Wenn das Sein nicht sein darf

ACHTUNG: Spoiler zum Verlauf der Geschichte. Unser Autor vergleicht zu dem an mancher Stelle Buchvorlage und Film.

Südfrankreich im Herbst. Die Blätter von Bäumen und Weinreben färben sich bunt, die Straßen sind leicht feucht, das Licht ein wenig gedämmt. Auch in Deutschland gibt es mehr als genügend Gegenden, die mit ihrem herbstlichen Charme aufwarten, aber der Süden Frankreichs hat dennoch seinen eigenen Zauber.

Dorthin, in das Dorf seiner Jugend, kommt der erfolgreiche Schriftsteller Stéphane (Guillaume de Tonquédec) zum ersten Mal seit 35 Jahren. Er soll eine Festrede zum 200-jährigen Bestehen der Gemeinde halten und zu diesem Anlass gleich eine Lesung in der alten Heimat abhalten. Organisiert wird das alles von einem örtlichen Heimat- oder Literaturverein um Monsieur Dejean (Pierre-Alain Chapuis) und seine Frau (Laurence Pierre).

Väter, Söhne, Freunde

Treibende Kraft hinter alldem jedoch ist der junge Lucas (Victor Belmondo), der etwa so alt ist, wie Stéphane seine Heimat nicht gesehen hat. Lucas kümmert sich vorgeblich um eine Gruppe von Amerikanern, die an dem Cognac interessiert sind, den er ihnen präsentiert. Seine eigentliche Agenda jedoch zielt auf den Schriftsteller, der glatt sein Vater sein könnte.

Eine Jugendliebe, die verheimlicht werden musste: Thomas Andrieu (Julien de Saint Jean) und Stéphane Belcourt (Jérémy Gillet) // © TS Productions/24 Bilder

Vater ist das entscheidende Stichwort: Lucas‘ Vater nämlich ist letztes Jahr verstorben und das wiederum trifft Stéphane sehr hart, denn Thomas – so hieß der Vater – war Stéphanes erster Freund oder zumindest Geliebter. So die Gemengelage von Hör auf zu lügen, dem Film von Regisseur Olivier Peyon (im Kino ab dem 16. November 2023), der gemeinsam mit Vincent Poymiro auch das Drehbuch für diesen Film verfasst hat. Die Vorlage für diese Verfilmung bildet das gleichnamige Buch von Philippe Besson, das (in der Übersetzung von Hans Pleschinski) bei uns vor drei Jahren sehr großen Anklang fand.

Eine Liebe, die (nicht) sein soll

Stéphane, der in der an autofiktionalen Elementen reichen Vorlage Philippe heißt, leidet seit zwei Jahren unter einer Art Schreibblockade, denn „ein Geist“ der Vergangenheit scheint ihn nicht loszulassen. Die Reise in die alte Heimat soll daher helfen, diese Blockade zu überwinden. Dass er auf Lucas treffen wird, ahnt er nicht, ist sich aber sehr schnell bewusst, wer da vor ihm steht.

Lucas Andrieu (Victor Belmondo) trifft erstmals auf Stéphane Belcourt (Guillaume de Tonquédec), die erste große Liebe seines Vaters Thomas // © TS Productions/24 Bilder

Die Vergangenheit und seine Enttäuschung brechen aus Stéphane heraus oder vielmehr über ihn herein. Während der etwa fünfzigjährige Schriftsteller in sympathischer Desorientierung von der Agentin Gaëlle Flamand (Guilaine Londez) eher leidlich von Termin zu Termin bugsiert wird, sucht und fügt Stéphane nach und nach die Puzzlestücke seiner Vergangenheit zusammen.

Sein und Nichtsein

Wir bekommen dies in Rückblenden präsentiert, die uns in das Frankreich Mitte der 1980er-Jahre nehmen und fühlen uns nicht nur ob der Zeit immer wieder an François OzonSommer ’85 erinnert. Stéphane (jetzt: Jérémy Gillet) und Thomas (Julien de Saint Jean), beide etwa 17 Jahre, kurz vor dem Abitur, lernen einander gerade kennen und gerade in Thomas zeigt sich, was in Bessons Romanvorlage so tragisch aufgearbeitet wird: Er kann nicht zu sich und seiner Homosexualität, seinem Angezogensein von Männern, stehen.

Die Freiheit eines Sommers: Thomas Andrieu (Julien de Saint Jean) und Stéphane Belcourt (Jérémy Gillet) // © TS Productions/24 Bilder

Stéphane, das ist Thomas und auch uns offenbar, ist anders, belesen, und er würde seinen Weg machen – der ihn weg aus dem kleinen und beengten Dorf führen würde. Thomas hingegen – eindrucksvoll gespielt von Julien de Saint Jean – weiß, dass sein Sein nicht sein darf, zumindest will er es nicht zulassen. Sowohl er als auch Jérémy Gillet, der Darsteller des jungen Stéphane, machen ihre Sache hier sehr überzeugend.

Nur ein Foto

Da passt es gut ins Bild, dass die Filmemacher um Olivier Peyon sich zwar inhaltlich recht eng an Bessons Romanvorlage halten, aber doch an einigen Stellen manches Detail verändern. Was im Buch beispielsweise der Bolzplatz, ist hier ein altes und verlassenes Schwimmbad (das 35 Jahre später übrigens auch nicht weiter in die Jahre gekommen, sondern immer im gleichen Abnutzungszustand erscheint) sowie eine malerische Berglagune, die Stéphane und Thomas als Rückzugsort dient.

Lucas Andrieu (Victor Belmondo) und Stéphane Belcourt (Guillaume de Tonquédec) // © TS Productions/24 Bilder

Gerade in der Lagune gibt es aber eine entscheidende Szene zwischen dem älteren Schriftsteller und dem Sohn von Thomas, die ein wichtiger Wendepunkt in der Geschichte sein soll. Und auch die Agentin Gaëlle, die mir aus dem Buch nicht in Erinnerung ist, wirkt herrlich verplant und doch als ordnendes Element oder „Pufferzone“ für Stéphane wie auch in der eher komplexen Beziehung zwischen ihm und Lucas.

Abschied?

Die Verfilmung von Hör auf zu lügen ist somit eine spannende und einfühlsame Erzählung vom Erwachsenwerden auf dem französischen Land, der Suche nach der eigenen Identität und auch manch einem traurigen oder vielmehr verwehrten Abschied. Es ist schwer, sein ganzes Leben lang nicht zu sich und seiner Sexualität stehen zu können, sei es aus mangelndem Mut, einem toxischen oder zumindest arg konservativen Umfeld oder aus sonstigen Gründen.

Der Trailer zum Film

Olivier Peyon und sein Team haben die Geschichte von Philippe Besson sehr einfühlsam und unaufgeregt inszeniert, dabei schöne Bilder produziert und bereiten uns gerade in den kühler werdenden Herbsttagen viel Freude und ein wenig Wärme im Herzen. Die passgenau ausgewählten Darstellerinnen und Darsteller verkörpern ihre Rollen so gut, dass dieser Film wohl mindestens als Geheimtipp dieses Herbstes gelten kann.

HMS

PS: Auf Instagram findet ihr ein Gewinnspiel zu Film und Buch.

Hör auf zü lügen ist ab dem 16. November 2023 in unseren Kinos zu sehen.

Hör auf zu lügen; Frankreich 2023; Buch & Regie: Olivier Peyon, basierend auf dem gleinchnamigen Roman von Philippe Besson; Kamera: Martin Rit; Musik: Bravinsan, Thylacine; Darsteller*innen: Guillaume de Tonquédec, Victor Belmondo, Guilaine Londez, Jérémy Gillet, Julien de Saint Jean, Pierre-Alain Chapuis, Laurence Pierre, u. v. m.; Laufzeit ca. 98 Minuten; FSK: 12; Kinostart 16. November 2023

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert