„Glow Up“: Die Realität und ihre Wirklichkeit

Nach einer kurzen Einleitung und Mini-Review zu Glow Up findet ihr unten ein Interview mit Riccardo Simonetti in dem es um die Sendung, vermeintliche Oberflächlichkeit, eine sich verändernde Gesellschaft und Lernprozesse geht. Außerdem wollen wir euch gern auf diesen Facebook-Post von Riccardo aufmerksam machen, in dem er auf eine übergriffige Anmerkung nach seinem Auftritt im ZDF Fernsehgarten eingeht.

Gestern Abend startete bei ZDFneo das neue Reality-TV-Format Glow Up, in dem es um die Suche nach dem größten Make-Up-Talent Deutschlands geht. Zehn Make-Up-Artists (MUA) treten gegeneinander an, um am Ende bestenfalls 20.000 Euro sowie einen Vertrag mit einer Make-up-Agentur zu gewinnen – oder vielmehr: sich erarbeitet zu haben.

Hoher Anspruch…

Dabei haben die sehr diversen, teils queeren Kandidat*innen mit ganz verschiedenen Hintergrundgeschichten in acht Folgen diverse Challenges zu bestehen. Ob die Klassiker Beauty-Editorial und Fashion Show, die Konzepte Social Media und Special Effects oder auch funkelnd Red Carpet und Drag – die Aufgaben versprechen eine bunte Bandbreite und kreative Explosionen. Begleitet werden die Contestants dabei vom freundschaftlichen Moderator Riccardo Simonetti, der der Show ihr Gesicht gibt.

„In der Sendung spiele ich auch eher im Team der Kandidat*innen. Die Make-Up-Kritiken kommen von der Jury, die die Kompetenz und Berechtigung hat, Kritiken zu geben. Die wissen was sie tun und das weiß auch unser Cast, der die teilweise recht strengen Bewertungen gut verstanden hat. Die Kandidat*innen haben einen extrem hohen Anspruch an sich selbst und sind dann auch dankbar, saugen die Kritik in sich auf und wachsen mit den Aufgaben und über sich hinaus. Dass das so möglich ist, in der kurzen Zeit, hätten sie wahrscheinlich selber nicht gedacht.“

Riccardo Simonetti in unserem Gespräch zu Glow Up, das unten folgt
Von links: Riccardo Simonetti, Loni Baur, Armin Morbach zur Auftaktfolge Beauty-Editorial // © ZDF/Malorie Shmyr

Bewertet werden die Ergebnisse vom Fotografen und Stylisten Armin Morbach, der auch Herausgeber der fortwährend dicker werdenden Zeitschrift TUSH ist, sowie Loni Baur, ihres Zeichens Make-Up-Artist, die schon für viele große Namen tätig war, so unter anderem Givenchy, Chanel, Vogue, Hunger Magazin, Lorde und Gigi Hadid. In jeder Folge gesellt sich ein*e neue*r Gastjuror*in hinzu: In der ersten Folge ist dies die eher schweigsame Franziska Knuppe, im weiteren Verlauf dürfen wir uns unter anderem auf Eva Padberg, Conchita Wurst, Damur Huang und Miss Fame freuen. 

…manches Potential und…

Wobei das mit dem Freuen relativ gesehen werden kann… Nach Sichtung der ersten und einzigen Folge, die der Presse vorab zur Verfügung stand und das Ende derselben offen ließ, kommen wir nicht umhin zu sagen: Das hat alles ein Geschmäckle. Was auch daran liegen mag, dass sich nach dieser ersten Folge kaum ein Eindruck von der Sendung gewinnen lässt (es mag auch einen Grund geben, warum Auftaktfolgen neuer Reality-Formate zumeist entweder Überlänge haben oder gleich im Doppelpack gesendet werden…). Diese erste Folge sahen gestern Abend um 20:15 Uhr bei ZDFneo übrigens gerade einmal 10.000 14- bis 49-Jährige, das bedeutet einen Marktanteil von 0,3 Prozent.

Von links: Armin Morbach, Conchita Wurst, Loni Baur, Riccardo Simonetti – in der Folge Musikvideo (wie passend für Conchita) // © ZDF/Malorie Shmyr

Sehr sympathisch sind die Kanditat*innen, hier freuen wir uns weiter offene, herzliche, auch mal freche und vor allem auf ihrem Gebiet allesamt kompetente und ehrgeizige Menschen in einem Format zu sehen. Weniger sympathisch ist die Jury: Zu steif, zu wenig zugewandt, zu sehr auf eine Jury-Performance-Idee geprägt. Etwas fühlt mensch sich an die Grundstruktur von Project Runway erinnert: Armin Morbach wäre in diesem Modell Michael Kors, Loni Baur die wunderbare Nina Garcia, Riccardo Simonetti entspräche Tim Gunns „Rolle“. 

…viel Luft nach oben.

Das Problem ist nur, dass die Charme-Fliegenklatsche hier noch nicht recht zuschlagen mag, wie es eben bei Project Runway zügig der Fall war. Alles wirkt hölzern, gestelzt, passt so gar nicht zum Flair der lebensfrohen Kandidat*innen. Bei Loni Baur wünschen wir uns Auflockerung; bei Armin Morbach, dass er sympathischer, vielleicht einen Ticken weniger von sich eingenommen wirken würde und nicht mehr immerfort so dreinblicken mag, als säße er auf dem Pott und würde dabei noch sexy gucken wollen. Sollte die Zuschauer*innen also eine ebenso hohe Anspruchshaltung wie die Jury haben, dann, nun ja… 

Von links: Armin Morbach, Miss Fame, Loni Baur, Riccardo Simonetti in der Folge Drag // © ZDF/Malorie Shmyr

So jedenfalls würden wir nach dieser ersten Folge sagen: Womöglich hat ZDFneo einfach kein Glück mit Make-Up-Sendungen? Die letzte jedenfalls ließ Zuschauer*innen wie auch alle motivierten Beteiligten wohl eher unzufrieden zurück. Also: Note 1 für die Bemühung und 5+ für die Umsetzung? Hmm…

In unserem Interview wünscht Riccardo sich, dass die Sendung vielleicht gesellschaftlichen Mehrwert ausstrahlen könnte und auch Menschen an Themen heranführt und ihnen Welten zeigt, mit denen sie sonst keine Berührungspunkte haben. Ein feiner Wunsch. In diesem Sinne werden wir nun mal drei Wochen abwarten, dann die Folgen zwei bis vier bingen und uns zur Staffelmitte nochmals mit einer neuen und womöglich – hoffentlich – positiveren Einschätzung melden. Manch eine Sendung reift ja schnell (wir verweisen erneut auf das Konzept der Überlänge…).

„Ich hoffe einen Dialog herzustellen“

the little queer review: Glow Up ist, jippie, eine recht queere Sendung mit sehr vielfältigen und bunten Kandidat*innen. Welche Wirkung versprichst Du Dir in die Community hinein aber auch darüber hinaus?

Riccardo Simonetti: Vor allem hoffe ich einen Dialog herzustellen. Ich habe das Gefühl, dass die Gesellschaft dabei ist, sich in zwei Blasen zu entwickeln. Die eine Blase möchte alles richtig machen im Umgang mit anderen Menschen, möchte Rücksicht nehmen und die andere Blase hält an mittelalterlichen Werten fest und hat Angst in einer sich veränderten und weiter verändernden Gesellschaftüberhaupt keinen Platz mehr zu haben. 

Da glaube ich, dass es ganz wichtig ist, dass diese Menschen in den unterschiedlichen Blasen in einen Dialog miteinander treten. Damit die Lebensrealität der Personen, über die man da spricht, verbessert wird. Ich hoffe, dass diese Sendung Menschen zum Dialog einlädt, die sich ansonsten nicht so intensiv mit queeren Themen beschäftigen. Die auch generell vielleicht keinen Zugang zu einer make-up-affinen Welt haben, die gar nicht unbedingt queer sein muss und die durch Glow Up womöglich was Neues dazulernen.

Riccardo Simonetti // © ZDF/Malorie Shmyr

Sei es über Make-Up, viele Menschen glauben immer, dass alle, die etwas mit Make-Up zu tun hätten, sehr oberflächlich seien und das alles nur was mit Eitelkeit zu tun hätte, dabei sind die Beweggründe, warum beispielsweise unser Cast mit Make-Up angefangen hat, sehr unterschiedlich. Oder auch allgemein queere Thematiken. Und wir haben einen richtig tollen Cast – Menschen, die auch versuchen durch Make-Up Statements zu setzen, die eine Mission haben. Die auch über eine Lebensrealität sprechen, die nicht unserer deutschen Lebensrealität entspricht. Das ist interessant für alle Menschen, um eben auch neue und positive Denkanstöße zu bekommen.

Womöglich gar zu erkennen: „Hey, die Privilegien, die wir haben, werden nicht allen Menschen zuteil und solange die nicht allen zuteil werden, sind wir auch nicht wirklich frei.“ Ein großartiger Reminder, der dem Ganzen aber nicht den Spaß nehmen soll. 

„Leute für Dinge interessieren und begeistern“

the little queer review: Wohl wahr. Hoffen wir mal, dass das bei den Menschen auch so ankommt, die was so wahrnehmen und nicht einfach sagen: „Was das denn? Wo ist den Heidi Klum? Die kenn ich, die mag ich.“

Riccardo Simonetti: Das ist ja auch in Ordnung, ist doch gut, wenn man Heidi Klum mag. Kann auch einen Zugang zu Themen schaffen und so arg Queen of Drag auch kritisiert wurde, haben natürlich durch Heidi Klum als Host Menschen Drag Queens wahrgenommen, die sich vorher überhaupt nicht dafür interessiert hätten. 

Diesen Effekt, Leute auch für Dinge interessieren und begeistern zu können, bei denen sie nicht von Haus aus sofort „Ja!“ schreien, finde ich wichtig. Dass man auch ein Publikum anspricht, das von sich sagt: „Eigentlich nicht mein Naturell, aber ich kann trotzdem was lernen und mich vielleicht dafür begeistern.“ Das ist doch eigentlich eine total wertvolle Geschichte. 

the little queer review: Du bist nun der Moderator von Glow Up, nimmst Du aber auch Einfluss auf die Sendung, manche Inhalte, Abläufe, Themen, etc.?

Riccardo Simonetti: Also ich bin schon primär der Host. Es ist nicht die Riccardo Simonetti Show, das ist auch wichtig zu kommunizieren. Wenn es aber um sensible Themen ging, war es mir schon wichtig meinen Input beizusteuern; wenn ich also das Gefühl hatte, mein queerer Input kann da was erreichen, habe ich den natürlich gegeben. Ich bin an der Stelle auch sehr froh, dass das Team sehr wertschätzend war, wenn ich mit queerem Input um die Ecke gekommen bin oder auch jemand anderes am Set eine neue Perspektive eingebracht hat.

Am Ende des Tages ist es die erste Staffel und das ist immer ein Lernprozess. Aber ich denke, dass alle einhundert Prozent gegeben haben, um eine Sendung auf die Beine zu stellen, die Spaß macht und trotzdem einen gesellschaftlichen Mehrwert ausstrahlt, dem tollen Cast die Möglichkeit gibt zu scheinen – ich glaube, die Sendung kommt zum richtigen Zeitpunkt.

„Je besser es den Kandidat*innen geht, umso besser“

the little queer review: Eine Frage konkret zur Sendung, Folge eins: Ihr habt in einem Gewächshaus gedreht, dort ist die Luftfeuchtigkeit üblicherweise der Flora angepasst. Wurde das runtergedimmt? Sonst stell ich’s mir doch schwer vor.

Riccardo Simonetti: Wenn wir schon von Riccardos Input sprechen – das war zum Beispiel so eine Sache, wo ich gesagt hab: „Leute, wenn wir tolle Make-Up-Ergebnisse haben wollen, ist es ganz wichtig, dass wir in klimatisierten Räumen drehen, weil es sonst schmilzt.“ Als wir dann zur ersten Location fuhren und das eben ein Gewächshaus war, dachte ich: „Super, das muss ich wohl nächstes Mal etwas lauter sagen“ [lacht]. 

Aber tatsächlich gab es in diesem Gewächshaus einen Raum, der sehr kühl war und wohl auch immer kühl ist – da konnten wir optimal drehen und arbeiten. Die Produktion hat sich also sehr wohl ihre Gedanken gemacht. 

the little queer review: Wie ist denn der Umgang mit den Kandidat*innen im Allgemeinen?

Riccardo Simonetti: Glow Up ist keine Reality-Show, die davon profitiert, wenn Kandidat*innen verspannt oder gestresst sind. Wir sind eine Sendung, der es darum geht, das Talent der Kandidat*innen zu zeigen und je besser es ihnen geht, umso besser ist es für die Sendung. Die Umgebung als solche ist strapaziös genug, weil sie performen und auf Knopfdruck kreativ sein müssen. Die Kandidat*innen sollen dann bestenfalls auch mit dem Gedanken zurückschauen, dass es eine tolle Zeit war, eine Zeit, die sie bereichert und ihnen Spaß gebracht hat. 

„Ein Schritt aus der Komfortzone raus“

Riccardo Simonetti // © ZDF/Malorie Shmyr

the little queer review: Die Jury schaut über Monitore zu, während die Teilnehmer*innen an ihrem jeweiligen Make-Up-Modell arbeiten, richtig? 

Riccardo Simonetti: Ja und das ist dann auch manches Mal sehr witzig, weil die Jury ist so unglaublich kritisch – da wird ein Strich gemacht und dann heißt es „ich versteh nicht, was das wird. Ich weiß nicht, wohin die Reise geht. Das wird nix“ und zum Schluss stehen sie dann vor einem fertigen Ergebnis und sagen selber: „Wow, das sieht total toll aus, ich bin begeistert!“ 

Ich glaub, das ist für die Jury auch ein gewisser Nervenkitzel. Die sind es ja gewohnt, die Dinge zu kontrollieren. Armin Morbach, Loni Baur plus Gastjuror*in sind Menschen, die immer die Kontrolle haben und vor allem selber mitgestalten können, wie was am Ende aussehen soll. Das können sie hier nicht und so ist es für sie ein Schritt aus der Komfortzone raus, die Kontrolle abgeben und sich überraschen lassen zu müssen.

the little queer review: Dann lassen wir uns von Glow Up, den Kandidat*innen und sicherlich auch Dir überraschen. Vielen Dank für das Gespräch!

Riccardo Simonetti: Wunderbar. Sehr gern und alles Gute.

Glow up – Deutschlands nächster Make-up-Star: Autor und Entertainer Riccardo Simonetti ist Host der achtteiligen Make-up-Competition // © ZDF/Max Menning

Glow Up – acht Folgen, seit dem 22. September jeweils donnerstags um 20:15 Uhr auf ZDFneo und ist ebenfalls wöchentlich donnerstags in der ZDF-Mediathek verfügbar

Glow Up – Deutschlands nächster Make-up-Star; Deutschland 2022; Autorinnen: Kathrin Steiner, Mariella Tripke; Redaktionsleitung: Frederik Rybacki; Moderation: Riccardo Simonetti; Jury: Loni Baur, Armin Morbach, diverse Gäste; Produktion: Warner Bros. International Television Production 

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