Vielgestaltige Freund*innen

Wir haben schon ein ums andere Mal über Familie, verschiedene Familienkonstellationen und -modelle und die in Ermangelung einer besseren Bezeichnung so genannten Wahlfamilien geschrieben. Ob nun die als heteronormativ-klassisch betrachtete Mutter-Vater-Kind-Geschichte, geschiedene und gegebenenfalls neu verpartnerte Elternteile (pssst – nicht der katholischen Kirche sagen), Patchwork-Familien, Alleinerziehende, Adoptiveltern, Regenbogenfamilien oder, dies eher nach der Kindheit, eine Familie, die sich ein*e Jede*r selbst zusammensuchtdie Familienwelt ist bunt

Politisch texten im Korridor

So bunt etwa, wie das beim Rowohlt-Imprint Rotfuchs erschienene Kinderbuch Alle meine Freunde der ukrainischen Autorin, Rechtsanwältin und Menschenrechtsaktivistin Larysa Denysenko und der aus Kiew stammenden Illustratorin Masha Foye, in dem wir der Viertklässlerin Maja begegnen, die uns ihre sechzehn Freund*innen, deren Familien sowie ihre Lehrerin Frau Yuliya vorstellt. In der Ukraine ist das Buch bereits 2017 erschienen und nun im Herbst dieses Jahres in einer leicht aktualisierten Fassung auch im deutschsprachigen Raum, beziehungsweise wurde es mittlerweile an reichlich internationale Verlage verkauft. Zyniker*in müsste mensch sein, um zu meinen, dass es erst einen Angriffskrieg bräuchte, um den Blickwinkel der (Verlags)Welt zu erweitern…

© Masha Foya/Larysa Denysenko/Alle meine Freunde

…auf diesen bezieht Larysa Denysenko sich durchaus in ihrem eindrücklichen Nachwort, das sie „aus dem Korridor, in dem wir uns mit meiner Mutter, die als Kind den Zweiten Weltkrieg überlebt hat, und meinem Hund aufhalten, weil Kiew von Raketenbeschuss bedroht wird“ geschrieben hat. Überhaupt kommen auf den 72 Seiten von Alle meine Freunde immer mal wieder angefügte Einordnungen vor, etwa wenn es um Sofia die Dritte geht (in der Klasse gibt es ein Sofia-Tripple), deren Vater verschwunden ist und die mit ihrer Mutter als Zwangsmigrantin aus Luhansk nach Kiew kam und zu der Maja kommentiert: „Alle Kriege müssen irgendwann ein Ende haben“.

Großes Besteck in kleinem Buch

Denysenko gibt an, dass sie das liebevoll getextete und von Mila Piredda angenehm ins Deutsche übertragene Büchlein als Reaktion der Krim-Annexion und der Besetzung von Teilen der Region Donezk und Luhansk durch Putins Russland geschrieben habe. So verwundert es nicht, dass wir mit dem Schüler Rais einem Krimtataren begegnen, dessen Familie aus der Stadt Dzhankoy vertrieben wurde. Kindgerecht beschreibt die engagierte Autorin in dem ab 6 Jahren empfohlenen Buch, wie es den Krimtataren mit ihrer zweiten Vertreibung erging – und schlägt über Rais’ Monobraue, für die er aufgezogen wurde, bis die Schüler*innen vermittelt bekamen, „dass es dumm ist, über das Aussehen von jemandem zu lachen“, schließlich den Bogen zu Frida Kahlo.

© Masha Foya/Larysa Denysenko/Alle meine Freunde

Nicht in allen von wirklich wunderbaren, teils an Dixit erinnernden Illustrationen begleiteten Texten packt sie dabei das ganz große Besteck aus, schlägt nicht immer drei oder vier inhaltliche Haken auf kleinstem Raum, hat aber doch zumeist prägnant formuliert Profundes zu sagen. Aksana etwa, die auch immer mal „Oksana“ genannt wurde, bis Frau Yuliya den Kindern beibringt, wie wichtig Namen sind und dass jedes Kind (und also jeder Mensch) „das Recht auf seinen Namen“ hat. Unweigerlich denken wir hier natürlich an das unsägliche Transsexuellengesetz, das hoffentlich im kommenden Jahr durch das Selbstbestimmungsgesetz abgelöst wird.

„Große europäische Länder, genau wie die Ukraine!“

Wir lernen Hrystyna kennen, deren Eltern in Italien und Großbritannien („Das sind beides große europäische Länder, genauso wie unsere Ukraine!“) leben und arbeiten und die bei ihrer Oma aufwächst und vormals von ihren Mitschüler*innen als „Skype-Kind“ oder Waisenkind bezeichnet wurde. Was nicht zutrifft und daher despektierlich ist. Natürlich ist es aber vollkommen in Ordnung Waise zu sein, wie etwa Kyrylo der nach langem Aufenthalt in einem staatlichen Waisenhaus, in dem quasi alles verboten war, was das Kindsein ausmacht, zu seinem gutmütigen Pflegevater Borys kam.

© Masha Foya/Larysa Denysenko/Alle meine Freunde

Die beste Freundin Majas, Sofia die Erste, und deren Zwillingsschwester Solomia hingegen sind durch künstliche Befruchtung entstanden und auch diesen Vorgang beschreibt Denysenko zugewandt und leicht begreiflich; genauso wie auch ein Stiefvater nichts Böses sein muss. Ganz im Gegenteil, hilft der Bänker (der hoffentlich nichts mit der Hyperinflation zu tun hatte) doch Stieftochter Jeva, was sie zum Mathe-Ass werden lässt. 

Absurde „Hexenjagd“

Auch in Tymkos musikalischer Familie funktioniert eine Ex-und-Neu-Partner-Verbindung super, genauso wie Petro in allen Belangen von seinem Roma-Clan gestützt und manchmal auch gestutzt wird… und sehr viele Geschenke bekommt. Die Erläuterungen Majas zu ihren jeweiligen Freund*innen sind so zugänglich wie geschickt politisch, so anrührend wie gesellschaftlich relevant, so vielfältig wie aufklärend. 

Autorin, Rechtsanwältin und Menschenrechtsaktivistin Larysa Denysenko // Foto: © Kseniya Kravtsova

Genau hierfür wurde Larysa Denysenko in ihrer ukrainischen Heimat jedoch auch stark angefeindet. Dies nicht zuletzt, weil Maja zwei Mütter hat, woran sie nichts Ungewöhnliches findet „[u]nd sie lieben sich und mich.“ Der Verlag spricht hier von einer homophobenHexenjagd“ gegen Buch und Autorin. Dass dies bei Alle meine Freunde gerade einem Titel, der nicht nur gegen Mobbing und für Liebe, gegen Ausgrenzung und für Zusammenhalt, sondern auch für einen sehr intensiven Bezug zur Ukraine als Heimat steht, geschieht, entbehrt nicht einer gewissen tragischen Ironie. 

QR

PS: Das Beitragsbild zeigt eine Illustration zu einer der berührendsten Vorstellungen des Buches. Aksana, von der wir im Text schon hörten, lebt nach dem Tod der Mutter allein bei ihrem Vater. Da die Lieblingsblumen der Mutter Stockrosen gewesen sind, pflanzte Frau Yuliya ebendiese mit der Klasse nahe der Schule.

Larysa Denysenko (Texte), Masha Foya (Illustrationen): Alle meine Freunde; Aus dem Englischen von Mila Piredda; September 2022; Hardcover; 72 Seiten, durchgehen vielfarbig; ISBN: 978-3-499-01119-1; Rotfuchs (Rowohlt); 15,00 €

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