Wir haben doch keine Zeit

Diese einem völlig unbekannten Lied entnommene und leicht abgewandelte Frage, mögen sich nicht wenige gestellt haben, als in Ungarn im Frühjahr 2021 von Viktor Orbán und seiner Regierungspartei Fidesz ein homo- und menschenfeindliches Gesetz verabschiedet wurde, das Russlands Gesetz gegen „Propaganda für Homosexualität“ in wenig nachsteht. Aber hey – Putin und Orbán, das sind eben Brüder und Bären im Geiste, mindestens.

Als dieses Gesetz verabschiedet wird, wird in Budapest gerade die sehr gute Serie Eldorado KaDeWe gedreht, in der es um freie Liebe in einer immer bedrohlicher werdenden Gesellschaft im Berlin der 1920er– und 30er-Jahre geht (unsere ausführliche Besprechung lest ihr hier). Das Filmteam blieb von diesem neuen Gesetz im Grunde unberührt. Dann allerdings doch wieder nicht, denn nicht nur sind das alles Menschen und da die Serie recht queer ist, bestand auch von Beginn an der Wunsch, diese mit in Teilen queerem Cast und queerer Crew umzusetzen. Selbstredend auch mit queeren Ungar*innen.

Blase und Wirklichkeit

Außerdem bedeutet das homo- und trans*-feindliche Gesetz, dass die Serie in Ungarn nicht gezeigt werden würde. „Die queere deutsche Fiktion steht einer queeren ungarischen Realität gegenüber, indem unsere Bilder eine unbeschwerte Filmblase in einem rückwärtsgewandten gesellschaftspolitischen Moment dokumentieren“, so die Schauspielerinnen Lia von Blarer und Valerie Stoll, die den wichtigen und ansehnlichen Text-Fotoband Hurry Up And Wait kreiert und im Winter 2022 im Verlag Kettler herausgebracht haben.

Und diese Gegenüberstellung, diese Beschreibung der eigenen, subjektiven Wirklichkeit, die doch auf so viele Menschen übergreift, ja diese angreift und deren Leben und Sein beschneidet, hat es in sich. Ästhetisch sind die Fotografien, die nicht selten wie eine Chimäre aus Schnappschuss und sorgsam arrangierten Setting wirken. Zufälligkeiten im ausgestalten Raum. Stillleben trifft auf Drehpausenfoto, verspieltes Miteinander auf einen schlafenden Joel Basman, eine sich umkleidende Lana Cooper auf Essensreste. Leben am Set, unter Kolleg*innen und Freund*innen, festgehalten von Tonio Schneider (Rüdiger in der Serie), Valerie Stoll (Hedi) sowie primär von Lia von Blarer (Fritzi), die sich seit geraumer Zeit mit Analogfotografie beschäftigt.

Alles ist politisch

Wie schon im Zitat der beiden Herausgeberinnen erwähnt, werden die zahlreichen Fotografien, die auf angenehm zu fühlendem Munken Lynx 135g/m² Papier mal in Schwarz-Weiß und mal in Farbe gedruckt sind, von diversen lyrischen, politischen und persönlichen Texten eingerahmt. Gleich der erste ausführlichere Text ist der Erfahrungsbericht einer trans*Frau im Nachtzug von Berlin nach Budapest, in dem sie auch noch versucht, ihren Hund zu schmuggeln. Hier begegnet sie verschiedenen Typen von Mensch, bei denen weder sie noch wir uns sicher sein können, wer die so sind, ob Sympathie besteht oder Ungemach droht. Abgesehen von einer Gruppe männlicher, scheinbar halbstarker, Mitfahrer, die wiederum ein paar Frauen „mit sich führen“.

Drehimpression // Lia von Blarer

Das Gefühl von Obacht, Unsicherheit, vermengt mit Erfahrungswerten und einer gewissen Abgeklärtheit, das Blanka Vey auf diesen zweieinhalb Seiten vermittelt, dürfte bei nicht wenigen Leser*innen nachhallen. Bekannt klingen, Alltag bedeuten. Nun ist Berlin mitnichten Budapest, doch die Aufmerksamkeit, wo ich mich wie verhalte und das ständige Abschätzen meines Gegenübers in der Bahn, an der Kasse im Supermarkt, gar beim morgendlichen quasi einsamen Joggen ist ständiger Begleiter und Gewohnheit.

Ablenkung und Zynismus

Deutlich wird im Band, auch dank manch symbolisch stark aufgeladener Fotografie, dass nicht „nur“ künstlerische und kreative Erzeugnisse wie etwa die Serie Eldorado KaDeWe, das Märchenland für Alle, Harry Potter, der seither in Ungarn erst für Erwachsene zugänglich sein soll, oder die Bände der Graphic Novel-Bände Heartstopper vom unsäglichen Gesetz betroffen sind. Nein. Dieses Gesetz schneidet ins ganz Private, in das eigene Leben der Ungar*innen. Gabriella Bódi etwa schreibt in einem kurzen Beitrag, dass sie und ihre Partnerin Zita ihren dritten Jahrestag feiern. Teilt sie ein Bild davon, bricht sie das Gesetz.

Aus Hurry Up And Wait – v. l. n. r.: Lia von Blarer, Joel Basman, Valerie Stoll, Damian Thüne // Foto: © Lia von Blarer

Natürlich sei dieses Gesetz eine Ablenkung: Wenn queere Menschen sich damit zu befassen und ängstlich und vorsichtig zu sein haben und NGOs mit der Rettung verbliebener Rechte und dem eigenen Fortbestand befasst sind, bleibt wenig Zeit, sich anderem zuzuwenden. Das Ziel der ungarischen Regierung sei, dass sich die Menschen gegeneinander wendeten, den Hass zu schüren und letztlich die Community, die Menschen auseinanderzutreiben. Zu brechen. Kennen wir das nicht von irgendwoher? Nicht nur, dass Geschichte sich irgendwie immer wiederholt. Sie scheint auch zynischer zu werden.

Immer auf der Hut

Gabriella Bódi aber schreibt weiter, dass mensch es sich nicht leisten könne, in die andere Richtung zu schauen und findet es fantastisch zu sehen, wie viele Leute sich für die LGBTIQ*-Community engagieren. Ja, sie meint, eine schweigende Mehrheit bestünde aus Menschen mit besten Absichten und gutem Gewissen. Allein schweigen reicht nicht, meinen wir. So legt auch Gabriella ihr großes Vertrauen in ihre empathische und frei denkende Community.

Bolgárka

Doch wie lange und wie intensiv können Queers aktiv, frei denken und möglichst handelnd unterwegs sein, wenn Repressalien und Drohungen, Unsicherheiten und Bedenken zunehmen? „It takes a village“ ein Kind großzuziehen, ebenso braucht es nur einen systematischen systemischen Widerstand, um ein nicht der vermeintlichen Norm entsprechendes Kind der eigenen Gemeinschaft zu zerstören. Schauen wir etwa nach Polen oder Georgien. (Zu letzterem gibt es einen starken Essay in der aktuellen Neuen Rundschau im S. Fischer Verlag, ein Text dazu folgt in Kürze.)

Kein Wunder also, dass eine anonyme Person in Hurry Up And Wait so zitiert wird:

„Sorry, I am not an activist any more.“

Sehr aktivistisch unterwegs hingegen ist Kit Asztalos. Eine Rede Kits in der Ungarischen Botschaft in Wien vom 25. Juni 2021 ist voll von ins Mark treffenden Feststellungen eines beinahe unerträglichen und entmenschlichenden Ist-Zustands für Queers in Ungarn. Voll von Wut auf leere Gesten vermeintlicher Allies, die entweder Pinkwashing betreiben oder nicht wissen, worum es geht, für die Queer = Party mit befummeln ist. Voll von Sorge um die Sicherheit queerer Menschen und Kinder, die sich ausprobieren. Eine Anklage an fundamentalistische, hasserfüllte, so genannte Christen. An „alte, reiche, heterosexuelle, weiße cis-Männer“, die ihre eigene politische Agenda verfolgen.

Alltag: Blutige Nase geholt – Lia von Blarer als Fritzi // © Lia von Blarer

Es müsse mehr in die Menschen investiert werden, weniger in Überwachung und Kontrolle. Mehr in Möglichkeiten und weniger in Abschreckung. Die Kultur der Verknappung und Beschneidung müsse enden, dies nicht nur für queere Menschen in Ungarn und darüber hinaus, sondern im Sinne aller. „This law is a life sentence for an entire generation of queer and trans kids“, so Asztalos zum Ende. Es sei ein Versuch, eine ganze Generation auszuradieren. Das dürfe nicht passieren, schließt Asztalos nach Dank an Wien, „because you pulled me through“. Ein privilegiertes Leben im Kampf, wenn wir so wollen.

„It is not easy to be proud in Hungary today“

Mit diesen Worten eröffnet Adam Andras Kanicsár einen eindrücklichen Kurzessay, der mit „The Hungarian Stonewall“ überschrieben ist und damit beginnt, dass bis 2021 zu vieles als selbstverständlich betrachtet wurde. Eine Community, die nicht kämpfe, rebellierte, sondern lebte und überlebte. Dann kam Artikel 33 *hust* und los gings oder viel eher: rückwärts ging es. Und die Menschen wurden wacher, die queere Community stand auf und Ungarn habe noch nie so gut ausgesehen in einem Regenbogen, so Kanicsár.

Georg-Darsteller Damian Thüne mit Hund // © Valerie Stoll

Vereint, stark, wunderbar und wunderschön gemeinsam – so ziehen sie in den Kampf, der gerade erst begonnen habe, wo sie dachten, er sei doch vorüber. Daran sehen wir, wie schnell mensch Opfer eine Trugschlusses werden kann. Nichts ist sicher, nirgends. Das ist sicher. Wir freuen uns, dass nach langer Zeit, vielen Kämpfen und massiven Anstrengungen hierzulande am 1. August 2024 das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft treten soll. Doch nehmen verbale und physische Übergriffe auf Schwule, Lesben, Bisexuelle, Trans*- und Inter-Menschen wieder zu. Die Beschwerde, wir hätten doch alles und nun sei’s gut wird wieder salonfähig(er). Die AfD erfreut sich ungebrochen und trotz und teils wegen aller (antidemokratischen) Skandale und menschenfeindlicher Skandierungen großer Beliebtheit. Das wird man ja wohl noch hassen dürfen!

Hass und Angst, hautnah

Wie viel Hass aus der Mitte der Gesellschaft und einem oben von Kit angesprochenem Zirkel ausgehen kann, schreibt auch Marcell Bárdos im harten, berührenden und empowernden Gedicht „You“. Die Gedichte bilden überhaupt eine große Bandbreite von künstlerisch-romantisch über persönlich-selbstbestimmend zu aktivistisch-kämpferisch. Hier und da sind sie ein Hybrid wie etwa „The new woman“ von Mónika Ferencz.

Neue Frauen, die Bälle treten – Schauspielerin und Hurry Up And Wait-Herausgeberin Valerie Stoll // © Lia von Blarer

Sehr bezeichnend für eine Welt, die so engstirnig heteronormativ ist, dass sie sich die verrücktesten Geschichten einer Partnerschaft – hauptsache straight und binary – ausmalt, ist die kurze Erfahrungsgeschichte „A Lesson in Heteronormativity“ von Réka Busa. Ebenfalls von Réka stammt ein Addendum zur LSBTIQ*-Gesetzgebung in Ungarn. Hier wird erläutert, was genau es mit § 33 auf sich hat, wie die Lage für Regenbogenfamilien und gleichgeschlechtliche Ehen ist. Wie es mit Repräsentation aussieht und wie sich Verbote beziehungsweise Einschränkungen von Büchern, Filmen und Serien ausgestalten. Und wieder der Gedanke: Das ist doch alles nicht weit weg.

Geschichte erzählen und schreiben – und formen

Wie Hurry Up And Wait begann, so endet er auch. Drehbuchautorin Sabine Steyer-Violet fährt ebenfalls von Berlin nach Budapest, „eine pitoreske Strecke, die über Prag und Bratislava, vorbei an Bergen und entlang der Moldau verläuft.“ Während dieser Fahrt, arbeitet die Autorin, deren Sohn in Berlin „wie selbstverständlich“ mit zwei Müttern aufwächst, „an den Drehbüchern, die in der Vergangenheit spielen“.

Harry-Darsteller Joel Basman in der Pose des handelnden Denkers…?! // © Lia von Blarer

Zeit sei ein menschliches Konzept, das immer wieder neu interpretiert würde, so Steyer-Violet. Ein sehr spezielles dazu, möchte mensch meinen. Sei die Zeit 1920er- und 30er-Jahre für den achtjährigen Sohn doch eine abstrakte Ewigkeit, für den in den 30ern geborenen Vater hingegen nicht. Für den Vater habe es damals queere Menschen nicht gegeben. „Erstaunlicherweise gab es sie in meiner Welt, die nur etwas mehr als zwanzig Jahre zurückliegt, auch nicht“, so die Drehbuchautorin in persönlichen Worten.

Was für Sabine Steyer-Violet und ihrer „ersten Liebe – einer Frau“, der Film Aimée & Jaguar bedeutet und in ihr oder ihnen ausgelöst haben mag, mag für viele Menschen heute Eldorado Ka DeWe sein. Dies nicht zuletzt, das betont auch die Autorin, da im deutschen Film und Fernsehen in puncto queerer Sichtbarkeit wenig passiert ist in der Zeit. Sicherlich gibt es rbb Queer und all die Ergänzungen, es gibt Serien wie Loving Her und queere Figuren, die nicht mehr nur Stichwortgeber und Klischees sind. Doch ist dies zum einen erst seit wenigen Jahren der Fall und zum anderen, ist es neu, dass eine queere „Liebesgeschichte in der Hauptsendezeit, und dann auch noch zu Weihnachten, dem heteronormativen Familienfest“ schlechthin gezeigt wird. Eine zweite Bahnfahrt, die uns nachdenklich stimmt und nachhallt also.

Ja, mit der Serie wurde Geschichte geschrieben. Mit dem wunderbaren und wichtigen Band Hurry Up And Wait von Lia von Blarer und Valerie Stoll mit so vielen optischen Eindrücken, inhaltlichen Impulsen und kraftvollen Worten, wird sie fortgeschrieben. Und hoffentlich, hoffentlich ein wenig zum Besseren gedreht werden können. „Zeit entsteht immer wieder neu“, zitiert Steyer-Violet Fritzi aus der Serie.

Seien wir dabei, seien wir Teil davon. Nutzen wir die Zeit, in der Ungarn und somit auch Viktor Orbán wieder vermehrt im Fokus stehen werden. Ab dem morgigen ersten 1. Juli 2024 übernimmt Ungarn für sechs Monate den EURatsvorsitz. Sie werden nicht leise sein, seien wir es auch nicht.

AS

PS: „Ich sehe mich nicht in der Lage, die politischen Umstände Ungarns unkommentiert zu lassen“, schreibt Lia von Blarer zum Band. Ganz praktisch umgesetzt bedeutet das, dass die Erlöse aus dem Verkauf von Hurry Up And Wait an den Budapest Pride gespendet werden.

PPS: Auf Netflix findet ihr eine sehr guten Dokumentation mit dem Titel Eldorado – Alles, was die Nazis hassen. (Unsere Rezension folgt alsbald, sollte das Notebook, auf dem sie liegt, gerettet werden können. Sonst dauert’s länger.) Außerdem hat der Publizist und Quervlag-Verleger Marc Lippuner kürzlich den von ihm herausgegebenen Band „Eldorado“ Berlin – Exkursionen zum anderen Ufer bei B&S Siebenhaar veröffentlicht und gemeinsam mit René Koch auf dem Berliner Bücherfest vorgestellt.

PPS: Wir von the little queer review sind übrigens auch in diesem Jahr wieder Teil der #PrideBuch-Kampagne, die von der Queer Media Society, dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels sowie der Frankfurter Buchmesse initiiert wurde. Mehr dazu findet ihr u. a. bei Instagram, ebenfalls findet ihr bei den Kolleg*innen von PinkDot-Life eine Empfehlungsliste wie auch via VLB-TIX.

Lia von Blarer, Valerie Stoll (Hrsg.): Hurry Up And Wait. Queer German Fiction vs. Queer Hungarian Reality; mit Nachworten von Julia von Heinz und Sabine Steyer-Violet; Design: Dalia Hochbach, José Rojas; deutsch/englisch; November 2022; 224 Seiten, zahlreiche Fotografien; Softcover; Format: 20 x 25 cm; ISBN: 978-3-98741-002-4; Verlag Kettler, 32,00 €

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