Und dann fängt etwas Neues an

In nicht wenigen Momenten im Leben klingt ein Neuanfang verlockend, jedenfalls scheint es gern einmal so. Einen solchen verspricht auch der Doktor, wenn er die Menschen, wie es schient zumeist Frauen, von ihren Leiden erlöst. Es ist nur ein simpler Eingriff, währenddem die Behandelten wach bleiben, der es diesen armen Seelen erlaubt, anschließend ein funktionierender Teil der Gesellschaft zu sein. 

Daran, dass dieser simple Eingriff hülfe und die „betroffene Stelle im Gehirn“ unschädlich mache, glaubt die junge Krankenschwester Meret im dritten Roman Yael Inokais, Ein simpler Eingriff, der bereits im Februar bei Hanser Berlin erschienen und nun auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2022 zu finden ist. Vollkommen zurecht, wie an dieser Stelle bereits angemerkt sei.

„Der Spiegel konnte einen belügen.“

Das nicht einmal zweihundert Seiten umfassende, fein austarierte Prosastück Inokais ist dabei in drei Teile aufgespalten, die jeweils die Namen der im Fokus stehenden Protagonistinnen zum Titel haben – Marianne, Sarah und Meret. Wobei das so ganz nicht zutrifft, denn trotz mancher, eher bescheidener Ortswechsel tauscht die an ein Kammerspiel erinnernde Erzählung niemals die Erzählstimme aus. Immer erleben wir alles aus der Sicht Merets, die lange an dem festhält, wie es ihr beigebracht wurde. 

So meint sie, dass der simple Eingriff, der bei Marianne, Tochter aus bestem Hause, durchgeführt werden soll, um ihre Wutstürme einzuhegen und ihrer Unberechenbarkeit Herr zu werden, unbedingt geboten sei. Sie glaubt an eine gute Sache, ist emphatisch bei den Patientinnen, baut im Gegensatz zu den anderen Schwestern eine Beziehung zu ihnen auf und steht auch deswegen scheinbar hoch in der Gunst des Doktors, der seinerseits anders ist als die übrigen Ärzte in dieser Klinik, durch die ein schaler Geruch wabert.

„Eine andere Schwester konnte das nicht.“

Die ganze Geschichte in ihrer klaren, manchmal kantigen, nahezu immer formvollendeten Sprache wird dabei von einem schalen Gefühl begleitet. Dies nicht nur bei offensichtlichen Dingen, sondern vor allem bei jenen, die lange oder durchgehend im Verborgenen liegen. Die, die zwischen knarzenden Dielenböden und hinter verschlossenen Türen, in ausweichenden Blicken und nicht erwiderten Sätzen liegen.

Diese Stimmung erzeugt Yael Inokai schon allein dadurch, dass wir keine zeitliche Einordnung haben. Die Geschichte könnte gut und gern in der bleiernen Zeit oder ein ganzes Stück zuvor spielen, ebenso aber auch in einer dystopischen Zukunft irgendwo zwischen Handmaid’s Tale und Borgen (ja, das ist nicht die Zukunft, aber was ist denn da Bitteschön faul, im Staate Dänemark?). Hinzu kommt eine unheimliche, eigenwillige, in dieser Geschichtsmatrix erstaunlich effektiv funktionierende Mischung aus (vermeintlicher) Wissenschaft, einer bald krankhaften Fortschrittsgläubigkeit und einem religiös-fundamentalistischen Weltbild. In allen dreien ist der Platz der Frauen übrigens ganz klar am Fuße der Männer.

„Da war ein Hunger.“

Sarah, mit der sie im Wohnheim der Schwestern ein Zimmer teilt, scheint nicht unbedingt zufrieden mit dieser Rollenverteilung, was auch Meret dazu bringt, nach und nach manch sicher geglaubte Annahme zu hinterfragen und zeitgleich den Mut aufzubringen, ihre eigene Identität zu ergründen. Oder überhaupt erst einmal anzunehmen, dass sie womöglich gar ein Selbst haben könnte. Dass über die ihr auferlegten Rollen in klar definierten Hierarchien hinausgehen könnte.

„Die Dinge sind … brüchig“ sagt der Doktor, der so viel Wert auf ihre Menschlichkeit legt, an einer Stelle. Meret mag ergründen dürfen, dass auch Persönlichkeiten dies sind und es keiner simplen Eingriffe bedürfe, um mit diesen Brüchen umzugehen. Wie so oft, ist dies natürlich ein Prozess, der auch hier von Vor- und Rückschritten geprägt und von Courage und Angst begleitet wird

„Leise und plötzlich.“

Wenn etwa die zaghaft beschriebene, zögerliche Annäherung zwischen Sarah und Meret auf geistiger und emotionaler Ebene voranschreitet und Yael Inokai Meret hierzu anmerken lässt: „Ich spürte, dass sie etwas mit mir geteilt hatte, das tief unter allem vergraben lag, was ich sonst von ihr wusste. Ich spürte es, und ich fühlte mich besonders, und ich wollte es nicht“, so ist das auf der einen Seite großes Sprachkino.

Auf einer anderen Seite eröffnet es Gedankenspielräume, wie wohl nicht so viele Autor*innen es in so kurzer Form aufs Dramatischste und doch ohne Pomp schaffen. Das ist es auch, was Ein simpler Eingriff zu einem so beeindruckend und verhängnisvoll ergreifenden Werk macht: Inokai scheint nicht nur die Macht der Worte als Klangwerkzeuge sondern vor allem als Operationswerkzeuge zu kennen, um so eine perfekte, aufregende und gesellschaftspolitisch relevante Geschichte zu drapieren. 

Zusätzlich das Gefühl, jede der Figuren auf kürzester Strecke zu kennen, jede von ihnen empfinden und weitergehen sehen zu können, von Seite zu Seite wachsen und nie zerbersten zu lassen, welche Bücher schaffen das? Welche meistern es? Dieses Buch in jedem Fall – und in jedem Fall gehört es auf die Buchpreis-Shortlist.

AS

PS: Das im drittvorletzten Absatz auftauchende Zitat, könnte beinahe auch in Kaśka Brylas Die Eistaucher stehen; es würde leicht abgewandelt perfekt zu Iga passen. Inokai und Bryla sind übrigens Teil der Redaktion des Magazins PS: Politisch Schreiben – schaut da mal vorbei.

PPS: Für mehr Topfzimmerpflanzen!

PPPS: Am 31. März 2023 wurde bekanntgegeben, dass Yael Inokai für ihren Roman Ein simpler Eingriff den Clemens-Brentano-Preis für Literatur der Stadt Heidelberg erhält. Wir gratulieren!

In der Jury-Begründung heißt es: „Was bedeutet Freiheit? Wer bestimmt, was als normal gilt? In ihrem dritten Roman ‚Ein simpler Eingriff‘ erzählt Yael Inokai von einer Welt, in der Wut und Aufbegehren nicht vorgesehen sind. Und von Meret, die beginnt, dieses System in Frage zu stellen. Mit so präziser wie evokativer Sprache erschafft die Autorin eine klaustrophobe Atmosphäre – und eröffnet zugleich weite Assoziationsräume. Die Tradition literarischer Dystopien aufgreifend, lässt ‚Ein simpler Eingriff‘ am Ende eine Utopie weiblicher Solidarität aufscheinen.“

Die Verleihung des mit 10.000 Euro dotierten Preises ist geplant für Mittwoch, 12. Juli 2023, um 19 Uhr im Spiegelsaal des Palais Prinz Carl in Heidelberg. Am Vorabend der Verleihung, 11. Juli 2023, wird die Preisträgerin um 19.30 Uhr in der Stadtbücherei Heidelberg aus ihrem Werk lesen.

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Yael Inokai: Ein simpler Eingriff; Februar 2022; Hardcover mit Schutzumschlag, 192 Seiten; ISBN: 978-3-446-27231-6; Hanser Berlin; 22,00 €

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