Echowelten

Dieser Austausch, der eine hochinteressante Frage aufwirft, spielt sich zwischen einem Rabbi und benanntem Ben in Auschwitz ab, wo beide interniert sind. Dieser ist natürlich fiktiv, könnte aber dennoch stattgefunden haben.

Wie so vieles, das der amerikanisch-jüdische Autor Neal Shusterman und der texanischmexikanische Illustrator Andrés Vera Martínez in ihrer Graphic Novel Fenster in der Nacht – Geschichten der Hoffnung zusammenbringen: Jüdische Geschichte und jüdische Folkore; Wissen und Fantasie; Zerstörung und Hoffnung. Erschienen ist der hochwertig gebundene und gedruckte Band, nach zwölf Jahren Entstehungszeit, erst kürzlich bei Loewe Graphix in der Übersetzung von Alexandra Ernst.

Zwei Welten im Damals und Heute

Versammelt sind in diesem fünf Kurzgeschichten, die jeweils sehr unterschiedliche Ereignisse (zumeist während der Zeit des Nationalsozialismus) beleuchten und diese mit verschiedenen Sagen und Legenden verknüpfen. Die erste Story spielt in Hamburg: Eine Frau Müller versteckt hier drei Geschwister, wird dabei vom Lieferjungen Friedrich unterstützt, der diese mit zusätzlichem Essen versorgt. Dabei sich und alle anderen einem noch höheren Risiko aussetzt. Doch durch ein Fenster, das mal da und mal weg ist, gibt es Hoffnung auf eine andere Welt.

Aus: Dann öffnet er ein Fenster // Illustration: Andrés Vera Martínez, Text: Neal Shusterman © 2024 Loewe Verlag GmbH, Bindlach

Eine andere Welt finden wir auch in der fünften und letzten Geschichte des eindrücklich und nachhallend illustrierten Bandes vor: Durch eine Kristallmuschel kann die jugendliche Caitlin im heutigen Amerika Zugang zu einer Parallelwelt finden, in der der Holocaust nicht stattfand. Doch droht er nun? Die erstarkende „neue“ Rechte, ein Buch namens „Mein Kampf“ von Aiden Hisler und eine für den 4. Juli angekündigte Kristallnacht deuten darauf hin…

Auf der Suche nach Schnittstellen

Diese rechten Umtriebe – nicht nur in den USA, sondern auch in vielen anderen Ländern – waren es, die Neal Shusterman letztlich davon überzeugten, die Graphic Novel für Jugendliche umzusetzen. Die Geschichten zu recherchieren, die Sagen zu studieren und die Storys zu schreiben. „Ich fand allein schon die Vorstellung, Fantasy mit dem Holocaust zu vermischen, sowohl aufregend wie fragwürdig“, schreibt er in seinem lesenswerten Nachwort. Verständlich.

Welche Schnittstelle gäbe es denn „zwischen der Fantasy und der grausigen Realität von Millionen ermordeter Menschen?“ Doch je länger er darüber nachdachte, sei ihm klar geworden, dass er auf diese Weise starke Geschichten erzählen würde können: „Geschichten von Wünschen, die tragischerweise nie erfüllt werden können.“

Gelungene Umsetzung

Dass die Geschichten, über einen Golem in Auschwitz(-Birkenau), eine den Widerstand unterstützende Baba Jaga in den Wäldern Belarus‘ und einer mosesgleichen Brücke von Dänemark nach Schweden gut recherchiert sowie aufrichtig sinn- und hoffnungsstiftend gemeint sind, zeigen nicht nur die wohlgesetzten Dialoge im Zusammenspiel mit jugendgerechten Action– und Fantasy-Elementen und Illustrationen. Auch Erläuterungen zu den Hintergründen am Ende einer jeden Geschichte (wie etwa den in Yad Vashem registrierten Gerechten unter den Völkern, auch mit Blick auf queere Menschen) geben einen tieferen Einblick, dienen der Wissensvermittlung und dazu animieren, weiter in die Vergangenheit einzutauchen.

Aus: Geister des Widerstands // Illustration: Andrés Vera Martínez, Text: Neal Shusterman © 2024 Loewe Verlag GmbH, Bindlach

Eine interessante Bibliographie (wenn auch primär mit Verweis auf englischsprachige Literatur) sowie eine Anmerkung zu den im Band vor jeder Geschichte verwendeten hebräischen Buchstaben regen Fantasie sowie Geist an. Somit ist es Shusterman und Martínez, der die Geschichte seiner Tejano-Familie einfließen ließ, vollumfänglich gelungen, den eigenen Anspruch umzusetzen – auch dank starker Hilfe bei Recherche und Co. Oder viel eher die fantastische Idee, finstere Realität und hoffnungsvolle Fantasie nicht in den Sand zu setzen.

Eine starke Empfehlung also für Fenster in der Nacht – ganz gleich, ob ab zwölf Jahren oder darüber hinaus. Die Geschichten sind so lehrreich wie faszinierend, so berührend wie spannend und so gut geschrieben wie famos illustriert.

JW

PS: Vier Buchempfehlungen an dieser Stelle: Die Legenden der Juden von Louis Ginzberg, herausgegeben von von Andreas Kilcher und Joanna Nowotny (Suhrkamp Verlag); Isaac Bashevis Singers Der Golem – Eine Legende (Insel Verlag); Jüdische Märchen und Legenden von Pinchas Sadeh (Anaconda Verlag); Dorothea. Queere Heldin unterm Hakenkreuz von Jürgen Pettinger (Kremayr & Scheriau).

PPS: Zwei Serienempfehlungen: Transatlantic, die wir hier besprochen haben, sowie Atlantic Crossing.

Neal Shusterman (Texte), Andrés Vera Martínez (Illustrationen): Fenster in der Nacht – Geschichten der Hoffnung; Januar 2024; Aus dem Amerikanischen übersetzt von Alexandra Ernst; 256 Seiten, durchgehend farbig illusriert; Hardcover, gebunden; ISBN: 978-3-7432-1687-7; Loewe Verlag; 22,00 €; emfophlen ab 12 Jahren

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