Fromm und farblos

„Edel ist der Mensch, hilfreich und gut.“ Wie es bei Goethes Das Göttliche noch so pathetisch, fast romantisch heißt, ist es in der Realität leider selten. 1789 erschienen, gab es in demselben Jahr irgendwas mit Revolution, danach irgendwas mit Erbfolgekrieg, irgendwas mit Napoleon dann irgendwas mit Kongress. Und dann sind wir gerade mal im Jahr 1815. Wirklich edel, hilfreich und gut war „der Mensch“ in dieser Zeit nicht. Und er sollte es auch weiterhin nicht unbedingt sein.

Ein vergessener Nobelpreisträger

Springen wir einmal etwa 50 Jahre nach vorne, ins Jahr 1857. In diesem Jahr wird Jussi geboren, später auch als Juha oder Janne bekannt und Hauptakteur in Frans Eemil Sillanpääs 1919 entstandenem Roman Frommes Elend. Auf Deutsch erschien das Buch allerdings erst knapp 100 Jahre später, nämlich 2014 in der Übersetzung von Reetta Karjalainen und Anu Katariina Lindemann im Guggolz Verlag – was erstaunlich ist, denn Sillanpää ist der einzige Literaturnobelpreisträger, den Finnland bis heute hat.

Letzteres – verzeiht, liebe Finninnen und Finnen – mag aufgrund der Bevölkerungsgröße vielleicht weniger überraschen als die Tatsache, dass es einen Literaturnobelpreisträger gibt, dessen Werk bis vor kurzem nicht ins Deutsche übertragen worden ist. Es mag daran liegen, dass Sillanpää den Preis im Jahr 1939 erhielt und wir erinnern uns: Ab jenem Jahr (und bereits zuvor) war Deutschland auch nicht besonders edel, hilfreich oder gut. Der findige Verleger Sebastian Guggolz erkannte diese Lücke anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2014 und sicherte sich die Rechte an Frommes Elend – ein kleiner Coup für den damaligen Jungunternehmer.

Eine nicht ganz so schrecklich nette Familie

Die wesentliche Handlung des Buches ist relativ schnell zusammengefasst: Wir begleiten den Hauptcharakter Jussi/Juha/Janne durch sein Leben. Als Junge in ärmliche Verhältnisse geboren und bei der Familie seines Onkels aufgewachsen – Jussis Eltern waren bereits früh verstorben, seine Mutter konnte ihn jedoch noch zu ihrem Bruder bringen – fristet der Junge ein ärmliches Dasein in einem kleinen Dorf im Südwesten Finnlands.

Die Umstände sind widrig, die Hungersnot Mitte der 1860er-Jahre rafft viele Menschen dahin und mit Jussi ist ein zusätzlicher Mund zu füttern. Jedenfalls ist er bis in seine Jugend ein nur bedingt gerne gesehener Gast auf dem Hof seines Onkels, bis er kurz vor dem Mannesalter wegen des Streichs eines Freundes, für den Jussi geradestand, vom Onkel vertrieben wurde.

Ein Bauer fristet sein Leben

Über manch einen Umweg wird Juha – wie er in dieser Phase genannt wird – erst zum Wanderarbeiter, lässt sich dann jedoch als Kätnerbauer auf dem Hof des Grundbesitzers Yrjölä nieder, findet eine Frau, bekommt Kinder, verliert seine Frau, verliert Kinder und fristet den Rest seines Lebens. Zu großen Sprüngen schafft er es zeit seines Lebens nicht.

Erst als die bolschewistische Revolution in Russland wütet, auf Finnland überzugreifen droht und sich manch eine epochale Zäsur in der Geschichte und Gesellschaft Finnlands anbahnt – Juha ist zu dieser Zeit bereits um die 60 Jahre alt – scheint es, dass ihn eine neue Aufgabe gefunden hat. Ein neuer Frühling erwartet den matten Mann, der sich nach so manchem Schicksalsschlag schon mehrfach am Ende gesehen hatte.

Ein vielfach unspektakuläres Leben

Mit nüchterner Distanz verfolgen wir also die wenigen Höhen und die zahlreicheren Tiefen im Leben unseres Hauptcharakters. Zu Beginn genießt er noch einen großen Teil unserer Sympathien, ist er doch ein bemitleidenswertes Kind und Jüngling, dem im Leben nicht sehr viel Gutes zuteilwurde, doch stellt sich irgendwann eine gewisse Gleichgültigkeit ihm gegenüber ein. Jussi wurde oft nicht gut behandelt, aber ein wirklich guter Mensch, der mit seinen Mitmenschen besser umgeht, als die Umwelt mit ihm, wird aus ihm nie.

Antipathie mag sich zwar auch nicht einstellen und gerade zum Ende hin wächst die Sympathie für ihn erneut. Und doch: Allzu viel Empathie können wir ihm irgendwie auch nicht entgegenbringen. Dazu mag beitragen, dass – wie in so manch anderen Romanen (interessanterweise auch mit Bezug zu Finnland wie Blaue Frau oder Grenzgänge) – wir durch die wechselnden Namen unseres Hauptakteurs auch immer wieder mit unterschiedlichen Lebensphasen oder Identitäten unseres Charakters konfrontiert sind. Eine Bindung lässt sich so doch etwas schwerer eingehen.

Eine finnische Seele

Und noch etwas lässt sich mit Hinblick auf das Ursprungsland Finnland feststellen: Ähnlich wie in den Geschichten Volter Kilpis, der seine Hauptwerke zu einer ähnlichen Zeit wie Frans Eemil Sillanpää publizierte, ist auch Frommes Elend eher wenig handlungsgetrieben (etwas, das Kilpi mit seinem großen Werk Im Saal von Alastalo auf die Spitze trieb, der auf tausend Seiten nur wenige Stunden vergehen lässt). Vielmehr besteht dieser Roman aus einer Reihe von Schlaglichtern und einzelnen Ereignissen in Jussis/Juhas/Jannes Leben, die wir aufmerksam mit mehr oder weniger allen Sinnen verfolgen und die sich als Szenerie des frommen Elends vor uns ausbreiten.

Gleichzeitig aber gibt es ganze Jahre und Jahrzehnte, die wir im Leben des Hauptcharakters überspringen. Viele dieser Ereignisse aber stehen in einem größeren Kontext der finnischen Geschichte, die uns hierzulande nicht oder nur wenig bekannt sein mögen. Ob es die bereits erwähnte Hungersnot in den jungen Jahren Jussis oder die Auswirkungen der Revolution im benachbarten Russland wie auch ein allgemeines demokratisches und republikanisches Erwachen in vielen Ländern Europas in den späten Jahren Juhas sind, neben diesem Portrait eines armen, elenden Lebens auf dem finnischen Land bekommen wir immer wieder einen Einblick in die Verfassung und vor allem Verfasstheit der finnischen Seele.

Eine Handlung ohne viel Handlung

Neben der Tatsache, dass sich dieser Roman also nicht durch allzu viel Handlung auszeichnet (was jedoch für so manch anderen mit dem Nobelpreis prämierten Titel aus jener Ära zutreffen mag – ein Gruß geht an dieser Stelle an Thomas Mann), gibt es relativ wenig, was uns an diesem lange Zeit vergessenen Werk stören könnte. Höchstens – und das ist eine Frage der Aufbereitung des Buches – dass sich das überaus hilfreiche Glossar zwischen dem Haupttext und dem (ebenfalls gut einordnenden) Nachwort von Thomas Brunnsteiner versteckt hat und uns daher erst nach der Lektüre aufgefallen ist. Wäre es ganz am Ende gewesen oder hätte es einen Hinweis im (nicht vorhandenen) Inhaltsverzeichnis gegeben, wäre uns dieser Fauxpas vermutlich nicht unterlaufen.

Edel, hilfreich und gut? Nein, das können wir der Geschichte um Jussi/Juha/Janne eigentlich nicht attestieren. Das mag aber daran liegen, dass das Leben, das Frans Eemil Sillanpää in seinem ausgezeichneten Roman Frommes Elend entwirft, eben ganz anders ist. Dass das Leben allgemein anders ist und eben nicht diesem Ideal entspricht. In Frommes Elend lernen wir die meist ungeschönte Wahrheit kennen. Sie muss uns ja nicht gefallen, aber auch im echten Leben müssen wir immer wieder mit Situationen umgehen, die wir uns anders gewünscht hätten. Wer sich also mit einer ungeschönten Story aus dem Finnland des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auseinandersetzen möchte, ist bei Frommes Elend vermutlich an der richtigen Adresse.

HMS

Frans Eemil Sillanpää: Frommes Elend; Aus dem Finnischen und mit einem Glossar von Reetta Karjalainen und Anu Katariina Lindemann; Mit einem Nachwort von Thomas E. Brunnsteiner; 284 Seiten; gebunden, fadengeheftet; ISBN 978-3-945370-00-1; Guggolz Verlag; € 24,00

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