Dieser schöne Schein auf den schönen Bildern, die diese schöne Wohnung im Reuterkiez zeigen, die zu einem für die Vermieter*innen schönen Preis zeitweilig zur Verfügung gestellt werden kann, während diese mal bei ihrer Familie in Italien, mal auf einem Kurztrip im europäischen Ausland oder auf längerem Selbstfindungstrip in Lissabon weilen. Doch: „Nicht immer entsprach die Wirklichkeit den Bildern.“
„Die honigfarbenen Dielen“
Eine Binse, möchte mensch meinen. Sicherlich. Dennoch wirkt dieser knappe Satz nach dem schwelgerischen Einstieg, in welchem wir im besten Stile der Romantik Fotografien beschrieben bekommen, als würden wir durch eine Gemäldegalerie derselben Epoche schreiten. Wer nach diesen ersten fünf Seiten von Vincenzo Latronicos Roman Die Perfektionen, der kürzlich bei Claassen erschienen ist, nicht in diese Wohnung ziehen möchte, mit der oder dem dürfte etwas nicht ganz in Ordnung sein.
Aber was heißt schon in Ordnung sein? Vor allem im Alltag, den wir alle nicht so ganz ohne Knacks bewältigen könnten und aus dem sowieso kein Mensch mit mehr und mehr davon rauskommt. Diesen Alltag gibt es natürlich auch im Leben von Anna und Tom, die diese Wohnung ihr Mieteigen nennen und sie „verleben“. Kabel, Geschirr, Klamotten, Taschentücher — wir kennen das; ebenso den Wunsch, doch wieder die reinliche Ordnung herzustellen — und für jede Wollmaus genüsslich daran zu scheitern.
„Sie hatten es mehr oder weniger erfunden“
Irgendwie gescheitert, jedenfalls so halb, nimmt sich auch das Paar im Laufe der nur knapp 130 Seiten wahr, dessen Leben zwar von einer distanzierten Erzählstimme betrachtet wird, dennoch entstand zumindest bei mir der Eindruck, dass wir eher der Sicht Toms folgen. Voller Halb-Pläne verließen sie die Provinz und damit die Enge, das Spießertum und die Erwartungshaltung einer „randständigen südeuropäischen Stadt“, um in das pulsierende Berlin zu ziehen. Hier würden sie als Expats aufblühen, auch wenn sie diese Bezeichnung ablehnen und höchstens ironisch gebrochen zu nutzen bereit waren.
Die Perfektionen beginnt irgendwann und erst im späteren Verlauf wird dezidiert das Ankommen von Flüchtlingen im Jahr 2015 genannt und später noch einmal die Jahreszahl 2017. Doch so wie Latronico sein mögliches, vermutlich überzogenes Alter-Ego Tom und dessen Partnerin Anna das Berlin, in das das Paar zuerst eintaucht und von dem es sich mehr und mehr entfremdet (oder dieses sich von ihnen) wahrnehmen lässt, ist von Beginn an klar, dass wir uns in den 2010er-Jahren befinden. Die Möglichkeiten, die der Autor seine Figuren benennen lässt, wie auch die Orte (inklusive weniger langer Schlangen vorm Berghain und Schließung und Rückbau des Tacheles) fallen eindeutig in diese Zeit.
„Unterschied auf Unterschied gestapelt“
Fein herausgearbeitet hat er dabei, wie sich die Zugezogenen zwar nicht als Touristen verstehen wollen (hierzu eine Anekdote im PS; Apropos: Wenn Vincenzo Latronico in Bezugnahme auf die Mauer und die Reichspogromnacht schreibt, dass das Bewusstsein dieser „nie über eine pittoreske Anekdotik hinaus [ging], die vornehmlich dazu diente, dem Erleben des Ortes mehr Würze zu geben“, finde ich das ganz großartiges, entlarvendes und herrlich lakonisches Wortkino.), sich aber in einem Kokon-Kollektiv zwischen Ausstellungseröffnungen, immer gleichen Brunch– und Partyerfahrungen sowie Bier-an-der-Spree-Momenten bewegen, leben sie letztlich genauso abgeschottet wie Touristen mit ihrem teils sehr speziellen Tunnelblick.
Dennoch nehmen sie die Veränderungen von Stadt und Leben wahr, in dem sich Anna und Tom, die sich sicher sind zusammen alt zu werden und die schlecht und nicht oft vögelten, zwar eingerichtet haben, doch immer begleitet von „unsichtbaren Wellen der Unsicherheit“, auch der Furcht, „zufrieden zu sein, weil sie sich zufriedengegeben hatten.“ So bröckelt nicht nur die Fassade der Wohnungsfotografien wie die der zur Sanierung stehenden Gebäude vor allem des Berliner Innenstadtrings, sondern auch jene ihres geschaffenen, durchaus konstruierten Lebens, das kaum Risse verträgt.
„Ein Sammelbecken möglicher Zukünfte“
Dennoch erleben wir selten Streitigkeiten, am Ende agieren diese beiden in Einigkeit und Einheit. Womit sich die Frage stellt, ob dies geschieht, weil sie einander kennen und lieben oder eben doch, weil sie sich zufriedengegeben hatten und für sie gilt, was im Buch in Bezug auf das Englisch diverser weiterer Expats erwähnt wird: „Es fungierte in ihren Kreisen als Bindemittel, dessen Toleranz für Abweichungen und Fehler jedem sofort die Hemmungen nahm.“ Nehmen sie sich die Hemmungen besser nicht zu streiten und dafür immerfort ihr Leben nach einem Gedankenfoto zu gestalten? Eines in das es auch nicht passt, dass sie womöglich doch die bornierten Spießer sind, vor denen sie einstmals die Flucht ergriffen?
Immerhin elektrisiert es sie, Pläne zu machen — deren Umsetzung immer nur so halb gelingt, was sie sich wiederum als Chance für neue Pläne erträglich machen. Genauso wie sich „[d]iese Ahnung von Unbeständigkeit in einer nervösen Dauereuphorie“ manifestiert. Wohlgemerkt einer, die sie dennoch manches Mal zum eher unfreiwilligen Reflektieren einer kaum ernstlich lebbaren Welt der Perfektionen nötigt.
„Ein seltsam kummervolles Gebet“
Die Realität existiert nämlich trotzdem in Die Perfektionen, mit dem laut der im vergangenen Jahr für den Deutschen Buchpreis nominierten Theresia Ezensberger Vincenzo Latronico den Berlinroman wiederauferstehen hat lassen. Dem möchte ich mit — je nach Lesart — einer Einschränkung oder auch Erweiterung zustimmen: Es ist ein Berlinroman vor allem für jene, die Berlin erst seit einer Dekade oder nur von Besuchen und Erzählungen kennen. Latronico ergeht sich in wunderbar gesetzten Beschreibungen eines Berliner Lebens, die so spitz wie treffend den Nagel in einer neugezogenen Wand versenken und so elegant wie schneidend von Verena von Koskull ins Deutsche übertragen wurden. Es ist ein Berlinroman für Expats, Tourist*innen und jene, die bestätigt haben möchten, dass Gentrifizierung böse ist und die Revolution ihre eignen Kinder frisst.
Auch diese Erkenntnis stellt sich nämlich bei Anna und Tom ein, als Verdrängung zunimmt und nahezu identische Beton-Glas-Klebeklinker-Wohn-Büro-Klötze aus dem Boden schießen: „Ihnen war bewusst, Teil des Problems zu sein, das an ihrer Welt zu nagen begann, wenngleich unterschwellig, wie bei Rauchern, wenn sie an Krebs denken.“ Natürlich behalten die italienischen Europäer ihre mietpreisgebundene Wohnung, als sie den nächsten Schritt im Instagram-Album, das ihr Leben ist, wagen und und doch wieder in einen randständigen Bereich Südeuropas gehen. Wie schlau, wie bequem, wie problematisch.
AS
PS: Kürzlich saß ich im Regionalexpress und vor mir saßen zwei junge Frauen, die sich über dies und das unterhielten (unter anderem darüber, dass eine von ihnen unbedingt zu Are You the One? gehen wolle, wobei die andere sie voll supporten würde). Sie wollten gern noch ein, zwei Berlin-Bilder haben, auch gern mit vorgefertigtem Hintergrund. Aber halt nicht so touri-mäßig auf diesem Platz in Mitte, oder vor einer Kuppel oder so einer typischen Terrasse. Vorschlag der einen: Dann machen wir einfach ein Selfie vor einem Fotoautomaten. Ja, geil, fand die andere. Top-Idee, frei von jedem Tourismus-Gedanken, die wir Berliner*innen doch eigentlich in regelmäßigen Happenings für unsere Stadtteilmagazine umsetzen.
Hinweis: Am kommendem Montag, dem 27. Februar 2023, findet im Literaturhaus Berlin die Buchpremiere statt. Hierfür wird Vincenzo Latronico im Gespräch mit Thomas Brussig und Verena von Koskull sein. Johannes Hampel dolmetscht, wenn es nötig ist. Eine Veranstaltung in Kooperation mit dem Instituto Italiano di Cultura Berlin. Alle Infos hier.
Eine Leseprobe findet ihr hier.
Vincenzo Latronico: Die Perfektionen; Januar 2023; Aus dem Italienischen von Verena von Koskull; 128 Seiten; Hardcover mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-546-10069-4; Claassen; 22,00 €
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