Ein Fingerhut hat mehr Tiefe

Von Maximilian Zwingel

Fortsetzungen sind eine Kunst, besonders dann, wenn man sie eigentlich nicht geplant hatte. André Aciman hat es trotzdem gewagt und die Geschichte seines gelungenen Romans Call Me By Your Name von 2007 nur zwölf Jahre später weitererzählt. Und das gar nicht mal so gut.

Stell dir vor, du hast ein Buch geschrieben, das deine Leser*innen lieben. Es begleitet zwei Menschen durch einen italienischen Sommer, während dessen sie sich kennen und lieben lernen. Das Buch wird sogar verfilmt und auch dieser Film wird mehrfach für Preise nominiert und unter anderem mit einem BAFTA und Oscar ausgezeichnet. Das Buch ist sogar so beliebt, dass du dich genötigt siehst, eine Fortsetzung zu schreiben, um den Figuren den Abschluss zu geben, den die Fans sich wünschen und den du ihnen geben möchtest. Und dann schreibst du Find Me — Finde Mich.

Während meiner Zeit auf dieser Welt habe ich einiges an Literatur verschlungen. Seien es die Zwangs-Texte aus Schulzeiten — ich habe jetzt noch PTBS von den Leiden des jungen Werther — oder meine eigenen Glücks– und Fehlgriffe in der Buchhandlung meines Vertrauens. Noch nie habe ich ein Buch in seinem ersten Drittel während des Lesens zugeklappt und mich wirklich etwas geekelt. Aber von vorn.

Zunächst das Strukturelle: Eine kontinuierliche Geschichte gibt es hier nicht in klassischer Form, sondern in vier Kurzgeschichten, die durch Zeitsprünge miteinander verbunden sind. Dabei bedient sich Aciman bei der Namensgebung der Teile in der Musik — wahrscheinlich weil Elio nun ein erfolgreicher Pianist ist, und nennt sie „Tempo“, „Cadenza“, „Capriccio“ und „Da Capo“. Der erste Teil ist mit Abstand der längste, weswegen wir auch am meisten Zeit mit Elios Vater Samuel und seiner neuen Liebschaft Miranda verbringen, die er in unserem Beisein findet. Es gibt reichlich Flirterei und Sex. Eigentlich fuhr Samuel nach Rom, um Elio zu besuchen damit sie gemeinsam ihre „Vigilien“, so nennen die zwei für sie erinnerungsträchtige Orte, abgehen können. Aber Elio muss als Solist bei einem Konzert am nächsten Tag einspringen, weswegen der Rundgang durch Rom leider ausfallen muss. Stattdessen geht Samuel die Strecke mit Miranda ab. Es passiert noch mehr, dies aber so schnell, dass der Titel „Tempo“ durchaus Sinn ergibt. Allerdings wurde ich den faden Beigeschmack von Rosamunde Pilcher nicht los, denn es war alles sehr „schicksalhaft“.

Nach einem Zeitsprung sind wir wieder bei Elio, der mittlerweile in Paris lebt und am Konservatorium lehrt. Im Teil „Cadenza“ treffen wir ihn bei einem Sonntagskonzert eines berühmten Streichquartetts, das in einer Kirche stattfindet. Im musikalischen Sinne bezeichnet eine Kadenz den Abschluss eines Solo-Konzertes. Dies ist ein Schlussteil, während dem der*die Solist*in ein selbst komponiertes Solo vorträgt, um den vollen Umfang des eigenen technischen Vermögens virtuos zu präsentieren, oder die dem Stück beiliegende Kadenz spielt, während das Orchester schweigt. Ob in diesem Sinne „Kadenz“ auf das Leben der Figuren oder ihre persönliche Entwicklung und Geschichte zutrifft, bleibt der Interpretation der Leser*innen überlassen. Dieser Teil hatte für mich am meisten Potential, und hätte viel mehr Raum verdient. Elio trifft bei dem Konzert den mehr als doppelt so alten Juristen Michel, den seine Familiengeschichte mit dieser Kirche und den darin stattfindenden Sonntagskonzerten verbindet. Die zwei beginnen eine Romanze — es gibt nur eine Sexszene verglichen mit mehreren sehr bildlichen Sexszenen zwischen Samuel und Miranda, Anm. d. A. — und begeben sich auf eine Spurensuche, die Michels Vater und dessen Kindheitsfreund betrifft. Es war tatsächlich beinahe spannend, dieser Geschichte zu folgen. Wer war dieser Kindheitsfreund? Auf welche Schule ging er? Woher kannte er Michels Vater? Und wieso hinterließ er ein so kryptisch komponiertes Stück? Hier hätte so viel mehr passieren können, mehr erzählt, mehr erlebt werden können. Aciman macht diesen Teil aber ¼ kürzer als den ersten Teil. Verschenktes Potential, weil es eine interessante Perspektive auf die Zeit des Nationalsozialismus in Frankreich eröffnet hätte.

Es ist nicht genau klar, ob es einen weiteren Zeitsprung gibt oder nicht. So oder so treffen wir auf Oliver, der in New York eine Abschiedsparty feiert. Denn er zieht vom Big Apple nach New Hampshire, nachdem seine Kinder aus dem Haus sind und er anscheinend auch seine Lehrtätigkeit an der Uni abgibt. Wir lernen auch seine zwei Interessen kennen: Paul und Erica. Paul ist ein Kollege von der Uni, Erica hat Oliver beim Yoga kennengelernt. Als dann im Verlauf der schwungvollen Party Paul betrunken am Flügel spielt, führt Oliver mentale Gespräche mit Elio. Anscheinend wollte Aciman vermitteln, wie Oliver eine Bestandsaufnahme seines bisherigen Lebens macht, es evaluiert und feststellt, dass er Elio vermisst. Ganz klar ist mir das aber nicht. So sind wir einfach Gäste auf einer Party in New York. Mehr passiert hier nicht. „Capriccio“ bezeichnet in der Musik ein freies, formloses Stück. Ein gutes Beispiel ist Beethovens „Wut über den verlorenen Groschen“. Wie die Bezeichnung „Capriccio“ mit Oliver und seinem Leben in Verbindung steht, ist wieder Interpretationssache. Vielleicht fühlt er sich sehr formlos ohne Elio und alles bisher war nur Spielerei? Eine kapriziöse Phase?

Der vierte und letzte Teil heißt „Da Capo“, was in der Musik bedeutet, das Stück erneut von Anfang zu spielen, dabei aber Wiederholungen auszulassen. Gewöhnlich ist es mit einem „al Fine“/„bis Ende“ versehen, was hier aber fehlt. Wir sind mit Elio und Oliver in Alexandria, wo sie Urlaub machen. Sie lassen uns an ihrem familiären Glück teilhaben, denn Samuel ist mittlerweile gestorben, hat aber mit Miranda einen Sohn bekommen, der, oh Wunder, Oliver heißt. Oliver-1 ist infolgedessen mit Elio, Miranda und Oliver-2 in das alte Familienhaus, das wir aus Call Me By Your Name kennen, in Italien gezogen. So leben sie jetzt vierköpfig zusammen und sind anscheinend glücklich mit der Welt. Das bringt Teil vier, nach ein wenig Schwadronieren und einem Gedichtzitat, auch schon zum Ende.

Wie auch meine Zusammenfassungen wurden die Abschnitte immer kürzer und inhaltsleerer. Aciman schreibt mit viele schönen Worten und versucht rosige Gefühle zu beschwören, um uns zu erzählen, welche Dinge seine Figuren ihm „(…) über Intimität und Liebe gezeigt [haben], von denen [ihm] nicht klar war, dass [er] sie wusste.“ Leider kam davon nichts bei mir an.

Unser Gastautor Max // Foto: © Olya Kuzminskaya

Teil eins trieft nur so vor Schmalz, während Miranda von Samuels (Zitat) „Leuchtturm“ fabuliert. Teil zwei bietet Potential für eine interessante Geschichte wobei für mich der Bezug zu Intimität und Liebe nur wage zu erahnen war, zumal Michel gefühlt alle zwei Sätze jammert, dass er so viel zu alt für Elio sei. Teil drei strotzt vor Olivers ungebremster Libido und Langeweile, wenn uns erzählt wird, was er an Erica und Paul heiß findet und mit ihnen so anstellen würde. Teil vier gibt uns ein viel zu knappes Ende ohne weitere Erläuterungen zur Wiedervereinigung von Elio und Oliver. Wäre ich Elio und Oliver käme nach Jahrzehnten wieder angekrochen, nachdem er mir das Herz gebrochen hat, wäre für mich so schnell nicht wieder alles in Butter.

Die Sexszenen zwischen Miranda und Samuel im ersten Teil sind so unnötig bildlich und dabei so zum Fremdschämen (Stichwort „Leuchtturm“), dass ich ganz vergessen habe über die massiven Altersunterschiede in den Paarungen zu sprechen. Miranda ist nicht einmal halb so alt wie Samuel, Michel ist ebenfalls mehr als doppelt so alt wie Elio, und die Verbindung des im ersten Teil minderjährigen Elio mit Oliver ist nicht minder problematisch. Natürlich kann Liebe sich über Jahrzehnte an Altersdifferenz entwickeln, dass aber alle Paare hier solche epischen Distanzen überbrücken, ist irritierend und tut absolut nicht Not.

Ich hatte große Erwartungen an dieses Buch. Dass es uns die ersehnte Versöhnung von Elio und Oliver bringt, und dabei die Geschichten aller Figuren voranbringt oder abschließt. Stattdessen bekommen wir einen Sammelband von vier Kurzgeschichten, die in ihrer Länge untereinander nicht ausbalanciert sind und einen unbefriedigt zurücklassen. Es passiert zu viel mit zu vielen Figuren, und viel zu viele Handlungsstränge werden angefangen und nur schwammig zusammengeführt. Und wenn die vorhandenen Figuren nicht reichen, untersuchen sie die Vergangenheit anderer Figuren, um das Gesamtbild noch weiter zu füllen. Je mehr desto kuscheliger. Anstatt die tiefen Verletzungen zwischen Oliver und Elio zu untersuchen, uns an ihrer Suche nacheinander und ersten Begegnungen nach dem Bruch teilhaben zu lassen, versucht Aciman Jahrzehnte an Handlung in viel zu knappe Schlaglichter zu pressen. Seinen Fokus belässt er leider nicht auf Elio und Oliver, sondern leuchtet wahllos mit einer Taschenlampe ins Dunkel mit der Hoffnung, irgendetwas zu finden, weil er wahrscheinlich einfach nicht wusste, wie er Elio und Oliver wieder aufgreifen und zu Ende bringen sollte.

Bestes Beispiel dafür ist, dass das Buch mit Samuel und Miranda eröffnet und die zwei den größten Teil hier einnehmen, obwohl wir uns im ersten Teil ausschließlich mit Elio und Oliver beschäftigt haben, mit ihnen also wesentlich vertrauter sind. Dazu liest sich alles wie durch eine rosa wattierte Brille. Alles ist so weich und schaumig und — in Ermangelung eines besseren Wortes — schmalzig. Mithilfe von Gedichtauszügen und verträumten Formulierungen wird Tiefgang „(…) über Intimität und Liebe“ vorgetäuscht, der nicht da ist. Ein Fingerhut hat mehr Tiefe. Und ja, in der Kunst sind Erwartungen nur dazu da, um enttäuscht zu werden. Und normalerweise wird man durch die Enttäuschung von Erwartungen positiv überrascht. So viel Enttäuschung habe ich allerdings nicht erwartet. Dieses Buch verschwindet definitiv auf ewig in meinem Regal, und ich empfehle, dass Du, liebe*r Leser*in, es gar nicht erst kaufst. Für den dritten Band, an dem Aciman nach eigener Aussage gerade arbeitet, mache ich mir gar keine Hoffnungen mehr.

Unser Gastautor Max lebt in Berlin und studiert Musik und Lehramt Biologie/Musik. In seiner Freizeit vergräbt er sich in Büchern, Games und queeren Medien. 

Eine Leseprobe findet ihr hier.

André Aciman: Find Me — Finde Mich; Februar 2022; Aus dem amerikanischen Englisch von Thomas Brovot; Taschenbuch; 296 Seiten; ISBN 978-3-423-14824-5; dtv; 12,00 €

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