Gute Erzählungen enden immer mit einer Hochzeit

Anton Tschechow hat da seine Zweifel, denn er kennt die Menschen und das Leben sehr genau, und beide haben ihn zum Satiriker werden lassen, was er uns in „Frühlingsgefühle. Geschichten von der Liebe“ grandios beweist.

Von Nora Eckert

Das Geschichtenerzählen war lange Zeit für Anton Tschechow ein ungeliebter Broterwerb. Aber diese meist kurzen Erzählungen, die er in großer Zahl für Zeitungen schrieb, hielten ihn und seine Familie über Wasser. Gleichzeitig studierte er Medizin und wurde Arzt. Doch er blieb glücklicherweise der Literatur treu, die gleichermaßen heilen kann, freilich anders als die Medizin, und begann in den 1880er Jahren auch für das Theater zu schreiben. Am Ende wurde er einer der bedeutendsten Dramatiker aus der Zeit um 1900, dessen Stücke bis heute unsere Theater-Spielpläne bereichern. Seine großen Erfolge heißen: „Die Möwe“ (1896), „Onkel Wanja“ (1899), „Drei Schwestern“ (1901) und „Der Kirschgarten“ (1904).

Das Erstaunliche, dass er stets mit einem gewissen Widerwillen schrieb, so seine Bekundungen. Und seine Selbstzweifel machten ihn gar noch glauben, er sei überhaupt kein Dramatiker. Er, der große Menschenkenner, kannte sich und sein Talent wohl weniger genau – oder vielleicht doch, und er wollte sich, wie es seine Figuren so gerne tun, sozusagen hinter sich selbst verstecken? Doch die Wahrheit sucht bekanntlich das Licht. Und seine Werke gehören seither mit zu dem Besten, was die menschliche Sprache hervorgebracht hat – es ist wundervolle Sprachkunst.

Was ihm tatsächlich nicht gelang, das war ein Roman. Er blieb zeitlebens bei der kleinen Prosa, bei Novellen. „Die Kürze ist die Schwester des Talents“, lautete sein Credo. Aber was immer auch entstand, es beweist seine unübertreffliche Meisterschaft. Mancher Erzählung hat er kurzerhand die Bezeichnung „Roman“ hinzugefügt, weshalb es bei ihm viele kleine Romane gibt in seiner großen menschlichen Komödie. Ein neuer Band mit Erzählungen, in dem es auch um Frühlingsgefühle geht, um diesen „Unruheherd“ mit Namen Frühling, wie es in einer der Geschichten heißt, ist soeben im Diogenes Verlag erschienen und eine absolute Leseempfehlung.

Als ich die „Geschichten von der Liebe“ zu lesen begann, erging es mir wie dem Magister der Philosophie, Andrej Kovrin aus „Der schwarze Mönch“, der morgens durch einen sonnenbeschienenen Garten spazierte im „Vorgefühl eines klaren, heiteren, langen Tages“ und dem dabei auffiel, es sei erst Anfang Mai und der ganze Sommer liege noch vor ihm. Das Glücksversprechen, lauter für mich unbekannte Geschichten in Händen zu halten, glich Kovrins Empfindung, noch den ganzen Sommer vor sich zu haben.

Schon die erste Geschichte heißt im Untertitel „Kleiner Roman“ und handelt von einer Tochter aus gutem Haus, die mit einem jungen Mann aus ebenso gutem Haus verheiratet werden soll. Olja „ist die hübsche weibliche Gestalt in wunderschöner Landschaft, und ich mag keine Bilder ohne menschliche Gestalten“. Doch der reiche Sohn ist ein Langweiler und Olja packt das Entsetzen, weshalb diesem Roman bestimmt war, als Vaudeville zu enden, so Tschechows lakonischer Kommentar.

Heiratswünsche gibt es bei Tschechow so viele wie unglückliche Ehen. Mehr als die Heiratskandidaten und Ehemänner interessiert sich der Autor jedoch für die Frauen. Wer seine Theaterstücke kennt, der weiß, wieviel geheimnisvoller, sinnlicher, intellektueller, sehnsüchtiger, träumerischer und verliebter die Frauengestalten sind, die jungen ebenso wie die schon reiferen. Die Männer hingegen bleiben oft nur dekorativer Hintergrund und Sympathiewerte erzielen sie eher selten. Genau das finden wir auch in seinen Erzählungen, umrahmt von so wunderschönen Sätzen wie diesem: „Ein leichter Wind kräuselt, da er nichts Besseres zu tun hat, heiter das Flüßchen und raschelt im Gras.“ Deshalb hier auch einen Dank an die Übersetzer*innen Peter Urban und Beate Rausch, die Tschechows Ton mit soviel Frische zum Klingen bringen.

Es sind die Frauen, die mehr sehen und verstehen und mitunter mutig sind, mit dem Bisherigen zu brechen, wie etwa jene Nadja aus der Erzählung „Die Braut“, die sich aus der Enge ihrer Umgebung befreit: „und vor ihr zeichnete sich ein neues, weites freies Leben ab, und dieses Leben, noch unklar, voller Geheimnisse, zog sie an und lockte sie.“ Das Weglaufen-Wollen ist bei Tschechow ein wiederkehrender Impuls. In der mit „Der Literaturlehrer“ überschriebenen Geschichte heißt es: „Nichts ist schrecklicher, kränkender, bedrückender als Plattheit. Weglaufen von hier, weglaufen noch heute, sonst werde ich wahnsinnig.“

Tschechow weiß, aus welchen Tiefen menschliche Sehnsüchte kommen und wie schmerzlich sie sein können. Bei ihm wird ständig von irgendeiner besseren Zukunft geträumt, und davon, dass ein Wunder geschehe, aber nirgendwo verpassen und verlieren sich die Menschen leichter als bei Tschechow. Sie kommen einfach nicht aus ihrem Leben heraus. Und so werden Pläne zu Erinnerungen, wie schön und wie anders das Leben hätte sein können. So traurig das klingt, aber Tschechow hat als ein sensibler Satiriker Sinn für alles Komische, und so schaut er, der Parodist par excellence, auf all die ländlichen Tischgesellschaften mit ihren menschlichen Ansammlungen aus Gewohnheiten und Leere, mindestens mit einem leisen Lachen.

Zielsicher spürt er in jedem Melodram den Witz auf, um ihn seinen Leser*innen zu servieren. Und manchmal wird es sogar burlesk: Da beklagt sich einer bei seinem Freund über die Eifersucht seiner Frau, die gerade grundlos schmollt. Erst gab es Tränen, dann Hysterie. Der Freund wird als Friedensstifter gewonnen, nur weiß er nicht, dass sich jener schon ein ganzes Jahr lang die ehelichen Pflichten mit ihm teilt. Die Ehefrau bereitet ihm daraufhin einen rührenden, versöhnlichen Empfang, worauf der Ehemann ausruft „Selig sind die Friedensstifter!“ Doch es kommt, wie es kommen muss, aber das Ende wird hier nicht verraten. 

Zum Schluss gibt es aber noch eine Heiratsannonce aus „Hochzeitssaison“:

Butuzov, ehem. Stabshauptmann, wegen Unterschlagung und Betrugs zu Verbannung ins Gouv. Tomsk verurteilt, möchte armes Waisenkind glücklich machen, das ihm nach Sibirien folgt! Bedingung: adelige Herkunft.“

PS: Die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko schrieb neulich in der Neuen Zürcher Zeitung einen großen Artikel, überschrieben mit: „Putin hat den Westen längst besiegt. Mit ihrer blinden und ahnungslosen Begeisterung für die russische Literatur haben sich westliche Intellektuelle zu Komplizen des Despotismus gemacht.“ Ich las gerade Tschechows Erzählungen und war tatsächlich für einen Moment verunsichert. Wie, unterstütze ich gerade mit meiner Lektüre den Kriegsverbrecher Putin? Muss ich meine Bibliothek ausräumen? Weg mit Gontscharow, Puschkin, Gogol, Tolstoi, Dostojewski, Majakowski, Gorki, Belyj? Gut, Dostojewski würde ich gerade nicht lesen wollen, denn seine ideologischen Anwandlungen erschienen mir immer schon problematisch. Aber was hat Tschechow mit Putin zu tun? Die Beunruhigung verflog rasch. Inzwischen hat der Slawistik-Professor Thomas Grob in der NZZ geantwortet: „Krieg führen kann Literatur nicht, und sie wegzusperren hilft keinem.“ Den Satz unterschreibe ich gerne und hoffe, dass der Westen alles für einen Sieg der Ukraine tut.

Nora Eckert ist Publizistin und Ausführender Vorstand bei TransInterQueer e. V.

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Anton Tschechow (Čechov): Frühlingsgefühle. Geschichten von der Liebe; Aus dem Russischen von Peter Urban und Beate Rausch; ausgewählt von Christine Stemmermann; März 2022; 272 Seiten; Hardcover Leinen; ISBN: 978-3-257-07182-5; Diogenes Verlag; 24,00 €; auch als eBook erhältlich

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