Wenn schon wieder ein Kindlein verschwindet

Es ist irgendwie beinahe auffällig: In ihren letzten Fällen hatte die Magdeburger Hauptkommissarin Doreen Brasch (Claudia Michelsen) es häufig mit Kindern, Jugendlichen oder Heranwachsenden zu tun. Zuletzt verschwand Ronny, in Hexen brennen spielten nach dem Tod einer jungen Frau zwei Mädchen eine nicht unwesentliche Rolle und im vergangenen Sommer verabschiedete sie die Sonntagabend-Krimi-Saison mit der fulminant emotionalen Psychothriller-Geschichte um den (schwulen) 19-jährigen Adam Dahl.

Jede gute Tat…

Da ist es wohl nur folgerichtig mit (immer jünger werdenden) Kindern fortzufahren und in diesem Jahr 2023 die neue Sonntags-Krimi-Saison mit dem Polizeiruf 110: Du gehörst mir zu eröffnen. Konkret geht es dieses Mal darum, dass die 23-jährige Lana (Hannah Schiller, Tatort: Parasomnia; Eine fremde Tochter) in der belebten Magdeburger Innenstadt für einen kurzen Moment den Kinderwagen aus den Augen lässt, um einem Teenager zu helfen. Als sie sich umdreht, ist der Wagen samt der sieben Wochen alten Lucy verschwunden…

INGA WERNER (Franziska Hartmann) während der geplanten Entführung eines Säuglinges auf dem Marktplatz von Magdeburg. // © MDR/Felix Abraham

…informiert wird Brasch über den Vorfall, während ihr Vorgesetzter, Kriminalrat Uwe Lemp (Felix Vörtler), ihr gerade letzte Anweisungen gibt, wie sie in der ersten Zeit seines Sabbaticals die Katze zu füttern habe. „Nicht mehr ihre Aufgabe“, sagt sie bezugnehmend auf das Telefongespräch und verabschiedet sich. Gemeinsam mit Kriminalobermeister Günther Márquez (Pablo Grant) begegnet sie am Ort des Geschehens der – verständlicherweise – mehr als aufgewühlten Lana. Die ist sich sicher: Ihr Ex Christian Novak (Max Hemmersdorfer) hat das Baby geholt. Schließlich konnte er sich nicht mit dem Ende ihrer Beziehung abfinden, habe sie gestalkt und sei bei ihr eingebrochen.

..wird bestraft

Brasch, Márquez und Team gehen der Spur nach, Novak streitet selbstredend alles ab. Doch bald stellt sich heraus, dass er sich am Tatort befunden hat… War er es also doch?

Da wissen wir Zuschauer*innen bereits mehr, denn bei diesem von Khyana el Bitar geschriebenen und von Jens Wischnewski inszenierten Polizeiruf 110 handelt es sich nicht um eine Whodunnit-Geschichte, sondern um eine „Wie-Komme-Ich-Hier-Wieder-Raus“-Nummer. Wir sehen, wer das Baby nimmt. Es ist Inga Werner (Franziska Hartmann). So stellt sich ein WTF-Moment ein, als plötzlich Lemp bei ihr vor der Tür steht, um ihr ihren Kinderwagen zu bringen, damit sie ihn nicht selber schleppen muss. Das wollte er in gut nachbarschaftlicher Manier erledigen, bevor es zum Bahnhof und Flughafen und ab nach Schottland geht.

Doreen Brasch (Claudia Michelsen) wird von Uwe Lemp (Felix Vörtler) in dessen Wohnung für die Versorgung seiner Katze instruiert // © MDR/Felix Abraham

Inga hingegen sieht in dem Mann, über dessen Job sie sich natürlich im Klaren ist, eine Bedrohung und greift kurzerhand zum Hockeyschläger und Lemp findet sich an einen Rollstuhl fixiert wieder. Doof natürlich, dass alle denken, er sei für einige Monate verreist. Wenn Brasch auch mal versucht ihn zu erreichen, da sich herausstellt, dass es eine Verbindung zwischen Lemp, Lana und dem Verdächtigen Novak gibt…

Eine Spannung aus Ungewissheit geboren

Ihr seht also – irgendwie stecken alle irgendwo fest. Nicht zuletzt auch Brasch und Co. selber, die sich trotz aller Bemühungen mit ihren Ermittlungen im Kreis zu drehen scheinen. Allzu viel bekommen wir von diesen allerdings nicht mit: „Brasch tritt in dieser Folge ein wenig in den Hintergrund, was zwar anders ist, aber auch interessant“, wie Michelsen sagt. Denn dieser Polizeiruf, der eine wirklich gekonnte Mischung von Psychothriller und –drama ist, fokussiert sich auf die Dynamik zwischen Uwe Lemp und Nachbarin/Entführerin/Freund-Feindin Inga Werner.

© MDR/Felix Abraham

Dabei ist die Kamera von Jakob Wiessner immer nah an den Figuren, ohne dass sie voyeuristisch oder aufdringlich erscheinen würden. Genauso verhält es sich mit der die Handlung wohlmeinend begleitenden Musik von Peter Thomas Gromer. Und diese Handlung fesselt, zieht uns rein, nimmt uns auch emotional mit: „die Spannung entsteht mit der Ungewissheit, wie die Figuren aus ihren Situationen wieder herauskommen„, sagt Autorin Khyana el Bitar und das trifft es ziemlich genau.

Das Echo dürfte gespalten ausfallen

Nicht nur dabei zuzusehen, wie Lemp immer wieder versucht aus seiner Situation herauszukommen, sehr zum Frust seiner beinahe unfreiwilligen Geiselnehmerin Inga Werner (gute Geiseln sind so schwer zu finden, das war früher sicherlich anders, oder?!) oder nach und nach zu entdecken, wie es zwischen Lana und Novak wirklich lief, bietet viel Dramatik. Nein, auch wie sensibel die einzelnen – allesamt stark gespielten – Charaktere ergründet, ihre teils erschütternden Erfahrungen aufgebracht werden, ohne dass es dafür einen großen, plötzlichen Twist braucht, ist interessant. Es gibt hier keinen Red Hering, nur rote Spuren des Blutes, die zum Ende des Films durchaus zunehmen.

Inga Werner (Franziska Hartmann) nimmt den entführten Säugling in Ihrer Wohnung in Augenschein // © MDR/Felix Abraham

Dennoch dürfte der Polizeiruf 110: Du gehört mir, den wir im Grunde uneingeschränkt empfehlen möchten, wohl auf ein arg gemischtes Echo stoßen. Es wird jene wie uns geben, die ihn großartig finden. Es wird jene geben, die sich langweilen, weil is‘ ja kein klassischer Krimi mit Tod, Kaffee und bestenfalls Blödelei (sei’s drum). Und es wird jene geben, die entsetzt sind, wie im Sommer, zu Beginn der neuen Sonntags-Krimi-Saison solch ein düsterer, teils verstörender, Urängste triggender, sich um die Entführung eines Babys drehender, mit narzisstischen Figuren gespickter Film gezeigt werden kann. Stimmt – ist schon mehr ein Film für unterm Weihnachtsbaum mit der ganzen nicht entführten Familie.

AS

PS: „Ich war auch mal alleinerziehend und Kaffee holen.“ – Brasch im Verständnismodus ist dazu noch halbwegs witzig.

PPS: Da sich hier im Grunde alle Beteiligten irgendwie kennen, wäre es, würde es sich um ein True Crime handeln, eine perfekte Story für Philipp Fleiters Podcast Verbrechen von nebenan.

PPPS: Nach einem (ersten!) Misery-Moment: „Sie müssen das Knie durchdrücken. Das tut ziemlich weh, aber dann springt sie [die Kniescheibe, Anm. d. Red.] wieder rein.“

© MDR/Felix Abraham

Polizeiruf 110: Du gehörst mir läuft am Sonntag, 27. August 2023, um 20:15 Uhr im Ersten, um 21:45 Uhr auf one und ist anschließend sechs Monate in der ARD-Mediathek verfügbar.

Polizeiruf 110: Du gehörst mir; Deutschland 2023; Regie: Jens Wischnewski; Drehbuch: Khyana el Bitar; Bildgestaltung: Jakob Wiessner; Musik: Peter Thomas Gromer; Darsteller*innen: Claudia Michelsen, Felix Vörtler, Pablo Grant, Franziska Hartmann, Hannah Schiller, Max Hemmersdorfer, Susana AbdulMajid, Susanne Häusler, Safinaz Sattar; Laufzeit ca. 88 Minuten; Eine Produktion der filmpool fiction GmbH im Auftrag des Mitteldeutschen Rundfunks für Das Erste.

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