„Ihr Antrieb war die Liebe“

Beinahe ist es ein Meilenstein. Das Ergebnis von langer Arbeit, einem ewigen Vor und Zurück. Heute am 27. Januar 2023, der Tag an dem sich zum 78. Mal die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee jährt, und im Deutschen Bundestag nunmehr beinahe traditionell und zum mittlerweile 27. Mal dieser Tag mit einer Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus begangen wird, wurde erstmalig der Personen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung wurden, gedacht. 

Die Schauspielerin Maren Kroymann trug anlässlich dessen die Biografie der lesbischen Jüdin Mary Pünjer (1904-1942) vor. Geboren wurde diese in eine Hamburger Kaufmannsfamilie, sie heiratete und wurde im Jahr 1940 unter dem Vorwand der „Asozialität“ als „Lesbierin“ verhaftet. Interniert wurde sie im Konzentrationslager Ravensbrück, wo sie 1942 für die Mordaktion „Aktion 14f13“ selektiert und im Frühjahr desselben Jahres in der „Euthanasie“-Anstalt Bernburg an der Saale ermordet wurde.

„Ich warte auf dich, …“

Nicht als „Lesbierinnen“ interniert waren die belgische Opernsängerin Nelly Mouset-Vos, geboren 1906 in Brüssel, und die chinesische Widerstandskämpferin Nadine Hwang, geboren 1902 in Madrid, Spanien. Beide lernen sich an Heiligabend 1944 im Konzentrationslager Ravensbrück kennen — und schnell lieben. Doch bereits nach zwei Monaten, als Nelly ins das KZ Mauthausen geschickt wird, werden sie getrennt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung kommt Nelly wieder bei ihrer Familie in Brüssel, Nadine hingegen in einem Befreiungslager in Malmö, Schweden, an. 

Nadine Hwang mit anderen Überlebenden, die am 28. April 1945 in Malmö ankamen // Fotograf: Nils A. Blanck; © Auto Images/Rise and Shine Cinema

Doch bereits 1946 finden sie einander wieder und beschließen, ihr Leben fortan gemeinsam als Paar zu verbringen. Wenn auch beinahe in aller Heimlichkeit. Nur der engste Freundeskreis, nicht aber die Familien, wussten von der Beziehung. Vor einigen Jahren regte der Regisseur Magnus Gertten die zurückhaltende Enkelin Nellys, Sylvie Bianchi, dazu an, das verborgene Privatarchiv ihrer Großmutter und deren Partnerin, das jahrelang auf dem Dachboden lagerte, zu öffnen…

„…als seist du verreist“

Festgehalten ist das, was sie darin entdeckt, in dem auf der Berlinale 2022 mit dem TEDDY Award ausgezeichneten Dokumentarfilm Nelly & Nadine, der nicht nur die Geschichte dieser beiden beeindruckenden und anmütigen Frauen nachzeichnet, sondern ebenso ein liebevolles und aufrichtiges Portrait von Machtlosigkeit und Widerstand, Resilienz und Würde ist. Zusätzlich weiß der Film von Homo- und Menschenfeindlichkeit auch über die NS-Zeit hinaus zu erzählen.

Nadine und Nelly // Aus dem Familienarchiv Mousset-Vos; © Auto Images/Rise and Shine Cinema

Ebenso geht es immer wieder um den Widerstand in der Zeit des Nationalsozialismus — schließlich brachte dieser die beiden Frauen nach Ravensbrück und letztlich zusammen. Nelly war in Paris Teil des Widerstandsnetzwerks „Luc“ und Nadine, Tochter eines chinesischen Diplomaten, war höchstwahrscheinlich in Widerstandsaktivitäten in Saint-Jean-de-Luz nahe der spanischen Grenze involviert. Auch dieses Thema ist also präsent. Ebenso die Zeit der beiden Frauen in ihrem „ersten Leben“. 

Mal fasziniert und angezogen, mal irritiert und widerwillig

Es sind teils eindrückliche, oft berührende, seltene und historisch durchaus relevante (wenn wir etwa Aufnahmen von Nadine und ihrer Chefin und zeitweisen Geliebten Nathalie Clifford Barney sehen) Bilder, Ton- und Filmaufnahmen, die uns Regisseur Magnus Gertten hier mitgibt. Nicht minder beeindruckend ist auch, wie nahe er — und damit wir — der Enkelin Sylvie Bianchi kommt, die mal fasziniert und angezogen, mal irritiert und widerwillig wirkt. Es scheint ein Ringen. Auch darum, wie viel von der lange verheimlichten und ihr doch nicht gänzlich unbekannten Vergangenheit ihrer Großmutter sie erfahren möchte. 

Sylvie Bianchi auf dem Dachboden // Fotografin: Caroline Troedson; © Auto Images/Rise and Shine Cinema

Über das Leben von Nelly, die am 4. Februar 1987 in Brüssel stirbt, und Nadine, die nach Krankheit am 16. Februar 1972 aus dem Leben geht, erfahren wir aber auch dank der Stimmen von Joan Schenker, einer 2021 verstorbenen US-amerikanischen Literaturbiografin, José Rafael Lovera, einem engen Freund des Paares, sowie Irene Krausz-Fainman, die als Kind gemeinsam mit ihrer Mutter ebenfalls in Ravensbrück interniert war und wohl auch dank der Hilfe von Nadine, die dort gut vernetzt gewesen ist, in einen der Busse des Schwedischen Roten Kreuzes gelangte.

Wichtiger Beitrag zur Vermittlung queerer Geschichte

Mit alldem leistet die Dokumentation auch einen wichtigen und wesentlichen Beitrag zur Erforschung und Vermittlung queerer und hier insbesondere lesbischer Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus. Sie lädt die Zuschauer*innen nicht nur dazu ein, sich auf Nelly und Nadine und ihre Geschichte einzulassen, vielleicht mehr erfahren zu wollen, sondern auch dazu, sich mit der Geschichte französischer Antikriegs-Revolutionärinnen zu befassen. So meinte es wohl auch die TEDDY-Jury, in deren Begründung es heißt: „Dieser Film veranschaulicht die Notwendigkeit queerer Geschichte und eines queeren kollektiven Gedächtnisses des Zweiten Weltkriegs, während er gleichzeitig den vergessenen Opfern und Überlebenden des Holocausts die längst nötige Anerkennung zuteilwerden lässt.“

In angenehmsten Kreisen: Nadine Hwang (links) und Nelly Mousset-Vos (rechts)// Aus dem Familienarchiv Mousset-Vos; © Auto Images/Rise and Shine Cinema

So düster das eigentliche Thema des Films, so voller Liebe und Authentizität ist Nelly & Nadine. Wobei nur der Aufhänger ist traurig — am Ende sind die Themen Widerstand und Liebe. Da macht es uns beinahe auch nichts, dass es im letzten Drittel aufgrund vieler Wiederholungen ein wenig schleppend vorangeht und der Informationswert eher sinkt. Womöglich wollte Gertten sich nicht so recht von seinen beiden Protagonistinnen verabschieden und das können wir durchaus verstehen.

AS, Mitarbeit HMS

PS: Eine sehr eindrucksvolle Erinnerung bot die Gedenkstätte Ravensbrück übrigens im vergangenen Sommer, als eine Reihe von Schicksalen der weiblichen Häftlinge in einer deutsch-französischen Ausstellung Aufmerksamkeit erfuhr. Auch die Geschichte von Nelly und Nadine war dort auf einer der Ausstellungsflächen für die Besucherinnen und Besucher zu finden, ebenso wie das Schicksal und Leid so vieler anderer Frauen, die nicht dem „arischen Ideal“ zu entsprechen schienen. Dass die Gedenkstätte ohnehin immer einen Besuch lohnt, muss wohl nicht hinzugefügt werden.

PPS: Ebenso sei in diesem Zusammenhang auf das Buch Dem Tod davongelaufen von Suszanne Maudet hingewiesen, das im Verlag Assoziation A erschienen ist, der im vergangenen Jahr für den Berliner Verlagspreis nominiert war. Unsere Besprechung des Buches, das uns in einem Gespräch mit dem Verleger Rainer Wendling, u. a. auch über diesen Film und die Ausstellung, auf der Frankfurter Buchmesse quasi zufällig in die Hände fiel, folgt selbstverständlich.

Nelly & Nadine ist seit dem 24. November 2022 in den Kinos.

Nelly & Nadine; Schweden, Belgien, Norwegen 2022; Regie: Magnus Gertten; Produzent: Ove Rishøj Jensen; Kamera: Caroline Troedson; Mitwirkende: Sylvie Bianchi, Christian (Partner von Sylvie), Anne Bianchi, Joan Schenker, José Rafael Lover, Alexandra Lovera, Irene Krausz-Fainman, Ronit Nadine Frenkel, Anne Coesens (als Stimme von Nelly), Bwanga Pilipili (Stimme von Nadine); Laufzeit ca. 92 Minuten

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert