Vorabauszug: Das Schweigen brechen

Vor einiger Zeit stellten wir euch Jürgen Pettingers so faktenreiche wie erzählerisch ausgereifte, so einfühlsame wie erschreckende Romanbiografie FRANZ. Schwul unterm Hakenkreuz vor, die vor ziemlich genau zwei Jahren im österreichischen Verlag Kremayr & Scheriau erschienen ist. In dieser beschäftigt sich der Journalist (ORF) und Autor mit Franz Doms und bringt uns dessen Lebens- und Leidensgeschichte nah, die mit seinem Tod aufgrund des § 129 endete. Der Paragraf entspricht dem § 175 in Nazi- und Nachkriegsdeutschland – mit einer Ausnahme.

Der feine, noch ekelhaftere Unterschied

Stellte § 175 nämlich „nur“ die sexuellen, „beischlafähnlichen“ Handlungen zwischen zwei Männern unter Strafe, so galt dies im damaligen Österreich auch für Frauen. Dies noch zurückgehend auf den von Kaiser Franz Joseph I. (ja der, ihr Homo-Sisi-Fanpeople) im Jahre 1852 erlassenen § 129, der geschlechtsneutral formuliert war. „Als »Verbrechen der Unzucht wider die Natur« wurden sexuelle Handlungen »mit Personen desselben Geschlechtes« verfolgt, also sowohl zwischen Männern als auch zwischen Frauen“, so Andreas Brunner in seinem wohl gerade für deutsche Leser*innen informartiven Vorwort zu Jürgen Pettingers neuem Werk DOROTHEA. Queere Heldin unterm Hakenkreuz, das am kommenden Montag erscheint.

Wieder setzt sich der 1976 in Linz geborene Autor also mit Homosexualität beziehungsweise Queerness in den Zeiten des nationalsozialistischen Terrors und Horrors auseinander. In seinem neuen Buch nun anhand der Schauspielerin Dorothea Neff (1903 – 1986), die den Naziterror zwar überlebte, ihr lesbisches Leben und Lieben jedoch auch danach geheim halten musste (hier denken wir natürlich auch an Nelly & Nadine). Etwas, das in bisherigen Berichten und einer Biografie über Dorothea Neff fortgesetzt wurde, wie wir ebenfalls im Vorwort erfahren. Pettinger bricht dieses Schweigen nun also.

Doppelte Gefahr und viel Mut

Befasste er sich in FRANZ mit einem schwulen Jungen aus der Arbeiterschicht, geht es mit DOROTHEA jetzt in die Kunst- und Kulturszene Wiens in der NS-Zeit. Erweitert um eine jüdische Perspektive. Denn ab 1940 nahm Neff, die von den Nationalsozialisten erwartungsgemäß angewidert war, ihre jüdische Freundin Lilli Wolff als U-Boot in ihre Wohnung auf, was eine direkte Gefahr für deren Leben bedeutete. Denn das Einzige, das als Verbrechen schwerer wog als gleichgeschlechtliche Beziehungen war die sogenannte „Rassenschande“, also die Verbindung von „Arier*innen“ und Jüdinnen und Juden. Als sei dies alles nicht schon riskant genug, erkrankt Lilli schwer und muss 1944 in die Klinik…

Dorothea in Yad Vashem // Foto von S. 187 aus dem Buch DOROTHEA; Yad Vashem Photo Collections, Jerusalem (Item ID 14473410)

Im folgenden Auszug als exklusiver Vorabveröffentlichung tauchen wir direkt in das Zusammenleben der beiden als Paar während einer kleinen Abendgesellschaft ein. Während Dorothea serviert, lauscht Lilli versteckt im „Kaminschacht in der Wand, hinter einem großen, prachtvollen Kachelofen“:

„Dorothea ließ sich immer alles aus der Nase ziehen. Man konnte zwar vortrefflich mit ihr diskutieren, über Gott und die Welt; einfache Gespräche über dies und das überforderten sie aber. Zu ungenau, es machte sie unsicher. Sie konnte erstens nicht gut einschätzen, was wichtig genug war, erzählt zu werden und was nicht, zweitens wollte sie niemanden mit uninteressanten Anekdoten langweilen, die nur sie betrafen. Alltägliche Dinge, die sie umtrieben, machte sie gerne mit sich selbst aus. Andere damit zu beschäftigen schien ihr sinnlos.
Auf die einfache, so oft gestellte Frage zum Beispiel, wie ihr Tag gewesen sei, war mit größter Sicherheit nur ein dürres »Ganz gut« zu erwarten. Nicht viel mehr. Wer wirklich an Details interessiert war, an ihrem alltäglichen Leben teilhaben und sich nicht mit Allgemeinplätzen zufriedengeben wollte, musste nachbohren und vor allem Fragen stellen, die ihr konkrete Antworten abverlangten.
»Was war eigentlich gestern hinter der Bühne los?«

Dorothea hatte an diesem Abend Gäste geladen, eine kleine Runde. Nur sie selbst, der junge Nachbar von oberhalb, Erwin Ringel, der Medizin studierte, und Judith Holzmeister, eine ebenso junge Schauspielkollegin vom Theater.
Die Zusammenkunftt hatte sie nahezu generalstabmäßig geplant. Der Abend diente dazu, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Erstens galt es, den Schein zu wahren: Dorothea konnte sich als beliebte Schauspielerin, die sie war, nicht vollends aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen, das hätte für Gerede gesorgt. Die Stimmung war ohnedies angespannt, überall herrschten Angst und Misstrauen. Ein falsches Wort konnte zu Verhaftungen führen, Menschen verschwanden von einem Tag auf den anderen.
Ein Schauspielpartner, den Dorothea von früher her kannte, war zum Beispiel eines Tages von der Gestapo abgeholt worden, weil ein anderer Kollege, der auf seine Rollen neidisch war, behauptet hatte, er habe von den Plänen irgendwelcher Kommunisten gewusst, die sich gegen die Regierung und den Krieg richteten, aber keine Anzeige erstattet. Erst nach Wochen war der Mann wieder aufgetaucht, mit gänzlich zerschlagenem Gesicht. Er war offenbar unschuldig, zumindest hatte man ihm nichts nachweisen können, dennoch konnte er in dem zerschundenen Zustand monatelang nicht auftreten. Seine Rolle hatte tatsächlich der Denunziant bekommen. Solche und noch viel schlimmere Geschichten kursierten haufenweise. Jeden Tag, in jeder Minute war Obacht geboten, bei allem, was man tat und sagte.

In gewisser Weise versuchte Dorothea also mit regelmäßigen Einladungen, Einblick in ihr ach so pflichtgetreues Leben zu gewähren, um jeglichen Gerüchten vorzubeugen. Sie war eine alleinstehende Schauspielerin, allein diese Tatsache war geeignet, für Gerede zu sorgen. Warum fand sie keinen Ehemann? Was trieb eine derart eigenbrötlerische Frau so alleine die ganze Zeit? Wollte sie keine Kinder bekommen? Das würde den Machthabern und ihren Anbiederern gar nicht gefallen. Dorothea wusste ja, was hinter ihrem Rücken über sie geredet wurde. Es war also wichtig, Normalität zu vermitteln, soweit es ihr möglich war.
Zweitens war sie auf der Suche nach Verbündeten, nach Menschen, denen zu trauen war. Als Schauspielerin liebte sie es zwar, in Rollen zu schlüpfen, seien sie gut oder böse, nur konnte sie die mit den jeweiligen Kostümen nach jeder Vorstellung wieder ablegen. Seit geraumer Zeit aber war sie nun
gezwungen, auch abseits der Bühne ein Doppelleben zu führen, und das verlangte ihr immer mehr ab. Sie wusste, dass sie über kurz oder lang Hilfe brauchte und andere einweihen musste. Was die beiden Besucher nämlich nicht ahnten: An diesem Abend war noch eine weitere, für sie unsichtbare Person anwesend, um gemeinsam mit Dorothea über deren Vertrauenswürdigkeit zu urteilen.
Im Kaminschacht in der Wand, hinter einem großen, prachtvollen Kachelofen, hielt sich Dorotheas Freundin Lilli Wolff verborgen und hörte jedes Wort mit. Dorothea war es zuerst gar nicht recht gewesen, aber Lilli selbst hatte auf diesem rußverschmierten Versteck bestanden. Der Winter war vorüber, es musste nicht mehr geheizt werden und der Kamin bot ausreichend Platz für eine Person.
Er war ein idealer Lauschposten, vom Vorraum aus über eine hüfthohe, in die Holzvertäfelung eingelassene und kaum sichtbare Luke begehbar. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war minimal, wenn sich die Person im Kamin mucksmäuschenstill verhielt.
Dorothea wäre es lieber gewesen, die Freundin wäre, wie sonst, wenn Besuch da war, im gemeinsamen Schlafzimmer geblieben, das lag weit weg vom Salon und den Gästen und war auch nicht, wie die anderen Räume in der Wohnung, über ein Durchgangszimmer, sondern über einen eigenen Gang zu
erreichen. Von dort aus hätte Lilli zwar nichts von den Gesprächen der Abendgesellschaft mitbekommen, sie wäre aber auch selbst nicht zu hören gewesen. Was, wenn sie nun plötzlich niesen musste? Bei der vielen Asche und dem Ruß in dem Kamin war das gar nicht so unwahrscheinlich.
Aber Lilli konnte und wollte nicht mehr alleine und abgeschottet sein. Sie hatte Dorothea regelrecht angefleht, ihr wenigstens an diesem Abend dieses kleine Stück Freiheit zu geben. Seit eineinhalb Jahren machte sie sich nun schon vollständig unsichtbar, seit eineinhalb Jahren hatte sie die Wohnung kein einziges Mal verlassen.
»Wenn ich schon nicht mit am Tisch sitzen kann, dann lass mich wenigstens still an dem Abend teilhaben!«, hatte sie eindringlich gebeten.
Um den von Dorothea gefürchteten Niesanfällen vorzubeugen, hatte sie kurzerhand eine Drahtbürste genommen und den Kamin – so gut es ging – von Ruß und Asche befreit. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass es doch dazu kommen sollte, hatte sie ein Kissen dabei, in das sie ihr Gesicht drücken würde. Den Fußboden hatte sie mit alten Stofffetzen ausgelegt, um andere versehentliche Geräusche zu dämpfen. Dann hatte sie einen Holzschemel in das Kaminloch gestellt, auf dem sie gerade noch aufrecht hocken konnte. Links und rechts stieß sie mit den Schultern gegen die Wände, ihre Bewegungsfreiheit
war so weit eingeschränkt, dass es nahezu unmöglich war, die Sitzposition zu ändern. Sie saß also nur ganz still da und konnte gar keinen Mucks machen. Dorothea hatte dem Drängen der Freundin schließlich nachgegeben, aber darauf bestanden, eine Kommode vor die Luke zu schieben, sobald Lilli drin war. Nur um ganz sicherzugehen, dass nicht doch jemand zufällig den Kaminschacht entdecken und auf die Idee kommen würde, wissen zu wollen, wohin dieses Türchen in der Holzvertäfelung führte. Man konnte nie wissen.“

DOROTHEA. Queere Heldin unterm Hakenkreuz erscheint am Montag, den 2. Oktober 2023, bei Kremayr & Scheriau und kostet 24,00 €. Unsere Rezension folgt, ebenso wird Autor Jürgen Pettinger in Bälde unsere 5 Fragen an… ihn beantworten.

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