Forever Atomkraft, we want to have forever Atomkraft

[Update zum Grimme-Preis 2023 am Textende]

Willst du wirklich für immer leben, für immer und ewig? So könnten wir gemäß der holprigen Überschrift gar nicht so frei nach dem AlphavilleKultsong „Forever Young“ fortfahren und wären recht nah bei der Debatte um die Atomkraft und Teilen der Dokumentation Atomkraft Forever aus dem Hause Pier 53, die im September vergangenen Jahres in die Kinos kam und nun bis zum 12. August in der ARD-Mediathek verfügbar ist und an diesem Mittwoch um 22:20 Uhr im Ersten zu sehen sein wird. 

„Der Menschheitstraum…“

Und gesehen werden sollte der mit dem Prädikat besonders wertvoll versehene Film von Carsten Rau in jedem Fall. Das nicht nur, da Deutschland in diesem Jahr endgültig aus der Atomkraft aussteigen wird, während nicht mehr nur ein paar Menschen vom Seitenrand, sondern auch Teile der Bundesregierung und der Regierungsparteien nach Laufzeitverlängerung rufen, das EU-Parlament Gas und Atomenergie erst vergangene Woche als nachhaltig und klimafreundlich eingestuft hat, was Investitionen in neue Kraftwerke erheblich vereinfacht oder weil Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) erst heute in einem Gastbeitrag in der BILD-Zeitung fordert, die Kraftwerke weiter laufen zu lassen, sondern auch, weil er hübsch aussieht. Der Film, nicht Merz. #isso

Ein Blick auf das ehemalige Kernkraftwerk Greifswald, das seit 1995 zurückgebaut wird // © SWR/Pier53 Filmproduktion

Moment mal… Heißt das also, Atomkraft wäre sexy? Ganz so weit soll hier dann doch nicht gegangen werden, wenn der Rezensent auch nicht zu jenen gehört, die schon immer mit Schnappatmung auf das Konzept reagiert haben. Viel eher soll das heißen, dass Rau sich und uns gemeinsam mit Kameramann Andrzej Król das Thema in sechs miteinander verwobenen Episoden nicht nur vielstimmig, sondern auch ästhetisch ansprechend erschließt. Das Auge politisiert schließlich mit.

„…von der unendlichen Energie…“

So gibt es Bilder aus dem ehemaligen Atomkraftwerk Greifswald, das derzeit zurückgebaut wird – ein Vorgang, der nach bisherigen Schätzungen 5,6 Milliarden Euro kosten und am Ende mindestens 33 Jahre gedauert haben wird – die von einer schwelgerischen Poesie sind. Funken, die tanzen wie Glühwürmchen, Kamerafahrten und teils durch Drohnen eingefangene Bilder, die aussehen wie stylishe Bond-Filmstills oder es locker in einen der hochwertigen Bildbände aus dem Kehrer oder Verlag Kettler schaffen würden. 

„Um das Reaktor-Material so weit abklingen zu lassen, dass man das dann zerlegen kann gefahrlos, braucht man eine Lagerzeit von etwa 70 Jahren.“

Nuklearingenieur Jörg Meyer, ehemaliges Kernkraftwerk Greifswald 

Dabei erinnert manch ein inszenatorisches Spiel, beispielsweise die Klappe vor Gesprächen oder die weitschweifigen Aufnahmen von Umgebungen, in ihrer Besonderheit an den Dokumentarfilm Monobloc (der später entstand, den wir aber zuerst sahen und noch immer nicht besprochen haben…). Das verwundert nicht, denn auch dieser wurde von Pier 53 produziert. Das aber nur am Rande.

„…und vom Wohlstand…“

Nun zurück zum Kern und der Kernkraft. Das Team um Carsten Rau scheut kaum Mühen für diesen Film, der neben Greifswald auch ins bayerische Gundremmingen schaut – dort wurde am 31. Dezember 2021 der Block C abgeschaltet und somit das ehemals leistungsstärkste Kernkraftwerk des Landes. Leistungsstark auch für den Ort im Landkreis Günzburg, der florierte und sich beispielsweise ein ansehnliches Sportareal errichten konnte, wie sich’s in Berlin nur erträumen ließe. 

Hübsch hier! Anwohner des Kernkraftwerkes Gundremmingen in Bayern beim Rosenschneiden // © SWR/Pier53 Filmproduktion

Der ehemalige Bürgermeister des Ortes, Wolfgang Meyer, erläutert jedoch auch, dass es früher durchaus Widerstand gegen das Werk gegeben habe, die Menschen befürchteten Auswirkungen auf ihre Existenz als Landwirte. Man konnte sich einigen und schließlich erklärte Caroline Reiber in einem Filmchen von 1984, wie cool das eigentlich alles sei.

„…moderner Gesellschaften…“

Cool geht es teils auch im Kernforschungszentrum in Cadarache, Frankreich, das Dreiviertel seines Stroms aus Kernenergie erzeugt, zu, wo sich ein Forschungsreaktor im Rohbau befindet und die Filmemacher*innen mit dem Leiter Kommunikation, Guy Brunel, sprechen (zwei Jahre und viele Gespräche habe es gebraucht, bis Rau und Team hier einen Fuß in der Tür hatten – wie erwähnt, hoher Aufwand), der herausstellt wie effektiv und effizient Atomkraft sei, welch hohen Lebensstandard sie sichere, wenn auch die Sicherheit verbessert werden müsse.

„Sie sehen ein Atomkraftwerk sicher anders als ich. Sie sehen vielleicht eine Betonkuppel. Ich stelle mir das Innere vor. Ich sehe den Kern mit den Brennelementen, Uran, das sich pro Sekunde millionenfach spaltet, 360 Grad heißes Wasser, das in mehreren Kubikmetern pro Sekunde durch Rohre schießt. Es entsteht Dampf. Ich sehe, wie sich Turbinen drehen. Ich stelle mir das gerne vor.“

Dr. Lucas David, Nuklearphysiker

Etwas woran auch jüngere Generationen arbeiten, wie der kurz vor Schluss vorgestellte Nuklearphysiker Dr. Lucas David, dessen Faszination und Leidenschaft für die Technologie und die ablaufenden Prozesse im Rahmen einer Konferenz von Atoms for the Future in der Zentrale der französischen Atomindustrie im Areva-Tower schon beinahe ansteckend sind. Ansteckend? Das klingt aber gar nicht gesund. Nun ist es nicht nur die Kernkraft, die gesundheitsschädlich sein kann, die Gewinnung von Energie aus fossilen Brennstoffen ist ja auch nicht lupenrein.

„…durch Kernspaltung.“

Das verschweigt der Film auch nicht. Was niemand Atomkraft Forever vorwerfen kann, ist, dass er allzu plakativ oder besonders tendenziös wäre. Die Absicht ist klar zu erkennen: Den vermeintlichen Unsinn von Atomkraft herauszuarbeiten, etwa mit Blick auf die maximale Betriebsdauer eines solchen Werks von etwa 40 Jahren versus des oben bereits erwähnten Aufwands, dieses rückzubauen.

Rückbau in Action // © SWR/Pier53 Filmproduktion

In Greifswald werden dabei etwa 600 000 Tonnen radioaktiv verstrahlten Materials anfallen, das irgendwie unschädlich gemacht werden muss. In ganz Deutschland dürften es 4 Millionen Tonnen sein, die „zurückgebaut, dekontaminiert und freigemessen werden“ müssen, wie es Texttafeln im Film, der gänzlich auf Kommentare aus dem Off verzichtet (noch so eine Monobloc-Parallele), zeigen. 

„Deshalb glaube ich nicht, dass es sinnvoll ist,…“

Was aber geschieht mit den Castorbehältern mit den Brennelementen? Hier taucht recht spät im Film erstmalig das gesamtdeutsche Reizwort „Endlager“ auf und bringt uns auf eine längere Reise, die im Film teils so ziellos wirkt, wie auch im wahren Leben. Gemeinsam mit dem Geschäftsführer Bundesgesellschaft für Endlagerung BGE, Steffen Kanitz, der in der Tat so auftritt wie ein Bond-Bösewicht zweiten Grades, zeigt das ehemalige Erkundungsbergwerk Gorleben, den einen oder anderen Moment im Fond seines Dienstwagens und eine kurze Sitzung vor einem Bürgergespräch, in der man sich – ganz im Sinne der Transparenz – darauf verständigt möglichst bei den Fachtermini zu bleiben, es sei ja schließlich die interessierte Öffentlichkeit.

Nuklearwissenschaftler des Kernforschungszentrums Cadarache mit Filmteam // © SWR/Pier53 Filmproduktion

Dass das so zynisch wie Wasser auf die Mühlen derer ist, die meinen, Bürgerbeteiligung und das Einbinden kritischer Initiativen sei so erwünscht wie ein Verteidigungsminister Rolf Mützenich: geschenkt. Die Geologin Julia Rienäcker-Burschil aus der Abteilung Standortauswahl reißt dies ein wenig raus, wirkt bedachter, fokussierter und scheint im Gegensatz zu Kanitz zu verstehen (oder auch interessiert daran zu sein), worum es geht und was das Wort „Zukunft“ in Bezug auf diese Thematik bedeutet. Eine Million Jahre, das sei schließlich ziemlich lang.

„…die mächtigste Energie auf dieser Welt zu entfesseln,…“

Also alles der schiere Wahnsinn? Nun, ohne allzu kapitalismuskritisch klingen zu wollen: Wachstum ist nicht selten mit (rückblickend) wahnsinnigen Ideen verknüpft. Ebenso nicht selten mit wahnsinnig guten Ideen. Ist das der Grund, dass viele Staaten an Atomkraft festhalten? Wir sehen die faszinierte Leiterin Kommunikation, Marlies Philipp, eine kleine Gruppe japanischer Wissenschaftler*innen durch das ehemalige Atomkraftwerk Greifswald führen, die sich das Werk und den Rückbau mit Blick auf eine Technologie der Zukunft erläutern lassen.

„Und ich find, das ist immer noch eine tolle Technik, aus so wenig eigentlich so viel zu machen. So viel Strom zu machen.“

Marlies Philipp, Leiterin Kommunikation, ehemaliges Atomkraftwerk Greifswald

Oder wir hören Joachim Vanzetta, den Direktor Netzführung der Netzleitwarte Amprion GmbH, der sagt, zwar hätten wir Tage, an denen wir beinahe 95 % des Energiebedarfs mit Erneuerbaren Energien abdeckten, aber auch solche, an denen diese gerade einmal für ein Prozent reichten, darüber hinaus hätten wir gar nicht ausreichend Speicherkapazitäten. Letztlich sei es so, dass wir nun ausstiegen und kaum mehr tun könnten, als zu schauen, ob das zu stemmen sei und wir nur hoffen könnten, dass alles gut gehe.

Leitwarte des europäischen Stromnetzes in Brauweiler bei Köln // © SWR/Pier53 Filmproduktion

Oder wir hören Xavier Usat, Leiter des EDF-Projekts „Neue Atomkraft“, der die oben erwähnte Konferenz für junge Nuklearingenieure mit dem Hinweis auf den steigenden Energieverbrauch eröffnet und Deutschland dafür rügt, dass unsere „ökologische Wende“ teurer sei, als die Wiedervereinigung der zwei Deutschlands (das ist zugegeben ein feinsinnig-scharfer Vergleich, zumal wir noch immer von einer unüberwindbaren Spaltung im Land sprechen).

„…bloß um Wasser heiß zu machen.“

Was bleibt also am Ende dieses wichtigen, durchaus schönen, womöglich einen Ticken zu langen, das Problem des Umgangs mit den Nachwirkungen von Kernkraft aufzeigenden, aber auch den real existierenden Mangel an nachhaltigen Alternativen durchscheinen lassenden Films? Der, hier doch noch ein kleiner Kritikpunkt, zwar kurz auf Fukushima und andere Katastrophen kommt, es jedoch versäumt darauf hinzuweisen, dass Atomkraftwerk nicht gleich Atomkraftwerk ist.

Sag beim Abschied leise Tschööö: Abbau der Schaltzentrale // © SWR/Pier53 Filmproduktion

„Die Atomkraft mit ihrem Müll wird bleiben“, sagt Atomkraft Forever-Regisseur Carsten Rau, damit hat er, der noch immer an „die Mündigkeit der Zuschauer im Fernsehen und im Kino“ glaube, in jedem Fall recht. In diesem Sinne soll mit einer Empfehlung des Films, der nicht zuletzt aufgrund der Entwicklung der letzten Monate, Wochen und Tage noch aktueller ist als vor einem Jahr, und den Worten Raus geschlossen werden: „Jeder wird mit eigenen Eindrücken aus diesem Film gehen.“

AS

UPDATE, 22. März 2023: Gestern wurde bekanntgegeben, dass Atomkraft Forever mit dem Grimme-Preis 2023 in der Kategorie Information/Kultur ausgezeichnet werden wird (einmal für die Bildgestaltung von Andrzej Król und einmal für Buch und Regie von Carsten Rau). Die Verleihung findet am 21. April 2023 im Theater Marl statt und wird von Jo Schück moderiert werden. Ebenfalls ausgezeichnet wird u. a. der ZDF-Film Die Wannseekonferenz sowie das ZDF Magazin Royale.

Die Zitate der Zwischenüberschriften stammen von Regisseur Carsten Rau. // Das Beitragsbild zeigt Arbeiter bei Dekontaminierung von Schrott aus dem ehemaligen Kernkraftwerk Greifswald – © SWR/Pier53 Filmproduktion

Atomkraft Forever ist erneut noch bis zum 22. Juni 2023 in der ARD-Mediathek zu sehen und wird am Mittwoch, 13. Juli 2022 um 22:20 im Ersten ausgestrahlt (Wdh. in der selben Nacht um 1:35 Uhr).

Atomkraft Forever; Deutschland 2020; Buch und Regie: Carsten Rau; Bildgestaltung: Andrzej Król; Schnitt: Stephan Haase; Musik: Kethan und Sivan Bhatti; Laufzeit ca. 85 Minuten; eine Produktion von Pier 53 in Koproduktion mit SWR und NDR im Verleih von Camino

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