Hinweis: Aufgrund der fortgesetzten kriegerischen Aggression Russlands und des Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine haben wir uns entschieden, unseren Redaktionsplan in weiten Teilen umzustellen. Geplante und teils angekündigte Besprechungen und Texte verschieben sich. Am morgigen Mittwoch lest ihr einen Beitrag zum russischen Sender Doschd und dessen Gründerin Natalja Sindeewa, der die letzte gegnerische Flanke zu Putin und seiner Medien-Propaganda bildet – so wandte sich kurz nach dem Einmarsch der russischen Truppen der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj über Doschd TV direkt an das russische Volk.
Die Situation in der Ukraine, die Aggression des russischen Präsidenten Wladimir Putin und der um ihn herrschenden Kaste aus Oligarchen und der von vielen Politikerinnen und Politikern verurteilte eklatante Bruch des Völkerrechts haben in den letzten Tagen viele Menschen erschrocken, überrascht und in Sorge versetzt. Was hat Putin vor? Was geht in Moskau vor sich? Wer wird vielleicht als nächstes zittern müssen – und zwar nicht, weil Öl- und Gaslieferungen aus Sibirien ausbleiben?
Der Publizist Jens Siegert lebt seit fast 30 Jahren mit seiner Frau, die Russin ist, in Moskau, gerade einmal drei Kilometer vom Kreml entfernt. Er leitete von 1999 bis 2015 das dortige Büro der Bündnis 90/Die Grünen nahestehenden Heinrich-Böll-Stiftung und leitete danach für vier Jahre das EU-Projekt „Public Diplomacy. EU and Russia“. Darüber hinaus berät Jens Siegert den Vorstand der Menschenrechtsorganisation MEMORIAL, die gerade verboten wurde. In der Edition Körber erschien 2021 sein Buch Im Prinzip Russland, das wir in den kommenden Wochen besprechen werden.
Herr Siegert stand uns am 26. Februar für ein Gespräch zur Verfügung. Wir sprachen über die zu jenem Zeitpunkt aktuelle Situation in Moskau und Russland, über Putins Motivation, die Diplomatie der vergangenen Wochen und über mögliche Konsequenzen oder nächste Schritte, die Putin und der Kreml ins Auge gefasst haben könnten. Erste Eindrücke haben wir bereits am 26. Februar in einem längeren Beitrag gemeinsam mit manch anderer Stimme eingebracht. Aber die Einblicke dieses im eigentlichen Wortsinne „Russland-Verstehers“ waren so eindrucksvoll, dass sie aus unserer Sicht einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten:
the little queer review: Herr Siegert, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für uns nehmen. Der Krieg in der Ukraine ist nun seit etwa zwei Tagen im Gange, die russischen Truppen sollen einige Gegenden, darunter das havarierte Kernkraftwerk Tschernobyl, unter ihrer Kontrolle haben, die Hauptstadt Kiew steht unter Beschuss, aber die Ukrainer halten dagegen. Wie geht es Ihnen in Moskau, von wo diese Aggression gesteuert wird? Wie ist die Lage bei Ihnen?
Jens Siegert: Ich sitze in unserer Wohnung, ungefähr drei Kilometer vom Kreml entfernt. Hier ist aber nichts zu bemerken: Kein Krieg, auf der Straße geht das Leben weiter, im Alltag betrifft der Krieg die Menschen hier nicht, nur dass sie ein wenig darüber nachdenken müssen.
the little queer review: In den deutschen Medien wurde in den vergangenen Tagen von Protesten berichtet – in Moskau und weiteren Städten Russlands.
Jens Siegert: Ja, auch hier gab es Proteste, nicht weit von hier am Puschkinplatz auf dem Weg zum Kreml, aber das merkt man hier nicht. Es sind keine Massendemonstrationen und da ich als Ausländer hier besonderen Regelungen zur politischen Betätigung unterworfen bin, gehe ich dort auch nicht hin. Einerseits ist da der stetige Vorwurf, dass die Opposition aus dem Ausland finanziert und gesteuert werde, aber natürlich geht es dabei auch um Selbstschutz – wir können das sehr gut nachvollziehen –. Stellen Sie sich vor, wenn jemand wie ich aufgegriffen und verhaftet würde – Sie wissen, unter welchem enormen Druck ausländische Stiftungen wie die Heinrich-Böll-Stiftung steht – das würde in der Öffentlichkeit unheimlich groß aufgemacht werden und der ganzen Bewegung schaden.
„Bis zum Vorjahr kamen keine Menschen morgens und nehmen jemanden fest“
the little queer review: Wie stellt sich die Lage von Menschenrechtsorganisationen vor Ort dar?
Jens Siegert: Aktuell gibt es nur wenige direkte Repressionen. Bis zum Vorjahr kamen keine Menschen morgens um 4 oder 5 Uhr, klopfen an die Tür und nehmen jemanden fest. Mit Nawalny hat sich das aber geändert, wenn auch nicht alltäglich und massenhaft. Aber viele zivilgesellschaftliche Organisationen wurden zu „ausländischen Agenten“ erklärt oder mit hohen Geldstrafen belegt, haben geschlossen. Viele Demonstranten und Aktivistinnen wurden mit so genanntem „Administrativarrest“ bis zu vier Wochen bestraft. Nichtsdestotrotz wurde heute Morgen ein mutiger Aufruf von NGO-Aktivisten veröffentlicht, in dem schon jetzt 360 Personen den Krieg verurteilen und zur sofortigen Einstellung der Kriegshandlungen auffordern. Das werden sicher noch mehr, da der Aufruf für weitere Unterschriften offen ist.
Zu den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern dieses Aufrufs gehört übrigens auch die Autorin Ljudmila Ulitzkaja, deren bei Hanser erschienenes Buch Eine Seuche in der Stadt wir vor etwa einem Jahr begeistert gelesen und besprochen haben. Ironischerweise beschreibt sie darin unter anderem das von Jens Siegert angesprochene Vorgehen des Geheimdienstes, in den frühen Morgenstunden Menschen in ihren Wohnungen „aufzusuchen“ und zu verschleppen.
Jens Siegert: Ein anderes Beispiel: Die Organisation MEMORIAL hat gestern eine Pressekonferenz abgehalten, die ursprünglich angesetzt worden war, da am kommenden Montag (den 28. Februar – d. Red.) ein Urteil über die Schließung der Organisation gefällt wird. Angesichts der Lage wurde die Konferenz um die Thematik des Kriegs erweitert und diese mutigen Leute haben sich ganz eindeutig und ganz deutlich gegen den Krieg positioniert, aber natürlich stehen alle unter Druck.
Dennoch wird MEMORIAL weiterarbeiten, denn es handelt sich hier um eine etwas komplizierte Organisationsstruktur – verboten werden sollen nur zwei der wichtigsten Teile, das Menschenrechtszentrum sowie die Dachorganisation MEMORIAL International, aber etwa 40 weitere Unterorganisationen werden erst einmal weiterarbeiten, da sie juristisch unabhängig sind. Dennoch sind die bevorstehenden Verbote ein schwerer Schlag.
Am Montag wurde MEMORIAL International schließlich tatsächlich verboten, was uns bestürzt, aber dank Herrn Siegerts Ausführungen hegen wir dennoch die Hoffnung, dass in den weiteren Organisationen des Netzwerks noch wichtige Arbeit geleistet werden kann. Das Berufungsverfahren gegen das Menschenrechtszentrum findet voraussichtlich Mitte März statt.
„Bisher war es glücklicherweise eher die Ausnahme, dass Menschen getötet oder wie Nawalny vergiftet wurden“
the little queer review: Wir hatten zuletzt mit politischen und zivilgesellschaftlichen Verantwortungsträgern in Deutschland gesprochen, die sich auch für die Rechte der Menschen in der Ukraine einsetzen. Es ist bekannt, dass der Arm Russlands weit reicht. Viele Menschen aus russischen Teilrepubliken oder russisch dominierten Gegenden sind bereits in der Vergangenheit in die Ukraine geflüchtet und haben dort Schutz gesucht. Stehen diese nun erneut vor den Gefahren, vor denen sie einst flüchteten?
Jens Siegert: Es ist die Frage, ob tatsächlich gleich das Leben dieser Personen in Gefahr ist. Bisher war es glücklicherweise eher die Ausnahme, dass Menschen getötet oder wie Nawalny vergiftet werden – und dennoch gibt es Beispiele hierfür. Aber ihre Freiheit und die körperliche Unversehrtheit sind natürlich dennoch in Gefahr. Ich würde solchen Personen empfehlen, so schnell wie möglich die Ukraine zu verlassen.
the little queer review: Sollte die Bundesrepublik diese Menschen unterstützen?
Jens Siegert: Ich halte das für selbstverständlich. Wenn man hier mit den Kolleg*innen in der deutschen Botschaft spricht, sagen diese, dass sie auch bereit sind, diesen Menschen zu helfen. Ich kenne selbst Fälle, in denen die Botschaft hier sehr hilfreich war. Dennoch zeigt sich hier, dass es mitunter Spannungen zwischen den Personen gibt, die in der Botschaft Außenpolitik machen einerseits und dem Bundesministerium des Innern und für Heimat andererseits. Die neuen Signale der Ampelkoalition und der federführenden Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sind aber sehr vielversprechend.
„Das ist die Art Politik, die zwischen Großmächten gemacht wird“
the little queer review: Welche Perspektive haben wir nun? Womit können wir in Bezug auf die Ukraine rechnen?
Jens Siegert: Im Grunde kenne ich niemanden, der wirklich damit gerechnet hat, dass Putin diesen Krieg so anfängt. Die US-amerikanischen und britischen Geheimdienste haben davor gewarnt, wurden aber nicht wirklich ernst genommen.
Das wurde eher wie eine Form des „Chicken Game“ wahrgenommen, ähnlich wie in der Kuba-Krise (von 1962 – als „Chicken Game“ wird in der Spieltheorie das Prinzip bezeichnet, dass derjenige verliert, der sich in einem Konflikt zuerst bewegt – d. Red.). Die Anzeichen dafür, dass Putin tatsächlich einmarschieren könnte, waren allerdings seit etwa zwei Jahrzehnten erkennbar – nicht dass es jemand für wahrscheinlich gehalten hätte. Aber diese Art Politik zu machen, ist eine reine Projektion militärischer Macht und die Art Politik, die zwischen Großmächten gemacht wird. Putin richtet sich in seinen Ansprachen immer direkt an die USA – er bezeichnet die ukrainische Regierung als Marionettenregime der USA. Seine Referenzperson ist der amerikanische Präsident. Auch Europa ist für ihn eigentlich nur Anhängsel der USA.
Es hat also niemand wirklich glauben wollen, dass Putin diesen Schritt geht – übrigens nicht nur im Westen, sondern auch hier in Russland, auch viele der Leute hierzulande, die Putins harte Haltung gegenüber dem Westen teilen. Ich sehe jetzt, dass viele dieser Personen ebenfalls unter Schock stehen, denn auch sie konnten sich nicht vorstellen, dass Putin das machen würde.
„Putin hat sie zu diesem Loyalitätsschwur gezwungen“
the little queer review: Wissen Sie, was in Putins näherem Umfeld gerade passiert?
Jens Siegert: Ich kann natürlich nur beurteilen, was öffentlich passiert, aber es gibt in der Tat Hinweise darauf, dass es innerhalb des engeren Machtzirkels um Putin herum einige Leute gab und gibt, die seinen Angriff nicht sehr gut finden. In der Sitzung des Staatssicherheitsrates am Montag (den 21. Februar – d. Red.) ließ Putin die Mitglieder dieses Gremiums einzeln auftreten und öffentlich bekennen, dass sie die Anerkennung der beiden „Volksrepubliken“ (Donezk und Luhansk – d. Red.) unterstützen. Als besonderes Beispiel gilt der Chef des Auslandsgeheimdienstes, der von Putin öffentlich erniedrigt und korrigiert wurde, mit einem verächtlichen Lächeln. Aber es gab auch andere, die ganz offensichtlich sehr nervös waren und Angst hatten. Meine Interpretation ist, dass diese Entscheidung in einem sehr engen Kreis um Putin herum getroffen wurde, dass es in seiner etwas weiteren Umgebung relativ viele Leute gibt, die das falsch oder zumindest sehr gefährlich und risikoreich finden und dass diese Personen auch erst am Montag über Putins Schritte kurzfristig informiert worden waren.
Ob hieraus politische Konsequenzen folgen – zum jetzigen Zeitpunkt glaube ich eher nicht daran. Es gab diesen Moment, in dem dies öffentlich gemacht wurde. Putin sah sich in seiner Autorität wohl so sehr in Frage gestellt, dass er sie vor aller Öffentlichkeit zu diesem Loyalitätsschwur gezwungen hat. Das war ein sehr seltener öffentlicher Moment darüber, was im Kreml hinter den ansonsten sehr verschlossenen Mauern in dieser „Black-Box“ passiert.
An dieser Stelle sprechen wir über ein kürzlich in Deutschland bei Harper Collins erschienenes Buch, das wir mit großer Aufmerksamkeit lesen. Die britische Journalistin Catherine Belton arbeitet in Putins Netz – Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste das Machtgeflecht und Finanzströme rund um den russischen Staatschef auf. Unsere Besprechung folgt demnächst.
the little queer review: Wie hat sich denn das Machtgefüge im Kreml sortiert? Welche Rolle spielt Putin nun?
Jens Siegert: In jedem Fall ist festzuhalten, dass Putin sich in den vergangenen Jahren zum wirklichen „Alleinherrscher“ aufgeschwungen hat. Früher sah es immer noch so aus, als ob er häufig Rücksicht auf verschiedene Gruppen nehmen musste – das heißt, dass er einen gewissen Preis für seine Entscheidungen zu zahlen und Interessen auszugleichen hatte – das scheint er jetzt aufgegeben zu haben.
Symbole sprechen eine eindeutige Sprache
Sehen Sie sich beispielsweise die Symbolik an: Die Mitglieder des Sicherheitsrats saßen aufgereiht auf einer Seite des Saals, Putin ihnen gegenüber – 20 Personen, 20 Meter Entfernung. Auch der riesige Tisch, an dem Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron Platz sechs Meter von ihm entfernt Platz nehmen mussten – das ist gespenstisch. Mit seinen eigenen Leuten, Ministern, Beratern, Militärs macht er es ebenso.
the little queer review: Sie haben Recht, die Symbole sprechen hier eine eindeutige Sprache. Unsere Medien haben dieses Spiel allerdings mitgespielt. Die Bilder von Scholz und Macron an jenem Tisch fanden sich in jeder Zeitung, in jeder Nachrichtensendung.
Jens Siegert: Das stimmt, aber der Tisch hatte durchaus einen gewissen Hintergrund. Scholz und Macron haben sich nach ihrer Ankunft geweigert, einen Coronatest von russischen Ärzten vornehmen zu lassen. Daraufhin durften sie – das ist derzeit in Bezug auf Putin allgemeingültig – Putin nicht näher als sechs Meter kommen. Hieraus erklären sich die Bilder an diesem Tisch. Auch das sagt aber etwas über Putin aus, denn ich kenne keinen anderen Staatsführer, der ähnliche Restriktionen erlassen hat.
Wir stellen im Dialog fest, dass wohl auch der chinesische Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Xi Jinping, ähnliche Einschränkung seine Person betreffend getroffen hat. Auch eine vorherige Dusche soll bei beiden Männern erforderlich sein, um sie zu treffen – bei Menschen, die nicht einer Staats- oder Regierungsführung unmittelbar angehören, ist wohl auch eine zweiwöchige Quarantäne vorgeschrieben.
„Auf dieses Spiel haben sie sich nicht eingelassen“
the little queer review: Wissen Sie denn, ob seitens der deutschen oder französischen Regierung die Frage an den Kreml gerichtet wurde, ob Putin sich im Gegenzug auch von Ärzten aus Deutschland oder Frankreich testen lassen würde?
Jens Siegert: Nein, auf dieses Spiel haben sich die beiden Regierungen nicht eingelassen. Die Deutschen profitierten dabei von Emmanuel Macrons Erfahrungen. Sie hatten einen deutschen Arzt an Bord, haben den Russen vorgeschlagen, dass ein russischer Arzt in die deutsche Regierungsmaschine kommen und dabei zusehen kann, wie sein deutscher Kollege Bundeskanzler Scholz den Test abnimmt, aber die Russen haben dieses Vorgehen abgelehnt.
Wir haben diesen Hergang nicht mit der Bundesregierung verifiziert, aber laut Korrespondentenberichten wurde dieser Hergang seitens Olaf Scholz so den deutschen und europäischen Korrespondentinnen und Korrespondenten geschildert. Und angesichts der Erfahrungen Deutschlands mit russischer oder sowjetischer Einflussnahme – die Guillaume-Affäre um Willy Brandt oder die Methoden des sowjetischen KGB bzw. seiner DDR-Schwester, der Staatssicherheit, sind vielen Menschen noch sehr präsent – dürfte es eine weise Entscheidung sein, die DNA des Bundeskanzlers nicht in die Obhut russischer Behörden gegeben zu haben.
the little queer review: Das Narrativ, dass Putin seine Entscheidungen zunehmend allein trifft, hat sich zuletzt auch in Deutschlands öffentlicher Debatte mehr und mehr durchgesetzt. Ist das Ihrer Einschätzung nach korrekt?
Jens Siegert: In der Tat ist diese Erklärung beliebt. Ich weiß aber nicht, ob das wirklich so ist und ich glaube auch, dass niemand oder nur wenige das mit Bestimmtheit sagen können. Vieles deutet darauf hin, dass er sich nur noch mit einem sehr engen Kreis an Personen berät und manche sagen, dass auch über seinen Einmarsch in der Ukraine so entschieden wurde. Das schränkt seine Entscheidungsfähigkeit ein, vor allem in Bezug darauf, gute Entscheidungen zu treffen. Aber letztlich ist das doch Spekulation.
„Bis vor drei Tagen hätte ich nicht mit einem Einmarsch gerechnet“
the little queer review: Wer muss denn als nächstes zittern?
Jens Siegert: Realistischerweise die baltischen Staaten.
the little queer review: Ja? Und das, obwohl es sich hier um NATO-Mitglieder handelt? Wird Putin diesen Schritt wagen?
Jens Siegert: Bis vor drei Tagen hätte ich nicht mit einem Einmarsch gerechnet und auch viele von Putins Getreuen vermutlich nicht. Bei Putin-Gegnern führt das dazu, dass sie sagen, er sei „verrückt“ oder ein „Kriegsverbrecher“ (ersteres würden wir nicht unterschreiben, letzteres ist spätestens seit der Debatte am Sonntagvormittag im Deutschen Bundestag wohl vorherrschende Meinung zumindest in der deutschen Öffentlichkeit – d. Red.). Aber die Menschen, die Putin im Prinzip in der politischen Analyse und seinen politischen Zielen zustimmen, nämlich dass Russland sich in einem hybriden, kalten oder lauwarmen Krieg mit der NATO und dem Westen befindet und dass die NATO Russland bedrohe, diese Menschen suchen noch immer nach Erklärungen für Putins Verhalten, die sie noch nicht gefunden haben. Solche Informationen zum Beispiel, die Putin hat, von denen sie aber nichts wissen, zum Beispiel geheimdienstliche Erkenntnisse. Wie gesagt, bis zur Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats am Montag war ich auch sicher, dass es keinen Einmarsch geben würde, weil ich es aus Putins Sicht für eine schlechte, vielleicht sogar die schlechteste, Alternative hielt.
Für genauso schlecht – vermutlich sogar noch schlechter – hielte ich eine Entscheidung, im Baltikum einzumarschieren. Dann aber hat Putin diese nur halb verdeckten Drohungen mit einem Atomschlag ausgesprochen. Dies hat er nicht kühl gemacht, es schien mir nicht wie eine wohlberechnete Aussage. Wenn man sieht, mit welchem Stolz er in den vergangenen Jahren neue, moderne Atomwaffen präsentierte, die denen der USA weit überlegen sind – einem Stolz, der hier übrigens von vielen geteilt wurde – ergibt sich für mich die Frage, wie realistisch er die Lage noch einschätzt.
Hinzu kommen Aussagen von NATO-Militärs, dass die baltischen Staaten für die NATO nicht zu verteidigen seien. Das hat geografische Gründe, denn während Russland zu allen drei Staaten lange Landgrenzen besitzt, ist die einzige Landgrenze mit der NATO die gerade einmal 65 Kilometer lange Suwalki-Lücke zwischen Litauen und Polen. Diese erstreckt sich von Belarus im Osten bis zur hochgerüsteten Oblast Kaliningrad im Westen.
„In der Politik rechnen Sie immer damit, dass Ihr Gegner rationale Entscheidungen trifft“
Während wir sprechen hat Litauen nach Estland, Lettland, Polen und der Tschechischen Republik gemeinsam mit Rumänien – seinen Luftraum für russische Flugzeuge geschlossen. Auch fast das gesamte restliche Europa folgte diesem Beispiel zwischenzeitlich. Die deutsche Bundesregierung hat überdies eine Kehrtwende angekündigt und Waffenlieferungen in die Ukraine zu leisten. Glücklicherweise scheint Wladimir Putin in diesen Maßnahmen bislang keinen casus belli zu sehen. Es ist zu hoffen, dass das so bleibt. Vielleicht muss er in der Tat einsehen, dass seine Drohungen diesseits der Suwalki-Lücke auf starken Widerstand stoßen.
Jens Siegert: In der Politik rechnen Sie immer damit, dass Ihr Gegner rationale, also für ihn gute Entscheidungen trifft. Das hat Putin bisher immer gemacht, 2014 ist ein gutes Beispiel hierfür. Es gab bereits Diskussionen über die Eroberung eines Landkorridors zur Krim. Das wurde gestoppt, da offensichtlich war, dass der Widerstand dagegen zu groß war. Auch die Begeisterung in der Ostukraine über die russischen Aktivitäten wurde damals überschätzt.
the little queer review: Wir hatten gedacht, dass er sich vielleicht zuerst den „leichteren“ weil bündnisfreien Zielen zuwenden könnte: Georgien, Republik Moldau.
Jens Siegert: Auch das ist möglich, aber natürlich viel Spekulation. Putin glaubt offenbar an die eigenen Bedrohungsszenarien. Er glaubt wohl an seine eigenen Narrative, beispielsweise dass er in der Ukraine einmarschieren müsse, um ein zweites 1941 zu verhindern. Wenn das stimmt, dann basiert diese Entscheidung eben doch auf einer gewissen Rationalität, denn die negativen Folgen, von denen wir dachten, dass sie eine solche Entscheidung unattraktiv machen, wären aus dieser Perspektive vernachlässigbar. Wenn es ums Überleben geht, dann ist es „egal“, ob er die gesamte Ukraine gegen sich aufbringt.
Russland-Versteher/innen vs. Russland-Verklärer/innen
the little queer review: Wir finden es immer schwierig, wenn „Russland-Versteherinnen oder -Versteher“ wie Gabriele Krone-Schmalz oder Hubert Seipel – dessen letztes Buch Putins Macht wir kürzlich kritisch eingeordnet haben– nun ihre unkritische Perspektive abgeben oder Putin und Russland gar verklären. Wir bevorzugen daher für solche Personen eher den Begriff des/der „Russland-Verklärer/in“.
Jens Siegert: Da bin ich immer sehr empfindlich, wenn jemand Gabriele Krone-Schmalz als „Russland-Versteherin“ bezeichnet. Ich kenne kaum jemanden, der weniger Ahnung von Russland hat als Frau Krone-Schmalz. Ich würde mich als „Russland-Versteher“ bezeichnen, auch eigentlich alle Korrespondentinnen und Korrespondenten in Moskau. Aber nicht diese Personen.
An dieser Stelle erneut der (unbezahlte) Hinweis auf Jens Siegerts Buch Im Prinzip Russland, das im vergangenen Jahr in der Edition Körber erschien und von dem wir bisher sehr angetan sind. Unsere Besprechung folgt in der kommenden Woche.
Im Anschluss sprachen wir über Sanktionen und das Swift-Abkommen, dessen Aussetzung zum Zeitpunkt des Interviews (fast nur) seitens Deutschlands noch abgelehnt wurde. Kurz darauf folgte jedoch die mittlerweile bekannte Kehrtwende der Bundesregierung in dieser Angelegenheit. Jens Siegert sah dieses Mittel jedoch bis dahin äußerst kritisch, da es eine Reihe von unerwünschten Nebeneffekten hätte, unter anderem die Abkopplung auch von in Russland aktiven NGOs und Hilfsorganisationen oder auch Oppositionellen, die besser nicht davon getroffen werden sollten. Wenn es aber darum gehe, einen fundamentalen Wandel in Russland zu erzeugen, müsse dieser aus dem Land selbst kommen, ähnlich der Perestroika Gorbatschows. Die Menschen, die diesen Wandel bewirken könnten, so Siegert, sollten nicht durch Sanktionen wie einen Ausschluss aus dem Swift-System beeinträchtigt werden. Die Perspektive vor allem der osteuropäischen und baltischen Staaten, dieses scharfe Schwert zu zücken, kann er aber durchaus nachvollziehen und ist daher in seiner Einschätzung gespalten.
„Es sollte der Eindruck vermieden werden, dass Deutschland sich wegduckt“
the little queer review: Die USA haben angekündigt, 350 Millionen Dollar an Militärhilfen für die Ukraine zu geben. Wir haben bisher nur ein paar Helme geschickt. Wie soll sich Deutschland verhalten? Bedarf es eines Zeichens der Bundesrepublik an die Ukraine?
Jens Siegert: Das ist ja die Argumentationslinie der Bundesregierung. „Wir helfen der Ukraine. Nicht mit Waffen, aber mit anderen Dingen – humanitäre Hilfe etc.“ Wenn Biden 350 Millionen Dollar schickt, sollten wir uns in einer ähnlichen Größenordnung bewegen, was die Unterstützung angeht. Auch wenn die USA größer sind als Deutschland, es sollte der Eindruck vermieden werden, dass die Deutschen sich wegducken. Denn ein „Oh-Oh, es könnte Schwierigkeiten für uns geben“ und im nächsten Urlaub nur zwei statt drei Wochen nach Italien fahren, das geht nicht. Ein Schritt, der gut ankam – im Baltikum, aber auch in Polen – war es, dass Nord Stream 2 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine sofort auf Halt gesetzt wurde und zwar bevor diese Forderung von Deutschlands Nachbarn wieder kam. Aber im nächsten Schritt hat es bereits wieder gehakt.
the little queer review: Herr Siegert, haben Sie vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Eindrücke. Passen Sie auf sich auf.
Nachtrag: Am Sonntag, den 27. Februar 2022, trat der Deutsche Bundestag erstmalig an einem Sonntag zu einer Sondersitzung zusammen. Dabei gab es stehende Ovationen für den auf der Besuchertribüne teilnehmenden ukrainischen Botschafter in der Bundesrepublik, Andrij Melnyk, und eine einmütige Verurteilung des russischen Angriffskriegs durch alle demokratischen Parteien. Die Bundesregierung hat außerdem weitreichende Maßnahmen angekündigt: eine deutliche Erhöhung des deutschen Wehretats – hiergegen hatten sich in den letzten Jahren und bis zuletzt viele gesträubt, auch und vor allem die Kanzlerpartei SPD) – sowie ein verfassungsrechtlich abgesichertes Sondervermögen für die Bundeswehr von 100 Milliarden Euro.
Außerdem will die Bundesregierung vor allem in der Klimapolitik neue Akzente setzen, sich von der Abhängigkeit von russischem Erdgas lösen und hat bereits Waffenlieferungen an die Ukraine auf den Weg gebracht. Von vielen Kommentatorinnen und Kommentatoren wird hier – vermutlich nicht zu Unrecht – ein Paradigmenwechsel in der deutschen Außenpolitik beobachtet. Es ist zu hoffen, dass die auf das Militär bezogenen Maßnahmen die abschreckende Wirkung zeigen, die sich die Bundesregierung wünscht. Und es ist auch zu wünschen, dass gerade die Maßnahmen zur Umstellung der Energieversorgung, die Akzeptanz in der deutschen Bevölkerung finden werden, die sie bisher nicht hatten. Hier dürften uns in den kommenden Jahren harte Debatten bevorstehen.
Das Gespräch führte the little queer review-Herausgeber Hans Siglbauer; Mitarbeit: AS
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