Drehbuch eines Kabaretts

Gott Kabarett ist tot! Also nicht ganz, aber Corona trägt dazu bei, dass sich viele Kulturschaffende und eben Kabaretttreibende in prekären Situationen wiederfinden. Ohne Auftritte stehen sie vor kaum lösbaren Problemen, sofern sie nicht ein zweites Standbein haben. Über ein solches verfügt die Kabarettistin Christine Prayon, vielen besser bekannt als „Birte Schneider“ von der heute show – oder die Frau, die sich mal fix hingesetzt hat, um ein neunstündiges Hörbuch des Koalitionsvertrags der Ampelparteien einzulesen.

Eine Bühnenshow in Schriftform

Jedenfalls versucht sich Prayon nun auf einer neuen Bühne, nämlich dem guten alten Buch. In Abschiedstour – Eine Utopie präsentiert sie ihre Show nun schriftlich. Die Leserinnen und Leser können auf den etwa hundert beim Westend Verlag erschienenen Seiten mit kurzen Sketchen und Einlassungen der Kabarettistin zu verschiedenen Themen rechnen, die ganz wie bei einer etwa 70-minütigen Bühnenshow lose aufeinander aufbauen.

Prayon steigt dabei ebenfalls mit der These des „toten Kabaretts“ ein, hangelt sich aber in neun weiteren vollwertigen Kapiteln sowie etwas Zusatzmaterial – darunter auch eine der Leserinnen- und Leserschaft aufoktroyierte zwanzigminütige „Pause“ – durch das weitere Programm. Mit dem Auftritt einer weiteren Figur – dem „Größten Comedian aller Zeiten (GröCoZ)“ – sowie manch anderen Einschüben und stilistischen Brüchen erzeugt sie dabei in der Tat eine kleine Art Bühnenshow, nur eben in gedruckter Version.

Wahrheit + Humor = Kabarett

Von Diversität und -fikation über Migration, Kapitalismus, die AfD und allgemein Neurechte bis hin zu Themen, die vornehmlich Frauen zu betreffen scheinen, greift sie dabei manch einen Punkt auf sehr satirische Art und Weise auf, der sie auch im ach so toten Kabarett immer wieder beschäftigt. Bei vielen oder zumindest manchen Punkten kann der aufgeklärte Mensch eine andere Meinung vertreten als Prayon, aber sie schafft es zumeist sehr gut, diverseThemen kritisch zu beleuchten. Und gerade von diesem kritischen Diskurs, gerne auch mal in humorvolles Gewand verpackt, lebt ja unsere Demokratie.

Diese soll – so hoffen wir – nicht den Tod des Kabaretts sterben. Natürlich ist es auf Papier nicht so einfach, eine Bühnenshow mit Mimik und Gestik, mit Betonung und nervigen Sitznachbarn, zu imitieren, aber Prayon gelingt das eigentlich ganz gut. Die stetigen Einschübe – unter anderem Nachrichtenblöcke („da sollst du dich nach richten“) – oder auch so manches Stilmittel finden bei ihr eine ganz wunderbare Verwendung und lassen die Zuschauerinnen und Zuschauer, äh Leserinnen und Leser, in der Tat ein wenig Bühnenfeeling nachempfinden.

Gebt der Frau doch ein paar Euro!

Zumindest ein paar von Prayons Auftritten schon einmal gesehen zu haben – auch hierfür gibt es ein wenig Bonusmaterial (bitte Schere, Klebstoff und ein Tablet nach Wahl bereithalten!) dürfte allerdings helfen, den Ton des schmalen Büchleins zu verstehen und besser einzuordnen. Einfach nur eine trockene Lektüre ihrer Gags mag ein wenig brotlos erschienen.

Alles in allem ist Christine Prayons Abschiedstour – Eine Utopie aber ein unter den Umständen von Corona und begrenzter Umsetzbarkeit einer Bühnenshow passabler Ersatz, der der Kabarettistin zudem ein paar Tantiemen in die Kasse spülen und künftiges Kabarett ermöglichen dürfte. Ähnlich wie bei einer regulären Show dürfte die Lektüre in etwa 90 bis 120 Minuten – inklusive Zugabe – vorbei sein, Pause ist wie gesagt einkalkuliert, überteuerte Getränke an der Bar können sich die Leserinnen und Leser sparen und stattdessen zum guten Eber Pils greifen und der lästige Heimweg nach der Show entfällt ebenfalls. Wenn also Sonntagabend mal kein spannender Tatort oder Polizeiruf 110 läuft, dann bietet Abschiedstour adäquaten Ersatz für unterhaltungsbedürftige Bürgerinnen und Bürger.

HMS

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Christine Prayon: Abschiedstour – Eine Utopie; Februar 2021; 110 Seiten; Klappenbroschur; ISBN:  978-3-864-89370-4; Westend Verlag; 12,00 €, auch als eBook erhältlich

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