Der demographische Kipppunkt

„Nur zwei Dinge auf dieser Welt sind uns sicher: Der Tod und die Steuer.“ Dieser Ausspruch, der wohl auf den Drucker, Verleger und Staatsmann, in dieser Funktion einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika, Benjamin Franklin, zurückgeht, darf auch in unsicheren Zeiten als unzweifelhaft gelten. Somit ist auch sicher, dass wir alle immer älter werden (jedenfalls bis zum Tod). In Deutschland werden wir nicht nur alle immer älter, sondern immer mehr Menschen werden immer älter — was erst einmal gut ist — doch immer weniger junge Menschen verlassen die Schulen, Universitäten und kommen in Lohn und Brot — was weniger gut ist. 

Ein Spahn, ihn zu überhören

Nun schlug kürzlich der vormalige Bundesgesundheitsminister im Kabinett Merkel IV, Unionsfraktionsvize Jens Spahn, im Tagesspiegel vor, das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung zu knüpfen: „Für jedes Jahr länger leben einen Monat später in Rente.“ Aber nein! Das geht natürlich nicht und das Argument, viele könnten gar nicht so lange arbeiten, wird ausgepackt. Dass dies aber auch schon jetzt gilt und diesem Rechnung getragen wird — egal. Der Mann, dessen Namen wir besser nicht sagen, machte einen Vorschlag. Ihn ob seiner erst einmal nicht von der Hand zu weisenden Vernunft auf Machbarkeit abzuklopfen und sachlich zu debattieren, kann gar nicht in Frage kommen.

Schon einmal wurde ein Einwand Spahns, der sich auf das Altern und die Rente bezog, weitestgehend ignoriert:

„Immer nur Umfragen, Umfragen, Umfragen. Lassen Sie uns doch mal lieber über die Inhalte reden. Über die Frage, was sind die wichtigen Themen für Deutschland, etwa für dieses älter werdende Land. Was bedeutet das für unsere soziale Sicherung? Wie bereiten wir uns darauf vor, dass in den dreißiger Jahren jedes Jahr doppelt so viele Menschen in Rente gehen, wie aus den Schulen in den Arbeitsmarkt nachkommen? Das sind viel, viel wichtigere Fragen, als ständig nur Umfragen.“ 

Jens Spahn, 2018; zitiert aus Stefan Schulz, Die Altenrepublik, S. 9, f.

So zitiert Stefan Schulz Jens Spahn gleich zu Beginn seines im Herbst 2022 bei Hoffmann und Campe erschienen Buches Die Altenrepublik — Wie der demographische Wandel unsere Zukunft gefährdet. Weiters stellt Schulz fest, dass Jens Spahns Rufe im Umfeld des Wahlkampfes um den CDU-Vorsitz des „ansonsten beliebigen Jahres 2018“ ungehört blieben und vor allem die CDU sich für eine Zukunft des Alters und Alterns entschied. Wie das ausging, wissen wir. 

„Willkommen in der Altenrepublik“

Nun legt der 1983 geborene Journalist, Autor und Podcaster Schulz mit seiner Altenrepublik jedoch keine Chronik der allmählichen, noch immer voranschreitenden Implosion der Unionspartei(en) vor (Robin Alexander hatte hier 2021 mit Machtverfall schon ein lesenswertes Teilzeugnis veröffentlicht), sondern setzt sich in sieben Kapiteln so engagiert wie sachkundig damit auseinander, was es bedeutet, dass unsere Gesellschaft älter wird und dass dieses Thema behänd Dekaden lang ignoriert wurde. 

Dabei verknüpft er in seinem zwar aufwühlenden, erstaunlicherweise aber auch sehr kurzweiligen Buch mit einiger Verve fundierte Studien, Langzeitbeobachtungen, Aussagen und Berichterstattung zum Thema, Berechnungen, bindet Stimmen von Personen ein, die sich dezidiert seit langem damit beschäftigen, wie etwa jene von Julia Friedrichs, stellt (rhetorische) Fragen und manche These auf, behandelt diese, auch unter Einbeziehung eigener Betrachtungen und öffnet einen weiten Raum für konstruktive Debatten und bringt zum Schluss manch einen Lösungsvorschlag und zielführenden Gedankenansatz ein. 

Als eine der zentralen Fragen des Buches darf wohl jene im vierten Kapitel, „Die Aufgabe der Politk“, gelten, die da lautet:  „[H]at die Demographie die Demokratie nicht schon längst schachmatt gesetzt?“ Ausgangspunkt der Frage ist eine weitere, nämlich jene der Partizipation aber auch der Wahrnehmung und der Verschiebung der Wähler*innenschaft (Stichwort: Medianalter). So kommt Stefan Schulz natürlich auch immer wieder auf einen Konflikt zwischen den Generationen (quasi träge alte Wähler*innen versus junge radikale Wähler*innen), der aber nicht zwangsläufig einen Zielkonflikt darstellen müsste. Dialog und so.

Realsatire und Barrieren

Ein Beispiel in diesem Zusammenhang ist so gruselig wie es satirisch wirkt (und hat doch nichts mit Silvester und Christine Lambrecht zu tun): Der Brexit. Hier zitiert Schulz Ermittlungen, die ergeben haben, dass die „Leave-Wähler, die das Zünglein an der Waage waren, […] lange vor der Umsetzung des Brexits gestorben“ sein werden. Dieses Beispiel allein sollte übrigens junge Menschen zum Wählen bewegen (2023 haben wir drei nicht so unwichtige reguläre Landtagswahlen in Bremen, Hessen und Bayern, plus, weil’s so schön war, die Wahlwiederholung in Berlin, so das Bundesverfassungsgericht das Berliner Urteil nicht kippt). 

In den sieben Kapiteln, die teils aufeinander aufbauen, durch gut gesetzte Querverweise und Quellenangaben aber auch separat gelesen werden können, blickt der Autor jedoch nicht nur auf das große Wort „Konflikt“, er ficht keinen Streit in Namen „aller“ aus, sondern schaut so intensiv auf Ursachen wie Möglichkeiten der Veränderung. Diese müssen natürlich gesehen werden wollen. Und gerade hier scheinen — ganz gleich ob bei den Babyboomern, den Millennials oder der Gen-Z — die Barrieren nicht selten arg hoch. Nicht unüberwindbar, aber windfest.

Markige Sätze ersetzen keine guten Ideen

Im Kapitel sechs „Das Leben der Jüngeren“ beschreibt Schulz etwa eine Unsicherheit in Bezug auf Jobsicherheit, überhaupt einer verlässlichen Verankerung im Leben vieler nach 1980 Geborener. Eine Unsicherheit, die ihnen gern als Sprunghaftigkeit ausgelegt wird, es aber selten ist. Care-Arbeit ist ein zu stark ignorierter Faktor, genau wie jener, dass Unternehmen und Arbeitgeber „weder Expertise noch Persönlichkeit sondern Lebenszeit“ einkauften — und die Politik sie weitestgehend machen lässt (Stichwort: „Erwerbspersonenpotenzial“).

Das ist übrigens ein weiteres Problem in der eingangs angesprochenen Debatte: Teile der Politik verlagern die Thematik, die sie zum Teil selbst durch ein fehlgeleitetes Anreizsystem im Sinne simpler Klientelpolitik geschaffen haben, einfach an die Unternehmen zurück. So wie SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil, der der Bild am Sonntag Ende Dezember sagte, dass „nicht das gesetzliche Renteneintrittsalter steigen [muss], sondern das tatsächliche.“

Sicherlich klingt es markig zu sagen, dass Firmen ihre älteren Angestellten nicht auf das Abstellgleis schieben sollten — wahr ist es allemal. Das spricht Schulz in seinem Buch genauso an. Ebenso ist es aber auch wahr, dass ein Hin- und Herverlagern von Verantwortung und Verantwortlichkeit so wenig zielführend wie des Themas würdig ist. Sichtbar debattiert werden also nicht die notwendigen, sondern die kurzfristig manche Kreise befriedigenden Themenbereiche. 

Das Erbe der Clans

Apropos Verlagerung — auch den sensiblen Punkt Erbschaft bringt Stefan Schulz an und macht sich hier die von bereits erwähnter Julia Friedrichs vorgeschlagene Bezeichnung der „Clans“ zu eigen, die die Wortwahl „reiche Familien“ ersetzen soll. Manch eine*r mag sich da auf die gucci-beschuhten Füße getreten fühlen, doch ist Folgendes nicht von der Hand zu weisen:

„Beim Thema Erben bleibt also die bereits gestellte Frage unbeantwortet: Wie haben wir es geschafft, politische Dynastien zu überwinden und Demokratien zu begründen, in denen jede Vererbung von Macht als illegal gilt, während wir gleichzeitig dasselbe Prinzip bei der wirtschaftlichen Macht unangetastet ließen?“

Stefan Schulz, Die Altenrepublik, S. 156

Ansätze, wie dieses Problem angegangen werden könnte, liefert Schulz durchaus, macht aber auch deutlich, dass es sich hierbei nur um eines von vielen handelt und wieder landen wir bei konstruktiver Auseinandersetzung und fehlender thematischer Differenzierung in der Debatte. Während die einen so tun, als würde eine Änderung des Erbschaftsrechts alle Probleme lösen, geben sich andere so, als würde dies unser Land in den Abgrund stürzen. Beides ist falsch, ist verkürzt, ist den Teilnehmenden aber oft egal. Einer ähnlichen Verhärtung begegnen wir sonst nur, wenn es um Einwanderung geht, die im Zusammenhang mit der Überalterung natürlich ein wesentlicher Baustein ist.

(Übrigens können selbst jene, die gern mehr von ihrem Erbe — das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schätzt, dass in Deutschland jährlich um die 400 Milliarden vererbt und verschenkt werden — abgeben würden, dies nur bedingt. Dabei geht es ihnen nicht um die Möglichkeit des Spendens, sondern eine Änderung der Besteuerung, eine gesamtgesellschaftliche Lösung und Wirkung und kein punktuelles Unterstützen. Engagiert sind sie in der Initiative taxmenow, die kürzlich in einem Portrait des Tagesspiegels über Yannick Haan vorgestellt wurde, ebenso begegnen wir darin der Österreicherin Marlene Engelhorn.)

Die Macht der Diskurssteuerung

Dass, dies noch als ein bald letzter Gedanke, sich, ob nun in der Politik, im Feuilleton, in Büchern oder Gesprächen im Familien- und Bekanntenkreis, vieles eher wie Grabenkämpfe gestaltet, liegt nicht nur daran, dass wir überhaupt alle ein wenig verbissener geworden zu sein scheinen, sondern auch am bereits angedeuteten Missverstehen der individuellen Ängste. Exemplarisch beschreibt Schulz das im hervorragenden, sehr analytischen und zugleich emphatischen zweiten Kapitel „Angst und Oxytocin“.

Die einen fürchten sich vor dem „Weltkrieg“ (früher die Atombombe, heute Waffen in die Ukraine und … wieder die Atombombe), der „Hyperinflation“, das sind Triggerworte. Es sind solche, die ablenken können. Denn dabei fällt unter anderem die finanzielle Unsicherheit im Alltag hinten ab, die Sorge vor Armut im Alter (eine, die uns übrigens generationenübergreifend verbinden könnte…), die Angst davor, dass das Geld am Monatsanfang schon nicht mehr reicht — an private Altersvorsorge ist hier gar nicht zu denken. Heute, also tagesaktuell, gilt dies umso mehr. Da jedoch viele der Diskussionen von „Professor*innen, Publizist*innen und Parlamentarier*innen“ geführt werden die „meist über ausreichend Kapital“ verfügen, geht es eben selten an diese Substanz; ebensowenig wird betrachtet, wie konkret marginalisierte Gruppen („weniger Gebildete, Nichtweiße und Frauen“) Krisen ausbaden.

Die Torheit des Alter(n)s?

So kommen wir wieder auf den Generationenkonflikt und befassen uns mit dem Trennenden, das hier und da gern von manchen hochgehalten wird. So etwa vom Journalisten Klaus Pokatzky, Jahrgang 1957, am 4. Oktober 2022 im Deutschlandfunk Kultur, der in einem Kommentar zur möglichen Wiedereinführung der Dienstpflicht so süffisant wie fehlgeleitet argumentiert, wie verbindend so etwas wirken könnte, dass es Perspektiven aufzeigen mag, …:

„[u]nd die anderen Zivis, die ihren Zivildienst beim Roten Kreuz oder in einem Krankenhaus, bei einer Jugendhilfe oder im Altenheim geleistet haben – was haben die im jungen Alter erfahren können, wie gut es tut, wenn wir etwas für andere Menschen tun können; wenn wir deren Dankbarkeit spüren?“

Er fabuliert unter Verkennung jedweden aktuellen Engagements junger Menschen „Bürgerstaat — statt Egoland!“, kombiniert das mit eigenen Erfahrungen seiner Zivildienstzeit „bei einer Einrichtung […], die gegen den damaligen südafrikanischen Apartheid-Rassismus gestritten hat.“ Übersieht dabei jedoch geflissentlich nicht nur, dass die Siebziger Jahre des vergangenen Jahrtausends eine wirtschaftlich wie auch zivilgesellschaftlich gänzlich andere Zeit waren als die 20er-Jahre dieses Jahrtausends, sondern auch, dass diese vermeintlich so unentschlossenen jungen Leute so unentschlossen gar nicht sein müssen (siehe oben) und vor allem, dass sie ihren Teil in den kommenden Dekaden so oder so an die Gesellschaft zurückgeben werden. Sie zahlen nämlich dafür und werden dies mehr und mehr und länger und länger tun müssen. Ist Geld also alles? Nein, sicherlich nicht. Aber ohne Geld keine Angebote, auf die wir diese ach so undankbaren und selbstbezogenen jungen Leute mit ihren Smartphones setzen könnten.

Pokatzky spielt also, und ich unterstelle einmal, dass er dies unbewusst tut, seine Erfahrungen von vor etwa fünfzig Jahren gegen eine nicht nur finanziell unsichere Zukunft jüngerer Generationen aus, dies mit dem Gedanken, es im Sinne der Demokratie zu tun. Womit wir wieder bei der Demographie versus Demokratie wären, denn am Ende werden kaum die Betroffenen befragt werden, und ebenso erneut beim intergenerationellen Missverstehen. 

Ständige Einladung

Wer möchte, kann sich nun aber dank des Buches von Stefan Schulz einen adäquaten Überblick über die Ursachen von Missverständnissen machen und einen über die derzeitige Ausgangslage verschaffen. Ebenso über den Punkt, an dem wir in dieser Demographie- (und im schlimmsten Fall bald Demokratie-)krise stehen, durchaus an einem Kipppunkt (übrigens macht der Autor auch deutlich, dass wir Klima UND Demographie behandeln können und müssen — bei beiden geht es um die Sicherung des Überlebens und der Zukunft). 

Die Altenrepublik sollte unbedingt breit gelesen werden, sie sollte beinahe Pflichtlektüre für all jene sein, die vorhaben, sich in den kommenden Tagen, Wochen, Monaten und Jahren zu diesem Thema zu äußern (vielleicht mal eine Großorder seitens des Präsidiums des Deutschen Bundestags?). Stefan Schulz argumentiert stark, weiß sich an den richtigen Stellen zurückzunehmen und die Fakten sprechen zu lassen und uns so zur Vertiefung einzelner Punkte einzuladen. Sein so vergleichsweise schmales wie essenzielles Buch darf gut und gern als Standardwerk betrachtet werden.

AS

PS: Im Kapitel „Angst und Oxytocin“ weist Stefan Schulz im Zusammenhang mit Einsamkeit auf den Dokumentarfilm „Die Macht der sanften Berührung“ von Dorothee Kaden hin. Der Film ist noch bis zum 4. Februar 2023 in der ARD-Mediathek zu finden und sei empfohlen. 

Anmerkung: In diesem Jahr werden wir uns immer wieder mit dieser Thematik auseinandersetzen — ob in Rezensionen, Interviews, Kommentaren und Gastbeiträgen sowie möglicherweise ein, zwei Podiumsdiskussionen. Die Besprechung zu „Die Altenrepublik“ darf quasi als Startschuss hierfür gelten. 

Stefan Schulz: Die Altenrepublik — Wie der demographische Wandel unsere Zukunft gefährdet; September 2022; 224 Seiten; Hardcover mit Schutzumschlag; ISBN 978-3-455-01468-6; Hoffmann und Campe; 23,00 €

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