„Die wahren Paradiese sind die Paradiese, die man verloren hat.“
Marcel Proust
Mit diesen durchdringenden Worten des großen Schriftstellers Marcel Proust öffnet der opulente Bildband Temps Perdu — Reise zu Frankreichs vergessenen Orten uns sein Tor, seine Pforte, seine Tür. Das Zitat steht, wie könnte es anders sein, unter der Fotografie eines Fensters mit heruntergelassenen Holz-Jalousien; in das Haus, das längst verlorenen und womöglich dem Vergessen anheimgefallenen Zeiten entstammt, hat sich die Natur bereits ihren Weg gebahnt und doch steht etwas anderes im Fokus des Bildes: Ein aufgeschlagenes Buch.
„Ist es auch wirklich unbewohnt?“
Aufgenommen haben das Bild, das wir auf leicht meliertem, champagnerfarbenem Papier abgedruckt sehen, in einem alten Château die Fotografen Stefan Hefele und Felix Röser, die als Architektur– und Landschafts– sowie Werbefotografen arbeiten; Röser ist zudem noch als Autor unterwegs. So können wir davon ausgehen, dass die spärlich gesäten, aber umso intensiveren Texte, die die zehn Kapitel und den Band einleiten sowie die Bildunterschriften von ihm und der dritten im Bunde, Hilke Maunder, die seit gut zwanzig aus und über Frankreich berichtet, stammen.
Schon die zauberhaft verwunschen wirkenden, vollformatigen Fotografien der ersten sieben Doppelseiten (unterbrochen von einer einseitigen Fotografie, neben der wir das Inhaltsverzeichnis finden) vermögen uns in ihren Bann zu ziehen. Wir entdecken ein altes Weingut, einen beinahe wie ein Kunstwerk in ein blaues Zimmer drapierten Stuhl („Vergängliches schafft Überraschendes“ heißt es dazu), den Eingangsbereich einer alten Therme, den letzten Kaffee und das letzte Glas Wein oder eine Garderobe, die zwar angestaubt ist, und doch den Eindruck vermittelt, die Bewohner*innen kämmen sogleich von einem Ausflug zurück.
Diese Verknüpfung von Außen und Innen, von Charme und Vergänglichkeit, von Zurückgelassenem und Wiederentdecktem, von Menschgemachtem und Natur, ist es, was den im Frederking & Thaler erschienen, mit 29,3 x 37,6 Zentimetern sehr großformatigen, 290 Seiten dicken und 3,5 Kilogramm gewichtigen Prachtband Temps Perdu auszeichnet. Es sind „Nicht-Orte, die sich in Frankreich einmal quer durchs Land ziehen“, wie es im Vorwort heißt. Eine „Diagonale der Leere“, die fernab von Paris, das ländliche Frankreich präge, sei es. Weniger als dreißig Einwohner pro Quadratkilometer lebten „in den Dörfern der ‚Diagonale du Vide‘. Vom Alter gezeichnet die Städte. Landflucht und Urbanisierung haben sie seit dem 19. und 20. Jahrhundert geprägt.“
„Ein Umdenken und eine Neubewertung“
Wir finden in diesem Band somit nicht nur gefühlsbetonte Bilder, die „uns die empfindliche Verletzlichkeit und einzigartige Bedeutung der Natur näherbringen“ und Natur, die sich „in den urbanen Bereich zurückkämpft“, wie es Fotograf Hefele so schätzt, sondern ebenso eine Geschichte von Entwicklung und ihrer Kehrseite. Von Entwurzelung durch Industrialisierung, von ganz heutigen Problemen einer nahezu entvölkerten Region — eines das kaum bewältigt werden konnte. Doch auch hier hat, ironischerweise, eine der schlimmsten Pandemien seit jeher geholfen: Corona.
Wie auch in anderen Ländern entdeckten die Menschen das Land und das Leben auf dem Land (fürs Erste) wieder für sich. Die Fotografen und Autor*innen nehmen uns mit in die Geschichte dieser Gebiete, dieser Orte („mehr als hundert Orte in drei Jahren“ besuchten sie, wie es im Nachwort heißt). Auch dahin, welche Bedeutung sie für Kunst und Kultur hatten und haben. Wir werden in Temps Perdu also nicht einfach vor die Fotografien geworfen, sondern bekommen, womöglich nach einem ersten, mal verzückten, mal verschrockenen, Betrachten der hochwertigen Fotografien, vermittelt, wieso diese Orte leer stehen. Und doch noch existieren. Die geneigten Betrachter*innen sind somit eingeladen auch in Textform in die Geschichte zu reisen. Die Fotografien somit noch ein wenig erlebbarer zu machen.
Im ersten Kapitel geht es um „Landflucht und Höfesterben“. Hier sehen wir unter anderem das kleine Dorf Courbefy im Département Vienne, das nach dem Tod des südkoreanischen Geschäftsmannes, der es aufgekauft hatte, brachliegt und verfällt. Oder das verlassene Dorf Bonette, das am Col de la Bonette auf 2715 Metern Höhe liegt und durch Schneefall oft monatelang nicht erreichbar ist. Oder ein Dorf inmitten bewaldeter Hügel — zurecht mit „beinahe märchenhaft“ beschrieben.
„Eine Linie der Einsamkeit, …“
Nicht alles ist märchenhaft. Davon zeugt das so ausführliche wie vielfältige und faszinierende Kapitel „Les Friches — Zeugen des Industriezeitalters“. Ein Kapitel zu Industriebrachen, das „mit den Stümpfen ihrer Architektur von verblichenen Träumen erzählt.“ Und davon, wie gefährlich es für die Fotografen Hefele und Röser nicht selten gewesen sein muss, aus dem Inneren alter Kohlekraftwerke, E-Werke oder Papierfabriken zu fotografieren. Allein manch Außenaufnahme sieht nach Risiko aus.
Beides gilt allerdings für viele der so genannten Lost Places — morsche Dielen, wackelige Türen, herunterfallender Schutt. Was verfällt und von der Natur rückerobert wird, ist eben so magisch wie gefährlich. Kurz mag mensch sich fragen: Warum? Leidenschaft ist gut, aber Gefahr bleibt Gefahr. Dann entdecken wir dieses Zitat neben einer Fotografie aus einem Kohlekraftwerk:
„Als wir diesen Leviathan aus Stahl und Ziegelwänden betreten, schlägt uns Rabenschwärze und Rostgeruch entgegen. Beides lässt uns erahnen, dass ein falscher Schritt hier böse Folgen haben kann. Mit dem ersten Licht des Tages weicht die Dunkelheit einem faszinierenden Blick auf acht Stockwerke voller Überraschungen.“
Stefan Hefele, Felix Röser
Und seien wir mal ehrlich: Wer von uns ist nicht irgendwie von diesen Dingen angezogen? Würde gern einmal all die Geheimnisse von Ruinen oder abgesperrter, alter Wohnanlagen auskundschaften? Anders lässt sich auch der — durch den unverzeihlichen Angriffskriegs Putins auf die Ukraine zum Erliegen gekommene — Horror-Tourismus nach Tschernobyl nicht erklären. Verlassenes, Verfallendes, Verbotenes — es übt einen ganz besonderen Reiz aus. Durch die Seiten von Temps Perdu zu blättern, löst im Rezensenten in jedem Fall aufs Neue das Verlangen aus, in manch einen Ort, manch ein Bild zu springen. Manch eine Anlage retten zu wollen.
„…die an allen Orten die Welt durchquert“
In den Kapiteln „Mon Dieu! — Die Staatsmacht und die Kirche“ und „La Paix — Kriegsrelikte mahnen zum Frieden“, finden sich Bilder die von Macht, Größe(nwahn), Stärke und Zerstörungswut sowie Kriegslust durch Ausbreitungswillen berichten (ja, das gilt auch und vor allem für die Institution Kirche #isso). Dann wieder solche, die in dem teils unheimlichen Pomp Intimität und Ruhe, ja beinahe Gemütlichkeit zu vermitteln vermögen. Es ist somit auch die Zusammenstellung der ausgewählten Fotografien, die nicht nur einem Motivgedanken folgen, unbedingt hervorzuheben.
Neben Kirchen und Kapellen, leeren Bibliotheken und zurückgelassenen Kunstwerken, alten Schiffen und Bunkeranlagen auch in Nervenheilanstalten und derlei zu blicken und die Frage gestellt zu bekommen: „Der Rollstuhl im Licht — Heilung oder Tod?“, das macht etwas mit uns. Dieser Effekt ist ein weiterer Punkt, der Temps Perdu — Reise zu Frankreichs vergessenen Orten von vielen anderen Lost Places-Fotobänden wie überhaupt vielen zu Architektur- und Landschaftsfotografie abhebt.
Nach einem Kurzausflug in die Schule geht es nun in die Schlösser und Parks. Ein Kapitel, das allein dadurch beeindruckt, dass manch Royales — so sehr wir vieles nach außen verurteilen mögen — eben doch Eindruck schindet und für uns „Bürgerliche“ immer mit einem etwas abstrusen Zauber versehen scheint. Auch hier lohnt sich die Einleitung sehr, denn wir erfahren, wie und wieso sich die Bauarten der Fünfundvierzigtausend (!) châteaux, die es in Frankreich geben soll, über die Zeiten verändert haben.
„Abweisend nach außen, intim im Inneren“
Die Fotografien auf den folgenden Seiten — mit denen wir auf Häuser, Gärten und Höfe, Terrassen und Balkone, in ausladende Entrees und weite Flure, intime Räume und stille Dachböden, vollgedrängte Leseräume und ausstaffierte Salons von Royalisten katholischen Glaubens, in Kuppeln und hinter düstere Vorhänge blicken — sind nichts anderes als beeindruckend, umwerfend, famos und nachhallend. Dann wiederum gilt das für gut 95 Prozent des Bandes (manche Fotografien wirken ein wenig „lost“ platziert, um mal in diesem Duktus zu bleiben, und hie und da scheint eine Bildunterschrift verrutscht; dabei handelt es sich aber um absolute Einzelfälle).
Gefolgt wird dieses Highlight von „Privée! — Das Glück liegt im Verborgenen“, denn: „Privater Grund und Boden sind den Franzosen heilig.“ Oder anders — und sehr herrlich: „Während eine Fahrt mit der Hamburger Hochbahn tiefe Einblicke in die norddeutsche Wohnkultur gewinnen lässt, bleibt in Paris der Blick an schweren Vorhängen haften.“ Das ist in „la France profonde“ nicht viel anders, wo sich hinter hohen Hecken und Mauern oder/und inmitten von Wäldern Privatanwesen finden.
Auch hier stoßen wir neben einer reichen Vielfalt bildlicher Eindrücke wieder auf Hinweise für Kunst und Literatur. Obschon auch hier viel grandeur zu sehen ist, wirken die abgelichteten Räume ungleich intimer. Wenn wir etwa in einem Raum Beinprothesen aus Holz vorfinden, die auf das Gemetzel des Ersten Weltkrieges hinweisen. Oder in einem anderen eine Zeitung vom 17. Oktober 1979, die an einen politischen Skandal der damaligen Zeit zu erinnern weiß. Oder einen Plattenspieler mitsamt Platten. Dann wieder ein altes Esszimmer, an dessen Wände Street-Art-Künstler*innen Zitate von Victor Hugo, Albert Camus und Paul Éluard geschrieben haben.
„Jeder dieser Orte hat für uns eine besondere Bedeutung“
Die beiden das Buch beschließenden Kapitel setzen sich mit der Heilkraft des Wassers — also Thermen — sowie dem Urlaubswillen der Franzosen auseinander. Wir erfahren, dass das erste „Zentrum für Warmbäder“ Frankreichs 1824 von der „Herzogin von Berry und unerschrockenen Schwimmerin“ Marie Caroline eröffnet wurde.
Blicken in Eingangsbereiche, überdachte Innenhöfe, die in die besseren Verfilmungen von Hercule Poirot-Geschichten passen würden (jaja, der ist Belgier), Warteräume, Zimmer und Empfangsräume ehemaliger Wellness-Hotels sowie auf manch gescheiterten Traum, leere Hallenbänder und vergessene Wasserrutschen, gar auf Marmorwaschbecken und finden Kataris. Was für ein Übergang zum Urlaub, hm?
Auch dieses Kapitel weiß zu gefallen, wenn es auch ein wenig wie ein Photo-Drop anmutet, um noch manches Bild unterzubringen. Dennoch verfehlt ein alter Schiffsfriedhof an der Atlantikküste ebensowenig seine Wirkung wie ein abgestürzter Wasserturm. Zusätzlich ist das Kapitel im Sinne der aktuellen Debatte um die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre in Frankreich spannend. Wir Deutsche, die Urlaubs-Und-Feiertags-Dauer-Weltmeister sind, haben natürlich gut reden, wenn wir ein wenig naserümpfend auf Länder blicken, in denen die Wochenarbeitszeit gern höher und die Jahres-Urlaubszeit gern kürzer ausfällt (zumal „wir“ selber, vor allem im Öffentlichen Dienst, nicht ungern und unregelmäßig streiken und uns eben erst über eine üppige Rentenerhöhung freuen konnten. Beides wohl zulasten jener Generationen Y und Z, die perspektivisch bis Mitte siebzig+ arbeiten werden dürfen).
Womöglich trägt der sagenhafte Foto-Bildband Temps Perdu ja dazu bei, dass wir Frankreich, seine Leute, die Mentalität und Geschichte nochmal ein wenig anders und besser, eben aus einem anderem Blickwinkel kennenlernen. Gerade im Jahr 2023 — einhundert Jahre nach der Ruhrbesetzung durch die Franzosen. Es gibt gute Gründe für eine deutsch-französische Freundschaft, eine Verzahnung unserer Länder in vielen Dingen. Ein wenig Faszination kann da nicht schaden.
In diesem Sinne wollen wir, nachdem wir mit Marcel Proust begannen, nun mit den Worten die die Jury des Prix Goncourt für den Preisträger aus dem Jahre 1904, den Bauern und Schriftsteller Émile Guillaumin, fand schließen. Diese wird in Temps Perdu wie folgt zitiert: „Ohne kostspielige Wünsche. Ohne Verlangen. Einfach sein Leben leben. Und das unbedingt!“
AS
Stefan Hefele, Felix Röser, Hilke Maunder: Temps Perdu — Reise zu Frankreichs vergessenen Orten; November 2022; Hardcover, gebunden, Surbalin, Folienprägung; 288 Seiten mit ca. 180 großformatigen Fotografien; Format: 29,3 x 37,6 cm; Texte in deutscher Sprache; ISBN 978-3-95416-362-5; Frederking & Thaler; 118,00 €
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