Vor einem Tag gab es ein humorvollen und altklassisch-britisch angehauchten Weihnachts-Tatort aus München, der auch dank seiner — bei Tatorten nicht immer üblichen — Kurzweil zu überzeugen vermochte (und Sunnyi Melles). Mit um die 140 Minuten Laufzeit zwar beinahe sechzig Minuten länger, als dieser und doch ungleich kurzweiliger, spannender, witziger, gewiefter und hintergründiger ist der zweite Filme der Knives Out-Reihe um den dandyhaften, schwulen Südstaaten-Ermittler Benoit Blanc namens Glass Onion: A Knives Out Mystery, der nach kurzem Lauf im Kino Ende November nun seit einigen Tagen auf Netflix verfügbar ist.
„A children’s puzzle“
Der Film beginnt, anders als der Vorgänger, wirklich ganz klassisch als ein Murder Mystery. Nach einer kurzen Einführung der Hauptfiguren — Leslie Odom Jr. als Lionel Toussaint einem Wissenschaftler, Kathryn Hahn als Claire Debella, der Gouverneurin in Beige von Connecticut, Kate Hudson als Birdie Jay, einem Ex-Supermodel und Dave Bautista als Duke Cody, einem Gamer und rechtsgerichteten Aktivisten für die Rechte von Männern —, die allesamt eine mysteriös versteckte Einladung ihres Freundes/Arbeitgebers/Investors, versteckt in einem — wie Blanc es nennt —„children’s puzzle“ erhalten, dem Milliardär Miles Bron (Edward Norton), geht es schon recht fix auf dessen Privatinsel in Griechenland. Dort soll sein Mord aufgeklärt werden…
Ebenfalls eingeladen sind Andi Brand (hach: die nicht-binäre Janelle Monáe), die früher zu diesem mehr oder minder illustren Shithead-Kreis gehörte, und eben der beste Detektiv der Welt Benoit Blanc, den Daniel Craig hier Post-James-Bond noch ein wenig extravaganter und aufgeschlossener gibt. Rutschte er im ersten Film (so sich der Rezensent recht erinnert) doch eher widerwillig in die immer verworreneren Ermittlungen hinein, ist er hier voller Begeisterung, als sein Lebensgefährte (den wir anfangs nur hören, später auch sehen und dessen Offenbarungen mit zu den besten Twists des Films zählt) ihn mit jener Box aus der von Büchern, Quietscheente und Pernod umgebenen Corona–Badewanne holt.
„I’m on the clock“
Schnell wird also klar: Trotz der Prämisse verschrobener Milliardär lädt (vermeintliche) Freunde für ein Spiel auf eine einsame Insel ein und jemand muss sterben, wird hier alles auf den Kopf gestellt. Denn der folgende Ablauf ist alles anderes als klassisches Whodunnit, wenn der Film natürlich auch ein Krimi ist. Genauso aber eine Persiflage, die sich durchaus humorvoll aber nie respektlos mit den Klassikern befasst und sich optisch stark an die Verfilmung von Agatha Christies Hercule-Poirot-Geschichte Das Böse unter der Sonne lehnt. Die Storyline hingegen mag ganz grob an den hierzulande (leider) eher unbekannten und von Stephen Sondheim und Anthony Perkins geschriebenen Film Sheila erinnern (den Knives-Out-Macher Rian Johnson auch für beide Filme als eine der Inspirationen nennt).
Auch hier wieder Humor und Andeutungen auf einer Metaebene, die Glass Onion mal mehr, mal weniger deutlich durchziehen: Blanc ist Sondheim-Fan (erfahren wir im ersten Film, ebenfalls gibt es hier den letzten Cameoauftritt des 2021 verstorbenen Genies zu sehen) und Sheila war für den nicht nur angedeuteten queeren Subtext für den Anfang der 1970er-Jahre als Großproduktion beinahe revolutionär. Und zudem begegnen wir Angela Lansbury, genau wie Serena Williams (anders als bei Harry & Meghan ist kreischendes Lachen garantiert) und, und, und, …
„It’s a dangerous thing to mistake speaking…“
Bei all diesen kleinen Cameos aber verliert Regisseur und Autor Rian Johnson nie den Fokus. Jeder Austausch sitzt und in vielen Sätzen paaren sich Witz und Hintergrund. So gerät Glass Onion auch nie zu einer affigen Klamauk-Schau, sondern wechselt zwischen Dialogpointe und hintergründiger Satire; stellt Mechanismen des Genres infrage ohne sie zu verraten und spielt massiv und sehr erfolgreich mit unserer Erwartungshaltung.
Gehen wir doch natürlich davon aus, dass es der von Edward Norton spitze dargestellte Tech-Milliardär mit ausgeprägtem Kontrollwahn und überbordendem Ego (Elon M., irgendwer?!) sein muss, der seinem eigenen Spiel zum Opfer fällt und tatsächlich das Zeitliche segnet. Wenn dieses Spiel aber schon vor Beginn mit einem weiteren smarten Humor-Highlight ein herzhaft jähes Ende findet und der Film uns sein wohlverdientes Schnippchen schlägt, sind wir gespannt. Untermalt wird diese beinahe verzaubernde Spannung durch den Score von Nathan Johnson, der sich hier unter anderem an Nino Rotas Kompositionen zur 1978er-Verfilmung von Tod auf dem Nil orientierte.
„…without thought for speaking the truth.“
Natürlich gibt es Tote, natürlich haben alle mindestens ein Motiv und mindestes eine Gelegenheit. Natürlich gibt es geheime Verbindungen. Natürliche finden sich verschiedene Red Herings. Natürlich ist am Ende alles anders, als es scheint. Oder ist es das? Wenn der Film nach gut der Hälfte der Laufzeit im Grunde noch einmal von vorn beginnt und uns einen Input liefert, den ein Benoit Blanc längst hatte, wird es nicht etwa dröge, sondern noch fesselnder und wir bekommen vermittelt, wie irritierend Dummheit sein kann.
Nach dem — nicht nur aufgrund von Jeremy Renner’s Hot Sauce — explosiven Finale sitzen wir so entspannt wie gespannt auf einen dritten Teil vor dem Bildschirm und nun, wollen den Film an sich in Bälde erneut sehen. Allein um manch einen verpassten Gastauftritt, Gag, Hinweis und Vermerk zu entdecken. Wer also das weihnachtliche Familien– oder Freundes- oder Bingefest überlebt und sich den eigenen Kopf nicht zu sehr zerbrochen hat, sollte sich unbedingt das 140-minütige Fest geben, das Glass Onion eindeutig ist. Und mit dieser Stimmung dann noch den einen oder anderen Murder-Mystery-Klassiker (wieder)entdecken.
AS
PS: Auch wenn es sich bei Glass Onion um einen zweiten Teil handelt, können beide Teile als Standalones beziehungsweise unabhängig voneinander gesehen werden. Da funktionieren sie ganz so wie die finnischen Krimis von Arttu Tuominen um die Ermittler Henrik Oksman und Jari Paloviita. Hier besprechen wir in Kürze als erstes den zweiten Teil der Reihe, Was wir verbergen, in dem es um einen Anschlag auf einen queeren Nachtclub und die versteckte sexuelle Identität eines der Ermittelnden geht.
PPS: Apropos Angela Lansbury: Vor kurzem war ich recht krank und habe das mal genutzt, um neuerlich ganz viel Mord ist ihr Hobby zu schauen und hach — was für eine tolle Serie. Durchzogen von stillem Humor (vor allem im englischen Originalton, wo allein schon der englische Titel Murder, She Wrote besser passt), in vielerlei Hinsicht fortschrittlich, oft ein großer Mitrate-Spaß und zudem häufig hervorragend besetzt.
Glass Onion: A Knives Out Mystery; USA 2022; Buch und Regie: Rian Johnson; Kamera: Steve Yedlin; Musik: Nathan Johnson; Darsteller*innen: Daniel Craig, Janelle Monáe, Edward Norton, Dave Bautista, Kathryn Hahn, Kate Hudson, Leslie Odom Jr., Madelyne Cline, Jessica Henwick, Noah Segan, Jackie Hoffmann, Dallas Roberts, Ethan Hawke, Hugh Grant; Laufzeit ca. 140 Minuten; FSK: 12; seit dem 23. Dezember 2022 auf Netflix verfügbar
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