Die drei Hauptströmungen der CDU werden immer wieder beschworen. Vor allem die vorletzte Vorsitzende der Partei, Annegret Kramp-Karrenbauer, bemühte regelmäßig „das Konservative, das Liberale und das Christlich-Soziale“, das die Partei in ihren Grundfesten präge. Vom aktuellen Vorsitzenden Friedrich Merz hören wir solche Aussagen seltener – er gilt als gesellschaftlich konservativ und wirtschaftlich liberal – ein wirklich scharfes Profil konnte er der Partei in seiner etwa halbjährigen Amtszeit trotz des verhältnismäßig starken Auftritts in der Haushaltsdebatte in der vergangenen Woche aber noch nicht verpassen.
Dabei hat die Partei nun den starken Mann an der Spitze, den sie sich so lange gewünscht hat. Prinzipiell kann Merz nun schalten und walten, wie er will, aber die oft beklagte „inhaltliche Entkernung“ der Merkel-Ära scheint noch nicht einmal in Ansätzen überwunden. „Denn die Frage stellt sich schon“, wie Kramp-Karrenbauer einst etwas umständlich formulierte, was denn der Markenkern der CDU oder vielmehr der Christdemokratie im Allgemeinen ist. Dem und noch einigem mehr geht der Forscher Fabio Wolkenstein in seinem bei C.H. Beck erschienenen Buch Die dunkle Seite der Christdemokratie – Geschichte einer autoritären Versuchung nach.
Back to the roots?
Der Titel samt Untertitel beschreibt sehr treffend, welchen Blickwinkel Wolkenstein einnimmt, denn die Christdemokratie ist keineswegs so fundamentaldemokratisch, wie wir heute vermuten mögen. Von daher stellt sich die Frage: Ist es denn wirklich so gut, wenn die CDU „zurück an ihre konservativen Wurzeln“ strebt? Wolkensteins Analyse jedenfalls legt nahe, dass das nicht unbedingt im Sinne der Christdemokratie sein dürfte.
Er geht weit zurück, bis zur französischen Revolution und arbeitet verschiedene Strömungen in West- und Mitteleuropa auf. Die heutigen Staaten Frankreich, Deutschland und Österreich stehen bei ihm anfangs im Fokus und es zeigt sich schnell, dass gerade der konservative Bezug, aber auch das Christlich-Soziale, über lange Zeit alles andere als demokratische Sehnsüchte bedienten. Dies rührt stark aus der Nähe zur heute noch immer alles andere als demokratischen Katholischen Kirche im 19. Jahrhundert und vor allem der katholischen Soziallehre mit zwei einschlägigen Enzykliken her.
Liberalismus wirkt
Erst die Entdeckung und Inkorporation des anfangs noch bekämpften liberalen Gedankenguts habe hier etwas gebracht, das mit dem später geprägten Begriff der „geistig-moralischen Wende“ vielleicht sehr treffend beschrieben ist. Die Adenauer-CDU jedenfalls, zu der sich viele Christdemokrat*innen zurücksehnen dürften, hatte mit Liberalismus jedenfalls anfangs noch etwa so viel zu tun wie Wladimir Putin und gute Staatsführung. Nun gut, vielleicht etwas mehr, aber jedenfalls war die autoritäre Versuchung der CDU unter ihrem Grandseignieur noch immer gegeben.
Erst der stetige Wandel mit Anpassung an die aktuellen Gegebenheiten und eine gewisse Flexibilität in ihren Positionen sollten dies ändern. Adenauers bekanntes Zitat, wat ihn denn sein „Jeschwätz von jestern“ interessiere steht hierfür übrigens ebenso symptomatisch wie der Ausspruch von Franz Josef Strauß, dass konservativ zu sein bedeute, „an der Spitze des Fortschritts“ zu marschieren. Blöde nur, dass die Union heute nicht gerade durch tragfähige Zukunftskonzepte auffällt (die meisten anderen Parteien – das sei an dieser Stelle eingeräumt – allerdings auch nicht), gerade unter Merz und seinem bereits 2020 vorgelegten Pamphlet Neue Zeit, neue Verantwortung. Wolkenstein jedenfalls arbeitet gründlichst, mit großem historischem Rückgriff und in der Tat recht anspruchsvoll heraus, worin sich die von ihm postulierten autoritären Wesenszüge der Christdemokratie manifestieren.
Österreich-Ungarn, aber ohne Monarch(in)
Vermutlich deutlich besser als in Deutschland ist dies in anderen europäischen Staaten zu beobachten, die Wolkenstein dankenswerterweise in seine Studie einbezieht und sowohl die jeweils nationale wie auch die europäische Analyse sehr gründlich und informativ betreibt. Österreich unter dem vormaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz wie auch seine Partei ÖVP haben sich eine Weile in die Richtung eines konservativ-autoritären Staates bzw. Partei entwickelt – allerdings rechtzeitig die Notbremse gezogen. Viel weiter dagegen ist Ungarn unter seinem – wie der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ihn liebevoll nannte – „Diktator“ Viktor Orbán, der ganz offen seine Vorstellungen über eine „illiberale Demokratie“ kundtut.
Viele Fachkundige würden nun entgegenhalten – den Autoren dieser Zeilen bis vor kurzem eingeschlossen –, dass eine Demokratie doch gar nicht illiberal sein könne, denn sonst wäre sie ja eine Autokratie. Hiermit räumt Fabio Wolkenstein jedoch auf. Gerade die prägende Rolle, die der Christdemokratie in bedeutenden europäischen Staaten lange zukam (oder noch immer zukommt), die – das sahen wir bereits – nicht per definitionem „liberal“ ist, untermauert jedoch das Ergebnis, dass Demokratie eben doch illiberal sein kann und damit auch die in ihr agierenden demokratischen Parteien. Umso wichtiger ist es, sie und die freiheitlichen Errungenschaften immer wieder zu pflegen und zu erneuern und tatsächlich mit dem gesellschaftlichen Fortschritt mitzuhalten.
Arbeit hinterlässt ihre Spuren
Was heißt das? Das bedeutet, dass Demokratie Arbeit ist, jeden Tag, jede Minute und mit jedem Bürger und jeder Bürgerin. Alle müssen vom Nutzen der Demokratie überzeugt sein. Und die Parteien – gerade die Christdemokratie – stecken in der Zwickmühle, einerseits das Bewährte bewahren zu müssen und zu wollen, andererseits aber Überkommenes auch über Bord werfen zu können. Dazu gehörte im vergangenen Jahrzehnt die nun ein unerwartetes Comeback erlebende Atomkraft, aber auch die Ehe für alle. Es entbehrt nicht einer gewissen Konsequenz, dass es eine Christdemokratin war, die diese Schritte vollzog, ähnlich wie der Bruch mit langjährigen Migrationspolitiken.
Gerade die Konservativen schalten Angela Merkel dafür, dass sie über ihre Köpfe hinweg einsam und autoritär manch eine Entscheidung getroffen habe, die jedoch zugleich dem Liberalismus verpflichtet war und ist. Darin besteht wohl die größte Tragödie, die größte Ironie, die die Union in ihre heutige Situation brachte. Ein illiberaler Demokrat wie Orbán trieb den Keil stetig tiefer in die Wunde und nicht wenige aus der CDU (und vor allem der CSU) fungierten hier liebend gern als Steigbügelhalter – teils bis heute. Das mag sich eines Tages rächen.
Wo die Christdemokratie endet
Jedoch könnte die Abgrenzung zu Orbán – die auch Wolkenstein sehr stringent analysiert – symptomatisch dafür sein, wo die Christdemokratie endet und wo der Faschopopulismus beginnt: Während sich die Konservativen von Union, der österreichischen ÖVP oder anderen tatsächlichen christdemokratischen Parteien ihrer Wurzeln im Christentum besinnen, ist der plumpe Nationalkonservatismus, der eben nicht an Werte wie die Nächstenliebe anknüpft, sondern eigentlich nur die Selbstliebe in das ideelle Zentrum stellt.
Christdemokratische Ziele wie die europäische Integration und Offenheit gegenüber Flüchtlingen stehen dem nationalistisch-egoistischen Euroskeptizismus und dem mal mehr, mal weniger subtilen Ziel „Deutschland den Deutschen“ (und analog für andere Länder) als Hauptforderungen gegenüber. Die Abgrenzung zum rechten Rand – so meine Schlussfolgerung aus Wolkensteins die Gehirnzellen überaus anregender Lektüre – kann also über die Besinnung auf christliche Werte gut erfolgen, selbst wenn – auch das ein Fazit aus diesem Buch– sie selbst die Gefahr eines inhärenten Autoritarismus birgt.
Abgrenzung vom Autoritären
Wie schön also, mit einer diesem Gedanken entsprechenden Note zu enden: Im August 2022 wurde einer größeren Öffentlichkeit bekannt, dass der frühere Verfassungsschutzpräsident und CDU-Mitglied Hans-Georg Maaßen an einem Kommentar zum Grundgesetz mitwirkt – ironischerweise im Verlag C.H. Beck, in dem auch Fabio Wolkensteins Die dunkle Seite der Christdemokratie erschien. Diese Co-Autorenschaft ist natürlich abzulehnen, ist Maaßen doch jemand, der mehr als streitbare Positionen am rechten Rand der CDU vertritt und in Teilen sogar der rechtspopulistischen AfD nahestehen dürfte – und für einen nach eigener Maßgabe die Verfassung vertretenden Menschen erstaunlich häufig mit dieser nichts am Hut zu haben scheint.
Fabio Wolkensteins tiefgehende und wissenschaftlich fundierte Analyse der autoritären Versuchung der Christdemokratie ist keine leichte Lektüre, aber eine, die uns genau lehrt, worauf es zu achten gilt, wenn die autoritären Tendenzen im vermeintlichen demokratischen Zentrum offenbar werden. Sie zu kennen und zu verstehen, hilft uns und ihr dabei zu vermeiden, dass die Christdemokratie ihren autoritären Versuchungen erliegt.
Friedrich Merz jedenfalls bleibt zu wünschen, dass er zum Parteitag der CDU an diesem Wochenende seinen bislang recht integrativen Kurs der Mitte beibehält und die größte christdemokratische Partei Europas dennoch mit modernen Inhalten und einer offenen Diskussionskultur wiederbelebt. Dass er nun bereits mehr als einen Büroleiter in der CDU-Zentrale verschlissen haben soll, ist einerseits denkwürdig, andererseits soll der letzte aber rausgeworfen worden sein, weil genau die Abgrenzung nach Rechtsaußen wegen einer geplanten Teilnahme an einer streitbaren Veranstaltung in Gefahr zu verschwimmen geriet. Das stimmt positiv hinsichtlich einer progressiven und liberalen Volkspartei CDU.
HMS
Eine Leseprobe findet ihr hier.
Fabio Wolkenstein: Die dunkle Seite der Christdemokratie. Geschichte einer autoritären Versuchung; Mai 2022; Klappenbroschur; 222 Seiten; ISBN 978-3-406-78238-1; C.H. Beck Verlag; 16,95 €
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