„Downton Abbey“ trifft „Gossip Girl“ oder auch Sex im Unterrock: „Bridgerton“ ist schön anzusehender und toll klingender sexy Kitsch, mit einem Hauch Queerness, erstaunlich ernsten Tönen und einem durchweg selbstsicheren Drehbuch. Das allerdings verrennt sich hier und da.
Netflix ist doch immer wieder für eine Überraschung gut. Als erste veröffentlichte Serie des großen Deals mit Shondaland, der Produktionsfirma von Grey’s Anatomy und Scandal-Macherin Shonda Rhimes, veröffentlichte der Streaming-Dienst am ersten Weihnachtsfeiertag des vergangenen Jahres die von Chris Van Dusen geschaffene und auf der eher unbekannten Romanreihe von Julia Quinn basierende Serie Bridgerton. 28 Tage später hatten sich weltweit 82 Millionen Haushalte (das entspricht ziemlich genau der Einwohnerzahl Deutschlands) die Serie angeschaut und Bridgerton somit zur erfolgreichsten Netflix-Serie aller Zeiten gemacht.
Es funkt an jeder Ecke
Besonders fein ist der Erfolg für Jinny Howe, ist es doch ihr erstes Projekt als neue Netflix-Vizepräsidentin Originalserie. So sagte sie, dass sie sich „in einer Welt, in der die Popkultur von Sci-Fi und Fantasy dominiert wird, schon immer zu wunderschönen, ausladenden Liebesgeschichten hingezogen fühlte. Allerdings hätte sie sich nie träumen lassen, dass das erste Projekt, das sie verwirklichen dürfe, Bridgerton sein würde, von der enormen Reichweite einmal ganz zu schweigen.
In Bridgerton geht es um die titelgebende Familie, die im georgianischen Zeitalter zur High Society gehört. Es ist die Zeit der Ballsaison des Jahres 1813 und die älteste Tochter des wohlhabenden Clans, Daphne (Phoebe Dynevor), soll als Debütantin offiziell in die feine Gesellschaft eingeführt werden und im besten Falle auch direkt in ihrer ersten Saison einen Gatten finden. Gern möchte sie in die Fußstapfen ihrer Eltern treten und aus Liebe heiraten, doch ihr nach dem Tod des Vaters als Familienoberhaupt agierender Bruder, Viscount Anthony Bridgerton (Jonathan Bailey), sortiert alle potenziellen Verehrer aus. Das irritiert nicht nur Königin Charlotte (Golda Rosheuvel), sondern auch die geheimnisumwitterte Lady Whistledown (Stimme im Original: Julie Andrews, Stimme in Deutschland: Viktoria Brams), die regelmäßig ein skandalöses und verlästertes Gesellschaftsblatt veröffentlicht.
Daphnes Stern scheint im Sinken begriffen, doch dann trifft sie auf den Duke of Hastings (Regé-Jean Page), einen überzeugten Junggesellen und dazu noch der Heiße Scheiß der Saison. Die beiden schließen einen Pakt: Sie täuschen ihren Familien, Freunden und der Londoner Society eine Romanze vor, um in Ruhe ihre eigentlichen Pläne umzusetzen. Doch noch während sie sich einreden, da entwickele sich nichts, funkt es nicht nur gewaltig, sondern auch andere Personen haben die Zukunftswege der zwei bereits vorgezeichnet.
Versagensängste und Geltungssucht
Das für all jene, die vom Konzept der ersten Staffel noch nichts wussten. Die aufkeimende, nicht von allen gewünschte und auch in sich nicht gerade einfache Liebesgeschichte bildet den Ankerpunkt der ersten Staffel von Bridgerton, erzählt wird allerdings noch einiges mehr. So geht es, wenn auch manches Mal zu plakativ, sehr häufig um die der Frau vorgegebene Rolle und überhaupt um veraltete Rollenbilder und die Dinge, die vorrangig die (jungen) Frauen zu bewerkstelligen haben, um den daraus resultierenden Ansprüchen gerecht und nicht verstoßen zu werden.
Aber auch um kalte Väter, Versagensängste, den Druck, der auf allen lastet, den unbedingten Willen stattzufinden und natürlich schlicht den Wunsch nach echter Liebe. Interessant sind hier vor allem zwei, drei der vermeintlichen Strippenzieher*innen, allen voran die Ziehmutter von Simon Bassett, dem Duke of Hastings, Lady Danbury (fantastisch: Adjoa Andoh), aber auch die Bridgerton-Matriarchin Lady Violet (Ruth Gemmell), die bei aller vornehmen Zurückhaltung weit aufmerksamer und hintersinniger sein dürfte, als es zuerst scheint.
Die Dialoge fließen zumeist wunderbar launig vor sich hin, an einigen Stellen überschätzen die Macher*innen allerdings die Scharfsinnigkeit ihrer nicht immer so geistreichen Neckereien. Die Bilder sind durchweg schön, die Originalmusik von Kris Bowers ist ebenso fein, wie die vom Vitamin String Quartet als klassische Versionen gecoverten Songs (zum Beispiel Thank U, Next und Bad Guy). Bild und Musik verleihen Bridgerton zusätzlichen kurzweiligen Drive. Die Serie ist mit einem größtenteils talentierten und diversen Cast besetzt. Der Oben-ohne-Gehalt – vornehmlich der Herren – ist ebensowenig kritisch zu betrachten.
Sex, Sex, Sex und Geheimnisse (um Sex)
Und es gibt Sex. Ganz viel Sex. Sex. Sex. Sex. Und ein wenig Fummelei. Und dann wieder Sex. Die queere Komponente kommt in der ersten Staffel zwar noch etwas kurz, ist aber sehr eindrücklich eingeführt und bietet Potenzial für einen ausführlicheren Handlungsstrang (bitte, Netflix!). Da sich die auf erst einmal acht Staffeln ausgelegte Serie nach und nach allen Bridgerton-Sprösslingen widmen will (Staffel zwei soll sich um Anthony drehen, dessen Rolle zwar sehr heterosexuell ist, Darsteller Jonathan Bailey allerdings ist schwul), dürften wir auch noch zum betreffenden Kind kommen.
Über allem schwebt natürlich die große Frage: Wer ist Lady Whistledown? Natürlich werden diverse Fährten gelegt, der berühmte Rote Hering grüßt nicht nur einmal und am Ende sind wir genauso schlau wie zu Beginn. Aber die jüngere Schwester von Daphne, Eloise (wunderbar: Claudia Jessie), ermittelt in bester Enola-Holmes-Manier und wird sicherlich eines Tages, gegebenenfalls in der voraussichtlich ihr gewidmeten fünften Staffel, die wahre Existenz von Lady Whistledown aufdecken. Bis dahin heißt es: xoxo, Gossip Lady.
Bridgerton; USA 2020; Regie: Julie Anne Robinson, Tom Verica, Sheree Folkson, Alrick Riley; Drehbuch: Chris Van Dusen, Janet Lin, Leila Cohan-Miccio, Abby McDonald, Joy C. Mitchell, Sarah Dollard, Joy C. Mitchell, Jay Ross; basierend auf der Bridgerton-Familie-Romanreihe von Julia Quinn; Darsteller: Adoja Andoh, Phoebe Dynevor, Jonathan Bailey, Regé-Jean Page, Ruby Barker, Sabrina Bartlett, Ruth Gemmell, Nicola Coughlan, Polly Walker, Ben Miller, Golda Rosheuvel, Martins Imhangabe, Claudia Jessie, Luke Newton, Luke Thompson, ; acht Folgen, Laufzeit: 57 – 72 Minuten; FSK: 16; Shondaland; seit 25.12.2020 auf Netflix verfügbar
Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitstzeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun. Vielen Dank!
Comments