Ein stolzer Beginn mit offenem Ende

Es war in der Nacht vom 27. auf den 28. Juni 1969, als sich die systematisch von der Polizei verfolgten, schikanierten und traktierten „seelisch schwache[n] Subjekte“ zur Wehr setzten und es vor dem New Yorker Stonewall Inn zur Gegenwehr kam. Diese gingen als Stonewall Riots in die Geschichte ein und folgend gab es zum Jahrestag und um die Zeit herum in Städten der USA, Mittel- und Westeuropas, mittlerweile auch Osteuropas und anderer Teile der Welt, wie etwa in Israel, Jahr um Jahr Pride-Parades. Diese heißen mal Christopher Street Day, bezugnehmend auf die Straße, in der sich das Stonewall Inn befindet, mal „einfach“ Pride wie beispielsweise in Tel Aviv (wo es in diesem Jahr keine Parade geben wird, was angesichts des Krieges nur nachvollziehbar ist).

Es war einmal…

Die beiden Autoren Christian Handel und Andreas Suchanek haben sich, passend zum Pride Month und zum 55. Jahrestag der Riots, nun dem Ursprung, ja der Geburtsstunde des Christopher Street Days angenommen und im Rahmen der im Piper Verlag erscheinenden Reihe Schicksalsmomente der Geschichte den Roman Pride began on Christopher Street veröffentlicht. Der Roman beginnt einige Tage vor dem 27. Juni, als die queere Community sich zur Wehr setzt und für Menschlichkeit, Individualität und Freiheit nicht nur die eigenen Schuhe wirft.

Zu Beginn begegnen wir Finn. Die fiktive schwule Figur ist unser Ankerpunkt der Geschichte. Der junge Mann ist vor Jahren im Grunde vor der Enge und Engstirnigkeit seiner streng religiösen Familie aus der Pampa geflohen und in New York untergekommen. Dort wohnt er in einer Wohngemeinschaft mit Gloria, einer alteingesessenen Drag Queen, sowie Maggie, einer lesbischen Frau, die nichts anbrennen lässt und immer hellwach ist. Doch auch Finn ist kein Kind von Traurigkeit, wie uns schnell und immer mal wieder vermittelt wird. Wenn er doch im gleichen Moment, nach einer Beziehung sucht. Allein gerät er immer an die falschen Kerle – so wie derzeit seinen Irgendwie-Lover Tjorge, der im subversiven Theater Lavender Stage, hier arbeitet Finn hinter den Kulissen, als Tänzer auf der Bühne steht und offiziell die Hete gibt.

Lily Laws und Lügen

Hetero gibt sich auch oder scheint zu sein der Polizist Jake Plummer, den Finn als Milton im Stonewall Inn kurz vor einer der unzähligen Razzien kennenlernt. Nach einem Flirt in der stickigen Bar startet die Razzia – an deren Ende Milton aka Jake Finn entkommen lässt. Dennoch: „Ja, Plummer war ein Schwein, eine Lily Law, eine Betty Badge – ein Cop, der sich als Homosexueller ausgab, um richtige Homosexuelle hochzunehmen.“

Eine gern gewählte Masche, nicht nur im Vorfeld von Razzien (eine solche ist übrigens sehr eindringlich in der Serie Fellow Travelers inszeniert), sondern auch in Cruising Areas trieben sich immer Polizisten in zivil rum. Dies zuhauf auch in Deutschland, vor allem in der bleiernen Zeit der 1950er-Jahre, in welche auch diverse schwulen- beziehungsweise allgemein homo- und queerfeindliche Prozesse fielen. Stichwort: Frankfurter Homosexuellenprozesse (in diesem Zusammenhang sei das eindringliche DokuDrama Das Ende des Schweigens empfohlen).

Zurück in die USA und nach New York. Handel und Suchanek, von denen kürzlich der phantastische Roman Spiegelstadt 2. Gefangen in Purpur und Schatten erschien, ein queerer Urban-Fantasy-Roman, den wir als Hörbuch besprechen werden, lassen die fiktive Geschichte um Finn und Jake also mit einer Lüge beginnen. Und einem Gefallen, wenn wir so wollen. Was Finn bei aller Wut auf den Cop auch die Neugierde auf diesen wachsen lässt. Dass er ihn für einen verkappten Homo hält und attraktiv findet, mag diese unterstützen.

Fiktion und Fakten

Die aufkeimende Liebesgeschichte der beiden Männer ummantelt die Story mitsamt ihrer sehr farbenfrohen Nebenfiguren, wie den genannten Mitbewohner*innen, Finns bestem Freund Ricardo und dessen großartiger Mutter Delizia oder Jakes unterschätzter Ehefrau Cybill, seinem herrischen Vater oder oder widerlichem Vorgesetzten Crest. Neben diesen fiktiven Figuren, in denen wir geneigte Leser*innen quasi viele verschiedene Menschen- und Charaktertypen und Eigenschaften sowie Sichtweisen der damaligen Zeit vereint finden, treten in Cameos etwa auch Stormé DeLarverie oder Marsha P. Johnson auf. Zu Letzterer und der großen Frage, wer denn den oder einen ersten Stein warf, äußert sich auch das Autoren-Duo (nach Axel Petermann und Petra Mattfeldt schon das zweite bei uns in dieser Woche) im Nachwort und erläutert nachvollziehbar, warum sie sich hier nicht auf eine Seite der Geschichtsschreibung schmeißen wollten.

Christian Handel und Andreas Suchanek über die Arbeit am Roman

Pride began on Christopher Street ist eine durchaus eingehende Recherche anzumerken. Christian Handel und Andreas Suchanek schaffen es zumeist reibungslos das wahre Geschehen, die echte Geschichte mit ihren eigenen Figuren und dem erzählten Umfeld zu verknüpfen. Intensiv vermitteln sie eine nicht immer nur unterschwellige Angst um Leben, Beruf und Freund*innen nicht-heteronormativ lebender Menschen zur damaligen Zeit. Repressalien, Drohungen und Unsicherheiten lauern überall, mensch ist hier für viele keine Mensch, sondern, wie oben erwähnt, ein seelisch schwaches Subjekt. Was schon beinahe freundlich ausfällt, für diese „lauwarmen Sissys“.

…es wird einmal

Zugegeben sitzt nicht jeder Satz in diesem Roman über einen der wichtigsten Momente in der Geschichte der LGBTIQ*-Community (übrigens stellen die Autoren auch den Konflikt innerhalb der Community dar, der sich darum drehte – und noch heute dreht – ob es sinnvoller ist, brav und angepasst nicht-heterosexuell zu sein oder doch lieber out, loud and proud), das aber ist zu verschmerzen, denn neben vielen Gedankengängen und gesellschaftlichen Zustandsbeschreibungen (die weit über das queere Leben hinausgehen) ist Pride began on Christopher Street durchweg unterhaltsam. Selbst wenn’s hier und da mal ein wenig pathetisch wird, geht’s im Anschluss direkt wieder angenehm romantisch, aufreibend spannend oder anheizend wild zu.

Für manch eine*n mag das Ende allzu versöhnlich ausfallen, letztlich aber muss nicht jede Geschichte unterm Regenbogen mit Platzregen und Gewitterstürmen enden. Zumal die Hoffnung auf Verbesserung nicht nur Ende der 1960er- und zu Beginn der 70er-Jahre wuchs. Nein, auch heute darf unser Gedanke und unser Engagement für die Möglichkeit von mehr Gleichstellung und Selbstbestimmung, Anerkennung und Akzeptanz nicht enden. In zu vielen Ländern ist Homosexualität noch immer eine Straftat, in manchen wird sie mit dem Tode bestraft. Im Iran leben schwule und lesbische Menschen lieber als trans*-Person, denn There Are No Homosexuals in Iran. In Ländern von denen wir meinten, weiter zu sein, wird versucht, das Rad zurückzudrehen und auch bei uns nehmen queerfeindliche Äußerungen und Attacken (selbst im Deutschen Bundestag) wieder zu. Doch selbst in konservativen Gesellschaften wie beispielsweise in Namibia gibt es Hoffnungsschimmer: In der früheren deutschen Kolonie wurde in dieser Woche seitens des höchsten Gerichts die Strafbarkeit von Homosexualität verworfen.

Was also, so wie Handel und Suchanek es in ihrem lesenswerten Roman beschreiben, begann, ist noch lange nicht zu Ende.

AS

PS: Wir von the little queer review sind übrigens auch in diesem Jahr wieder Teil der #PrideBuch-Kampagne, die von der Queer Media Society, dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels sowie der Frankfurter Buchmesse initiiert wurde. Mehr dazu findet ihr u. a. bei Instagram, ebenfalls findet ihr bei den Kolleg*innen von PinkDot-Life eine Empfehlungsliste wie auch via VLB-TIX.

PPS: In Bälde gibt es unsere Rezension zum fünften Band der Schicksalsmomente der Geschichte. In diesem schreibt Dörte Schipper unter dem Titel Ein schwarzer Tag im Juli über das gescheiterte Stauffenberg-Attentat vom 20. Juli 1944. In diesem Zusammenhang werden wir uns auch mit Ruth Hoffmanns für den Deutschen Sachbuchpreis nominiertem Band Das deutsche Alibi. Mythos >>Stauffenberg-Attentat<< – wie der 20. Juli 1944 verklärt und politisch instrumentalisiert wird befassen.

GEWINNSPIEL: Wir verlosen zwei Exemplare von Pride began on Christopher Street. Kommentiert einfach unter diesem Beitrag – sagt uns gern, wann euer erster CSD bzw. eure erste Pride-Parade war und weshalb der Roman unbedingt eure Pride- und Summer-Season Lektüre sein sollte. Die Verlosung läuft bis einschließlich Dienstag, den 2. Juli 2024. Am Mittwoch werden aus allen Kommentaren die Gewinner*innen ausgelost und bekannt gegeben. [Teilnahme nur in Deutschland und bei Volljährigkeit. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Wir übernehmen keine Haftung bei Verlust/Beschädigung auf dem Versandweg.] Das Gewinnspiel findet ihr auch bei Instagram.

Christian Handel, Andreas Suchanek: Pride began on Christopher Street. Schicksalsmomente der Geschichte 4; Mai 2024; 368 Seiten; Klappenbroschur; ISBN: 978-3-492-06490-3; Piper Verlag; 17,00 €

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