Märchen, die die Welt wirklich braucht!

„Es war einmal“ – so fangen viele Märchen an, die guten, wie die schlechten. Aber was ist der Unterschied? Nun, die Gebrüder Grimm und viele andere Geschichtensammler haben weder über Männer liebende Männer, Frauen liebende Frauen oder gar Prinzen, die viel lieber Prinzessin sein wollen, geschrieben. Hans Christian Andersen hat mit der kleinen Meerjungfrau zwar nach heutiger Deutung eine Metapher für seine Liebe zu einem Mann niedergeschrieben, aber eine Sammlung offen queerer Märchen? Fehlanzeige. Das an sich ist aber auch nicht verwunderlich. Schließlich sind alle diese Geschichten und Erzählungen nicht nur fantastische Bilder in Worten, sie sind vor allem eines: Kinder ihrer Zeit.

Märchen gestalten uns

Aber sind Märchen denn nur für Kinder? Klare Antwort: Auf gar keinen Fall! Sie beeinflussen die, die sie hören, genau so, wie die, die sie erzählen und so wenden sie sich an Groß und Klein, jung und alt, männlich oder weiblich, sowie alles was die Geschlechteridentität hergibt. Genau aus diesem Grund brauchen wir ein Buch wie Märchenland für alle heute mehr denn je.

Illustration von Lilla Bölecz zur Geschichte „Der rubinrote Vogel“ von Krisztina Rita Molnár, übersetzt von Tünde Malomvölgyi // Illustration: © Lilla Bölecz

Den Reigen der Geschichten eröffnet „Der rubinrote Vogel“, in der uns gleich eine Prinzessin begegnet, die viel lieber ein Ritter, ein Kämpfer sein möchte als eine Prinzessin. Und wie völlig überraschend hat sie direkt mit den Grenzen und Vorurteilen einer Welt zu kämpfen, in der Männer einer Prinzessin ihren Platz zuweisen und dem sie zu entsprechen hat. Denn eine Prinzessin kann natürlich kein Kämpfer sein! Natürlich? F*ck! Doch natürlich! Natürlich KANN sie ein Kämpfer sein. Und so nimmt uns die Geschichte mit auf eine abenteuerliche Reise in der unsere Hauptperson märchenhaft viel mehr kann als „nur“ kämpfen.

Märchen spiegeln Gesellschaft

Illustration von Lilla Bölecz zum „Märchen von der Hexe“ von István Lakatos, übersetzt von Christina Kunze // Illustration: © Lilla Bölecz

Aber nicht nur unbekannte Geschichten begegnen uns hier zum ersten Mal. Auch die Hintergründe bekannter Märchen werden aus einer anderen Perspektive beleuchtet. So lässt uns das „Märchen von der Hexe“ in das leere Leben einer alten Frau eintauchen, deren einziges Kind von den Ratten aus der Wiege gestohlen wurde. Die Leere in ihrem Leben wird von zwei plötzlich auftauchenden Kindern gefüllt, die von ihrer Familie ausgesetzt wurden und fast am Verhungern sind. Anders als im Grimm’schen „Hänsel und Gretel“ löst dies die unsagbare Traurigkeit in der alten Frau auf. So wunderbar beflügelt bekocht sie die Kinder und behütet sie, ganz anders, als es die Eltern taten. Diese Fürsorglichkeit der „Fremden“ liest die Familie und Gesellschaft leider lieber als Gefangenhalten der Kinder, als sich der Missstände zu widmen, die zum Aussetzen und zum Hunger geführt haben. Unglücklich, aber nachvollziehbar.

Und so erleben wir viele Geschichten, die diese Veröffentlichung wirklich dringlich verdient haben. Einige der Geschichten kannten wir etwas anders und lernen nun eine neue oder andere Variante kennen. Ein sehr gekonntes Beispiel dafür ist die Geschichte von Däumelinchen, die kurz nach dem Happy End des eigentlichen Märchens einsetzt. Da wird plötzlich klar, dass nicht jeder Prinz automatisch ein liebevoller und fürsorglicher Ehemann sein muss. Es gibt eben auch das narzisstische und selbstverliebte Ar***loch. Und wir lernen, dass mensch so etwas eben nicht einfach auf Biegen oder Brechen aushalten muss. Chapeau.

Märchen können holpern

Manche Geschichten kennen wir so noch gar nicht und es ist eine Freude sie direkt in der diversen Variante kennenzulernen oder eben neu zu lesen. So erzählen uns die Zeilen auch von Batbajan, der schon sehr schnell an Cinderella erinnert, aber dessen gute Fee und Kutsche nicht so ganz den althergebrachten Strukturen entsprechen. Aber da in diesem Märchen zwei männlich gelesene Wesen auf ein mögliches Happy End zusteuern dürfen, verzeiht mensch als Leser schon mal das eine oder andere Holpern (nicht Hoppeln!).

Illustration von Lilla Bölecz zum „Werde glücklich Batbajan!“ von Fei, übersetzt von Christina Kunze // Illustration: © Lilla Bölecz

Und genau da liegt irgendwie die größte Krux in diesem Buch. Während die Sprache der alten Märchen manchmal holpert, weil sie aus einer Zeit lange vor unserer stammt, so holpert es auch hier häufiger mal im Sprachfluss. Der genaue Ursprung dieses Holperns lässt sich jedoch nicht wirklich ausmachen. Es wird bis zum Schluss nicht klar, ob damit dem ursprünglichen Sprachklang Rechnung getragen werden soll, oder ob es schlussendlich an der Übersetzung von Christina Kunze, Tünde Malomvölgyi und Timea Tankól iegt. Was aber letztendlich egal ist, denn es erlegt eine Hürde auf, die hoffentlich nicht zu viele Menschen in der Lektüre abbrechen lässt, denn dieses Buch ist vor allem eines: WICHTIG!

Märchen sind verboten

Illustration von Lilla Bölecz zu „Die entführte Prinzessin“ von Edit Pengö, übersetzt von Tünde Malomvölgyi // Illustration: © Lilla Bölecz

Es hat neben einem großen Unterhaltungswert auch noch einen sehr ernsten kulturellen Hintergrund: Es ist in Ungarn quasi schlicht illegal. Ja richtig gelesen. Meseorszag mindenkie, wie es auf Ungarisch heißt, darf dort nicht offen ausliegen und nicht in einem 200-Meter-Umkreis von Schulen und Kirchen verkauft werden. Es ist in Ungarn diesem unsäglichen Orbán-Regime mit seinen „Don’t-Even-Dare-To-Say-Gay“-Machenschaften zum Opfer gefallen. Und hier in Deutschland kann man es jetzt seit einiger Zeit ganz legal käuflich erwerben. Der stern hat es über den Gruner+Jahr- und Dorling Kindersley Verlag veröffentlicht, was diesem Sujet sicher viel zuträglicher ist, als eine Veröffentlichung in einem Spartenverlag.

Umso wichtiger, dass wir, die wir für queere Gleichberechtigung und Lebensweisen einstehen wollen, es auch kaufen. Einerseits setzen wir damit ein Zeichen, dass die Zeit reif ist für neue Märchen, die nun Kinder unserer Zeit sein sollten. Andererseits geht von jedem verkauften Buch ein Euro über die Stiftung stern in Diversitätsprojekte für mehr Vielfalt in Ungarn. Angesichts der Tatsache, dass das Original in Ungarn vom Lesbenverband im Jahr 2020 veröffentlicht wurde, ist das genau das richtige Zeichen.

Queere Solidarität sollte kein Märchen sein

Wir queere Folks hier im freieren Teil Europas sagen unseren Geschwistern in Ungarn daher „köszönöm“, was einfach nur „Danke“ heißt. Aber es heißt auch: „Macht bitte weiter!“ oder „Lasst Euch nicht unterkriegen!“ und vor allem „Wir sind bei Euch!“ Lassen wir die Visionen in diesem Buch wahr werden. Bringen wir der Welt die Geschichten, die es braucht, damit schon die Kleinsten aber auch die Ältesten von uns wissen, was wahre Liebe liebt, unabhängig von Geschlecht, Alter oder Aussehen.

Illustration von Lilla Bölecz zu „Vom Rehlein und seinem Geweih“ von Edit Scücs, übersetzt von Christina Kunze // Illustration: © Lilla Bölecz

Queere Solidarität sollte kein Märchen sein, aber wir können sie durch das Lesen und Erzählen dieser Märchen aus dem Märchenland für alle aufleben lassen und finanzieren. Wenn das nicht großartig ist.

Frank Hebenstreit

Boldizsár M. Nagy (Hrsg.), Lilla Bölecz (Illustr.): Märchenland für alle; Aus dem Ungarischen von Christina Kunze, Tünde Malomvölgyi und Timea Tankó; 180 Seiten, zahlreiche farbige Illustrationen; Hardcover, gebunden; Format: 17,1cm x 24,0 cm; ISBN: 978-3-8310-4509-9; Dorling Kindersley Verlag; 16,95 €; empfohlen ab sechs Jahren

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Comments

  1. Diese Review ist ja furchtbar. Haben wir wirklich das gleiche Buch gelesen? Neben wir mal als Beispiel das erste „Märchen“ namens „der rubinrote Vogel“: Das Mädchen darin will überhaupt kein Ritter/Kämpfer sein bevor Poseidon ankommt und sie vergewaltigen will. Erst dann will sie plötzlich ein unverwundbarer Mann sein. Was auch kein Wunder ist, denn dieses „Märchen“ ist von Ovids Metamorphosen abgeschrieben und existiert auch in anderen Versionen, und da will sie sich verwandeln, weil sie, je nach Version, von Poseidon vergewaltigt wurde und sein Kind nicht austragen will oder damit er sie nicht vergewaltigt. Und so eine Geschichte ist in einem Buch für Kinder? Das Märchen von der Hexe ist auch alles andere als positiv, die Frau darin ist obzessiv und sagt anderen ja nicht mal, warum sie handelt wie sie es tut und alle anderen müssen einfach mal mitspielen. Sie merkt garnicht wie sie daher kommt und sorry, aber dass ist eine unglaublich auf sich bezogene Person, und ja, sie ist eine Schurkin, dass ist keine missverstandene Person am Ende der Geschichte, überhaupt nicht. Einen bösen und misshandelnden Vater da rein zu stecken ändert nichts daran. Dieses Buch ist sicher nicht zu empfehlen, nicht mit diesen ganzen komischen Geschichten die da drin sind.

    1. Von Autor Frank Hebenstreit:
      „Danke, dass Dir meine Rezension nicht egal ist. Über den etwas anklagenden Ton Deines Kommentares lese ich einfach mal hinweg. Allerdings frage ich mich, ob Du heutzutage dann noch den Kindern Grimms Märchen, die aus 1001 Nacht oder auch die von Hans Christian Andersen empfehlen möchtest, oder ob auch diese erst ab 18 sein sollten.

      Ansonsten stellte sich auch die Frage, wie man Kindern von „kinderfressenden Hexen“, Drachen und bösen Feen erzählen kann, ohne sie nachhaltig zu schädigen. Eben, in dem die Botschaft das Gute am Ende überwiegen lässt.

      Natürlich müssen Märchen überspitzen, bildlich darstellen und in großen Bildern arbeiten. Es geht ja darum, eine Message klar und einprägsam zu übermitteln. Es ist allerdings kein Phänomen der Neuzeit, dass das einem analysierenden und hinterfragenden Menschen möglicherweise die Fußnägel aufrollt. Das allein hindert aber auch seit Jahrhunderten keinen Märchenautor oder Verleger diese zu veröffentlichen.

      Dass der queere Anteil nicht in jeder Story nur aus Regenbogenfahne oder Glitzer besteht, spricht in meinen Augen eher für als gegen dieses Buch.

      Und so kann es tatsächlich sein, dass wir beide das gleiche Buch gelesen haben, und doch zu so unterschiedlichen Ergebnissen kommen.

      Noch einmal ausdrücklich Danke für das den Kommentar und die damit erhaltene Möglichkeit auch nach Wochen noch einmal über die eigene Schreibe nachzudenken.“

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