Titeln, die ich schon vorher auf dem Schirm beziehungsweise im Haus hatte. 

„Es war der Tod der anderen, immer der Tod der anderen, aber nur so lange, …“

So im vergangenen Jahr beispielsweise Dana Grigorceas Die nicht sterben oder Monika Helfers Vati; in diesem unter anderem Yael Inokais Ein simpler Eingriff, Esther Kinskys Rombo oder eben Elzes Freudenberg. Natürlich blendet immer mal ein Gedanke wie „Ist es dieser eine Satz, der das Buch nominierungswürdig sein lässt?“ oder „Mag diese Figurenzeichnung dem Buch Literaturpreis X eingebracht haben?“ auf. Das sind ganz klar sehr bewusste Momente und auch nach Ende der Lektüre rattert der Kopf schnell in diese Richtung. Aber stelle ich mir unzählige Fragen mehr, ohne es bewusst wahrzunehmen? Blende ich sie aus? Taste ich Sätze, Momente, Sprach- und Gedankenbilder anders ab, als wenn es einfach „nur“ ein Titel wäre, den zu lesen und zu rezensieren eben auf dem Zettel stand?

Und wenn diese möglichen Fragen nicht fassbar sind, sind sie dann wirklich da? Wie real sind Dinge, die nicht manifest, die unsicher sind? Um diese Frage kreist, jedenfalls meinem Empfinden nach, auch Carl-Christian Elzes Roman immer mal wieder, wenn auch in anderer und natürlich weit metaphorischerer Form. Lyrischer ist er dabei sowieso, denn für seine Gedichte ist der 1974 in Berlin geborene und in Leipzig aufgewachsene Autor so bekannt wie preisgekrönt. 

„…bis er einen selber irgendwann holt, dachte Freudenberg, dann stoppt jede Routine.“

Im Mittelpunkt seiner formal knappen, sprachlich mal draufhauenden, dann ähnlich wie sein Freudenberg verschüchtert klingenden und wie angedeutet metaphorisch ausschweifenden Erzählung steht ein 17-Jähriger, der in diesem eigentlich nicht sein will. Lieber will er verschwinden, aus dem von Gerd und manches Mal seiner Mutter bestimmten Leben, aus seiner Haut, womöglich auch aus seinem Kopf, schließlich ist „das Gehirn […] ein seltsames Organ, ein kleiner schwarzer Sack oder ein unendlicher Raum, vielleicht beides.“ 

Die Chance scheint bei einem Familienurlaub an der polnischen Ostseeküste gekommen, als er sich ohne elterliche Begleitung in den Ort aufmacht, isst, den Strand, an diesem einen halb versunkenen Bunker und aus diesem heraus eine betend aussehende Leiche entdeckt. Zwar mit halbzertrümmernden Schädel, doch wie es scheint, einer, die ihm so ähnlich sieht, dass er die Existenz tauschen könnte: Leben gegen Tod, Sein gegen Verschwinden, Ich gegen Niemand.

„Auf dem Friedhof gab es nichts mehr zu tun, alle waren tot.“

Nicht nur jemand anders, sondern niemand sein wollen, das scheint Freudenbergs Ding und es ergibt Sinn, denn alle, die wer sind, sind nichts Gutes. Menschen sind nichts Gutes, sind Teuflisches, genau wie Menschengemachtes. So beschreibt er typische „Elterngesichter“, den Gerd, der die Mutter aus einer namenlosen Stadt „herausgeschwängert“ habe, sieht „infektiöse Gebäude“ oder meint, dass er jahrelang „zusammen mit Lügnern, Dieben und zukünftigen Mördern in einer Klasse eingesperrt gewesen“ sei. Manch einer dieser Gedanken, so scheint es, könnte auch im Kopf von Trübe-Wolken-Paul rumgeistern

Anders ist da die Natur, sind die Tiere. Anders ist er in dieser Umgebung. Hier kann sich Freudenberg im Passgang bewegen oder gleiten (manches hier lässt an den Stil und Ton von Jonas Eika in seinen Erzählungen in Nach der Sonne denken). Das sorgt in diesem Roman Elzes, der, durch einen Vater, der Zootierarzt war, viel Zeit im Leipziger Zoo verbrachte und später eine zeitlang Medizin und anschließend Biologie und Germanistik studierte, für viel, viel Flora und Fauna im geschriebenen Wort, in den Gedanken seines Protagonisten und, je nachdem wie sehr wir uns auf diese manches Mal phantastisch anmutende Geschichte einlassen wollen, in unserer Assoziation. 

„Was war jetzt seine Arbeit, fragte sich Freudenberg. Nicht länger tot zu sein?“

Stimmig ist dabei nicht jedes Bild, das er nutzt. Zumindest nicht im ersten Moment, letztlich aber doch. Denn stimmig ist in der Welt Freudenbergs ohnehin wenig und als wir uns im weiteren Verlauf des Romans, der ab dem zweiten Drittel nicht nur Zeit-, sondern auch Bewusstseinsebenen und Traumelemente mit Erlebtem vermengt, ohnehin nichts Gesehenem mehr sicher sein können, passt das sehr gut. Zu seiner Wut auf die Welt ohnehin, denn in der Wut – und Liebe – ergibt ohnehin selten alles einen Sinn.

Freudenbergs Flucht in die Freiheit hält dabei nicht lange, er kehrt zurück, in einen womöglich frei gewählten Käfig, was neue Probleme mit sich bringt. Allerdings nicht jene, die die Leser*innen vermuten mögen, nachdem sie den Klappentext des Buches gelesen haben. Hier stellt sich schon die Frage, weshalb mensch bei edition AZUR sich viel Mühe macht, was die wunderbare und sehr passende Aufmachung des Buches angeht, aber weniger, was den Text auf dem Buchrücken betrifft.

Freudenberg jedenfalls ist ein liebevolles Buch voller Wut, in dem alles Schöne, alles Wertige, alles mit Wohlfühlpotenzial womöglich nur Einbildung ist und möchte Freudenberg es fassen, dann beißt es. Alles Hässliche, alles Brutale und alles mit Schreckensfaktor hingegen scheint sehr real. Aber was heißt das schon? Diese Frage mögen die geneigten Leser*innen sich am Ende dieses surreal anmutenden Romans, der zwar Finsteres in manchmal grausigen Bildern erzählt, dies aber – bis auf wenige, nicht zum Rest passenden, eher plumpen Formulierungen – sprachlich so glänzend tut, dass wir gern einmal die dunkle Seite des Seins probieren und mitfliehen. 

AS

PS: „Und? Nominierung viel im Kopf gehabt“, fragt der Kollege. Beim Schreiben der Rezension eher nein, da ging es wirklich nur um das Buch. Doch wer weiß, was ich nicht wahrgenommen habe…

PPS: Das Titelbild zeigt einen Sonnenaufgang vor Stein und Totholz am Strand in der Nähe von Międzyzdroje, Polen.

Carl-Christian Elze: Freudenberg; Februar 2022; Klappenbroschur mit Fadenheftung; 176 Seiten; ISBN: 978-3-942375-54-2; edition AZUR; 20,00 €

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