Was war das für eine Mitteilung, die Olaf Scholz am 27. Februar im Bundestag machte: 100 Milliarden Euro wollen er und seine Regierung für die Bundeswehr bereitstellen. Ein Sondervermögen, das im Grundgesetz verankert werden solle. Dazu Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, namentlich die von Wladimir Putins Armee angegriffene Ukraine. Deutschlands Außenpolitik stünde unter diesen Vorzeichen vor einer „Zeitenwende“ – ein schon heute wort-des-jahres-verdächtiger Begriff.
100 Milliarden und alle Versprechen versickern
Angesichts der Bilder aus der Ukraine scheint diese Ankündigung den Nerv der Zeit getroffen zu haben. Passiert ist seither fast nichts. Nun brauchen Grundgesetzänderungen ihre Zeit und 100 Milliarden sind trotz des bekannt schlechten Zustands der Ausrüstung der Bundeswehr nicht über Nacht verplant oder gar verausgabt. Aber dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass Scholz‘ Worte wohlfeil waren, aber irgendwo zwischen Spree, Alster und Dnjepr versickern.
Bereits in der Analyse des deutschen Verhaltens zum Krieg in Syrien stellten beispielsweise Sönke Neitzel und Bastian Matteo Scianna fest, dass Deutschlands Außenpolitik hohe und traurige Kontinuität und Konsistenz aufwies und sich am besten als „permanentes Wegducken“ charakterisieren lässt. Sechs Wochen nach Scholz‘ Ankündigungen hat sich die Bundesregierung wieder dem gepflegten Heraushalten verschrieben. Hierfür haben wir drei Beispiele:
Selenskyj verhallt
Beispiel 1: Wolodymyr Selenskyjs Rede vor dem Bundestag am 17. März: Der ukrainische Präsident wandte sich an das deutsche Parlament, bekam stehende Ovationen, wie auch sein Botschafter Andrij Melnyk in jener „Zeitenwende-Sitzung“ am 27. Februar. Nach Selenskyjs Rede passierte: nichts. Keine Debatte des Parlaments, keine Regierungserklärung, keine Aussprache. Die Worte des Präsidenten sollten „wirken“ hieß es. Gut, aber wirken würde bedeuten, dass sich das Parlament Zeit nähme zur Debatte (siehe oben) oder zur ruhigen Reflexion.
Es gab aber keine Sitzungsunterbrechung, keine Schweigeminute für die getöteten Menschen, keine ökumenische Andacht, keine Möglichkeit zum Gedenken. Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt machte im normalen Programm weiter, auch wenn ihr offenbar unbehaglich war. Ein Geschäftsordnungsantrag der CDU/CSU wurde abgelehnt. Und das Parlament ging unmittelbar dazu über, über die Impfpflicht zu debattieren. Das ist kein würdiger Umgang mit der Situation in der Ukraine, das ist keine Zeitenwende. Das ist schlicht und einfach Tagesordnung und die war an dieser Stelle unpassend.
Baerbock herauszitiert
Beispiel 2: Impfpflicht: Am 7. April war die grüne Außenministerin Annalena Baerbock in Brüssel beim NATO-Gipfel, der sich natürlich mit der Ukraine beschäftigte. Gleichzeitig fand in Berlin die zweite und umstrittene Debatte zur Impfpflicht statt. SPD-Kanzler Scholz beorderte Baerbock vorzeitig zurück nach Berlin, damit sie mit ihrer Stimme die koalitionsnahen Anträge stützen könne.
Diese Order wirft allerdings einige Fragen auf: Erstens handelte es sich nicht um einen Antrag der Bundesregierung, denn es ist ja bekannt, dass die Regierung keinen eigenen Entwurf vorlegen wollte, aus Sorge zu scheitern (was am Ende auch geschah). Ergo sollte Baerbock nicht den Antrag ihrer Regierung unterstützen, sondern einen aus der Mitte des Parlaments.
Baerbock musste also in ihrer Funktion als Abgeordnete antreten. Da stellen sich die Fragen, warum der SPD-Kanzler der Grünen-Abgeordneten eine solche Vorgabe machen kann (üblicherweise kommen solche Anwesenheitsbitten von der eigenen Fraktion, nicht einer anderen) und vor allem, welchen Stellenwert Scholz der Abstimmung mit den NATO-Partnern im Ukrainekrieg beimisst. Sie für eine einfache Abstimmung von diesem Termin abzuziehen, zeugt von Geringschätzung für die NATO und die Probleme der Ukraine. Zumal die eine Stimme der Abgeordneten Baerbock – und das war auch vorab abzusehen – nicht entscheidend war, denn alle Anträge scheiterten am Ende relativ deutlich.
Lambrecht verzögert
Beispiel 3: Waffenlieferungen: Wohl schon wenige Stunden nach Scholz‘ Ankündigung der Zeitenwende versandte das Rüstungsunternehmen Rheinmetall eine Liste mit in die Ukraine lieferbaren Waffen an das Verteidigungsministerium. Diese Liste lag dort nach Medienberichten wohl über Wochen unbearbeitet herum.
Klar, Rheinmetall wittert ein gutes Geschäft, das muss von der Bundesregierung kritisch geprüft werden. Aber sich nicht dazu zu äußern, Waffenlieferungen in dieser Situation so deutlich zu verschleppen und öffentlich einerseits zu behaupten, mehr ginge jetzt nicht mehr sowie dass ohnehin deutlich mehr geliefert würde als öffentlich bekannt wird (wie Verteidigungsministerin Christine Lambrecht es zuletzt tat), zeugt nicht von einer wahren Zeitenwende.
Übrigens haben sich seit Kriegsbeginn Staats- und Regierungschefs aus Polen, Slowenien, der Slowakei, Tschechien und zuletzt Österreich und dem Vereinigten Königreich gewagt, um Selenskyj die Solidarität zu demonstrieren – außerdem EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Aus Berlin sind solche Initiativen nicht ansatzweise zu erkennen, was auch eine Nachricht ist.
Die Zeitenwende fällt aus
Deutschlands Außenpolitik, so scheint es derzeit, hat sich nach dem Schock von Putins Einmarsch und hektisch angekündigter „Zeitenwende“ nicht verändert. Bereits nach dem Abzugsdebakel aus Afghanistan – übrigens auch von einem SPD-Mann namens Heiko Maas vergeigt – forderte ein gewisser Markus Söder, dass die außenpolitischen Analysefertigkeiten nach der Bundestagswahl gestärkt werden müssten. Nun ist die Union nach der Wahl nicht mehr Teil der Bundesregierung, aber im Prinzip forderte er also damals schon eine kleine „Zeitenwende“.
So wie jedoch die Bundesregierung unter Olaf Scholz derzeit in dieser Hinsicht agiert oder besser verharrt, kann weder von einer Zeitenwende oder auch nur von einer Zeitumstellung gesprochen werden. Genau wie die bei vielen Menschen so ärgerlich hingenommene Zeitumstellung scheint die deutsche Politik also weiter in dem bisherigen Zustand zu verharren – Abschaffung und Neujustierung: unmöglich.
HMS
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