Realsatire im sich selbstauflösenden Sozialismus

Beitragsbild: Bundeskanzler Helmut Kohl (r.) und Ehefrau Hannelore (l.) während dessen geheimen DDR-Besuches vom 27. – 29. Mai 1988 in Weimar. (Hannelore Kohl (l.), Bundeskanzler Helmut Kohl (r.), dahinter von links, Sohn Kohl, Regierungssprecher Friedhelm Ost und persönlicher Referent Dr. W. Bergsdorf vor dem Lucas Cranach Haus auf dem Marktplatz in Weimar.) // © WDR/Eastblockworld.com/LOOK! Film

DDR-(Tragi-)Komödien – da kommen mensch doch direkt zwei verleichgsweise legendäre Titel in den Kopf. Zum einen Leander Haußmanns Sonnenallee aus dem Jahre 1999. Haußmann schrieb das Drehbuch zu der teils recht zotigen bisweilen aber auch hintergründigen Comedyrevue gemeinsam mit Thomas Brussig (auf dessen Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee der Film basiert) und Detlev Buck. Mit NVA (2005) und Stasikomödie (2022) inszenierte Haußmann zwei weitere Teile der so genannten DDR-Trilogie. Die beiden Filme jedoch erfreuten sich nicht ansatzweise der Aufmerksamkeit wie die Sonnenallee.

Zum anderen die international gefeierte, förmlich mit Preisen beworfene Tragikomödie Good Bye, Lenin! von Wolfgang Becker aus dem Jahr 2003 mit Daniel Brühl, Katrin Sass und Maria Simon in den Hauptrollen. Im weiteren Sinne könnten noch die leicht aufeinander aufbauenen ImproDramedys Das Begräbnis und Das Fest der Liebe genannt werden, in denen nicht nur Ost und West aufeinanderprallen (vor beim Fest), sondern es auch um Vergangenheit und Gegenwart, Verrat und Verlust, Ende und Neuanfang geht.

Fußball verbindet

Nun jedenfalls darf dieser kleinen Liste noch ein Titel hinzugefügt werden. Eine historische Satire feinster Machart, die sich der*die beste Drehbuchautor*in oder KI so wohl nicht ausdenken könnte: Geheimdiplomat Bundeskanzler: Wie Helmut Kohl die Stasi narrte, den Claus Räfle für den WDR inszenierte. Die Dokumentation, die sowohl in der arte– als auch ARD-Mediathek zu finden und am morgigen Montag um 23:35 Uhr im Rahmen der ARD History-Reihe im Ersten zu sehen ist, nimmt uns mit auf die einzige, nahezu unbekannte DDR-Reise des pfundigen Pfälzers (sorry, der musste sein) im Jahre 1988.

Diese fand im kleinsten Kreis – es begleiteten Helmut Kohl (CDU) lediglich der damalige Regierungssprecher Friedhelm Ost, sein Berater, der kürzlich verstorbene Wolfgang Bergsdorf, Kohls Fahrer und Freund Eckehard Seeber sowie Kanzlergattin Hannelore Kohl und Sohn Peter – im Rahmen eines eher ungewöhlichen Deals statt. 1987 besuchte erstmals und einmalig Staatsratspräsident Erich Honecker Bonn. Bei diesem Besuch kam es zu einem Gespräch zwischen Regierungssprecher Ost und Honecker – über Fußball. Dabei kam heraus, dass Kohl gern einmal den SG Dynamo, damals schon Dynamo Dresden, würde spielen sehen wollen. So einigte man sich also auf einen Gegenbesuch.

Interessen und Ängste

Diesen knüpfte Helmut Kohl jedoch an drei Bedingungen: Die Presse dürfe nichts erfahren. Zudem sollten ihm Begegnungen mit DDR-Offiziellen erspart bleiben. Vor allem aber wünschte er sich, nicht von der Staatsicherheit belagert zu werden. Honecker willigte ein winkwink (In einem der vielen, schön süffisanten Off-Kommentare heißt es: „So treffen sich Kohls Interessen mit Honeckers Ängsten.“) Am letzten Maiwochenende 1988 reist Kohl also nun mit oben genannter Entourage in die DDR. Auf dem Plan für den dreitägigen Beusch stehen Gotha, Erfurt, Weimar und zu guter Letzt Dresden. Informiert über die zu erwartende Ankunft sind die DDR-Grenzer. Ansonsten allerdings wissen weder die DDR-Administration noch das MfS aka die Stasi für ihre Verhältnisse erstaunlich wenig über die Reisepläne des Kanzlers (vor allem, wenn wir bedenken, dass Kohls Telefongespräche teils seit Mitte der 70er-Jahre abgehört wurden; 2001 übrigens klagte der Bundeskanzler a. D. gegen die Veröffentlichung seiner Stasi-Akte im Zuge der Ermittlungen in der Spendenaffäre).

Bundeskanzler Helmut Kohl im Gespräch mit Regierungssprecher Ost, und Sohn Peter während dessen geheimen DDR-Besuches vom 27. – 29. Mai 1988 in Weimar. (v.l.n.r. Peter Kohl, Regierungssprecher Friedhelm Ost, persönlicher Referent Dr. W. Bergsdorf und Bundeskanzler Helmut Kohl auf dem Marktplatz in Weimar.) // © WDR/Eastblockworld.com/LOOK! Film

Zwar stellt man dem Kanzler gar Honeckers persönliche Leibwächter zur Seite und setzt mehr als 1 000 MfS-Mitarbeiter ein, doch viel hilft wenig. Der damalige Bundeskanzler schafft es immer wieder seinen Über-… äh… Bewachern… uhm… Begleitern! zu entfleuchen. Stattdessen spaziert er über einen Wochenmarkt, durch Fußgängerzonen und gibt ungläubigen DDR-Bürger*innen Autogramme, macht Fotos (veraltet für Selfie) mit ihnen und tauscht sich mit ihnen aus. Das ist natürlich im Grunde der Super-Gau: Der Bundeskanzler in der DDR umrangt von neugierigen und begeisterten Bürger*innen der DDR!

Bundeskanzler Helmut Kohl (Mitte) während seines geheimen DDR Besuches in Dresden, 29.05.1988 // © WDR/Bundesarchiv Stasiunterlagen

Dies an Honecker zu geben, ist ein Ding der Unmöglichkeit – würde es doch nicht nur die Hilflosigkeit der Stasi (die in Kommentaren von Bernd Brückner, dem langjährigen Personenschützer Honeckers noch immer hör- und spürbar ist) markieren, sondern auch verdeutlichen wie nah die DDR, ja der „real existierende Sozialismus“, dem Untergang ist. Somit müssen die Protokolle kreativ aufbereitet werden. Aus dem Besuch Helmut Kohls wird im Grunde ein potemkinscher Aufenthalt. So heißt es in den Stasi-Protokollen etwa, dass Kohl erst auf sich aufmerksam machen musste, bis die Menschen ihn erkannt hätten. Sie beinahe dazu drängte, sich mit ihm abzugeben. Oder etwa, dass sein Besuch im Grunde keinen Eindruck hinterlassen habe. Informationen, die ein ahnungsloser und vermutlich ohnehin nur noch in seiner eigenen Welt lebender Honecker, gern an die Sowjetoberen weitergibt und etwa berichtet, dass der Besuch für Kohl eine Enttäuschung gewesen sei.

Ungläubiges Auflaufen

Dass dem nicht so war, ordnet nicht nur Kohls Begleiterstab ein, sondern auch der Historiker Jan Schönfelder, der 2005 mit Kohl über dessen Besuch sprach (und gemeinsam mit Rainer Erices das Westbesuch schrieb). Als Kohl den Erfurter Dom besucht, und seiner DDR-Begleitung im Priesterseminar wortwörtlich die Tür vor der Nase zuschlägt, ist der „Unglauben im Gotteshaus“ derart groß, dass einige der Kirchenschüler sich verarscht fühlen und gar nicht erst aus ihren Lernkammern kommen. Zu guten Gesprächen kommt es dennoch, wie der damalige Leiter des Priesterseminars Bernhard Dietrich zu berichten weiß.

Eine weitere heitere Episode ereignet sich ein Weimar: Hier geht man davon aus, dass der Bundeskanzler das volle Touri-Programm durchlaufen und alles außer Fack ju Goethe täte. Wie beispielsweise die Goethe-/Fürstengruft oder Goethes Gartenhaus im Park an der Ilm besuchen und ließ nun dort als Jogger, Spazigergänger und Touristen getarnte Stasi-Mitarbeiter auflaufen, die, mit Blumen zum Ablegen ausgestattet, bestens ausgerüstet schienen. Jedoch laufen diese im wahrsten Sinne des Wortes auf, denn Kohl flaniert mit Ehefrau Hannelore lieber gemütlichst durch die Weimarer Innen- und Altstadt, bevor man schließlich im Hotel Elephant einkehrt.

Götterdämmerung

Eine weitere so spannende wie unglaublich absurde Episode spielt sich in der Dresdner Semperoper ab, in der und deren eindrücklicher Königsloge die DDR-Administration sowie das MfS meinen, Kohl kontrollieren und einhegen zu können. Wie heißt’s noch gleich in Wie Helmut Kohl die Stasi narrte: „Auf dem Programm steht [Richard Wagners, Anm. d. Red.] Tannhäuser – doch für die Stasi wird es eine Götterdämmerung.“ Wohl wahr, wohl wahr. Diese beinhaltet einen filmfreifen Coup der, gemeinsam mit ihrem Mann, Ausreiseersuchenden Arzgattin Gertraud Hellinger, der an Chuzpe kaum zu überbieten ist.

Bundeskanzler Helmut Kohl (Mitte) fotografiert von Stasi Mitarbeitern während dessen Spaziergang durch Dresdner Fußgängerzone // © WDR/Bundesarchiv Stasiunterlagen

Nicht zuletzt macht der Kanzler auch bei seinem Besuch im Fußballstadion der Stasi eine lange Nase und, was soll mensch sagen: Bist du narrisch? Die Dokumentation verbindet ganz wunderbar die Erzählung der nahenden Selbstauflösung einer gar nicht so witzigen Diktatur mit der eines trick- und letztlich ruhmreichen Besuchs voller Finten und falscher Fährten, wie sie die beste Agentenkomödie nicht erzählt (da fällt mir ein, es steht noch die Review zu Argylle aus…).

Claus Räfles Geheimdiplomat Bundeskanzler: Wie Helmut Kohl die Stasi narrte ist eine kurzweilige, unfassbar unterhaltsame und sympathisch aufbereitete Geschichtsstunde, derer sich anzunehmen es sich somit in mehrfacher Hinsicht lohnt.

AS

An einem Frühsommer Wochenende 1988 – etwas mehr als ein Jahr vor dem überraschenden (?) Zusammenbruch der DDR – reiste der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl für drei Tage zu einem Besuch nach Gotha, Erfurt, Weimar und Dresden. Die Dokumentation Geheimdiplomat Bundeskanzler blättert die zeitgeschichtlich nahezu unbekannte Reise Helmut Kohls mit all ihren absurden Momenten auf und zeigt den Zustand der DDR kurz vor ihrer Selbstauflösung // © WDR/newspixx vario images

Das Erste zeigt Geheimdiplomat Bundeskanzler: Wie Helmut Kohl die Stasi narrte am Montag, 27. Mai 2024, um 23:35 Uhr, ebenso ist die Dokumentation bis zum 31. Juli 2024 in der arte– und bis zum 25. Mai 2025 in der ARD-Mediathek verfügbar.

Geheimdiplomat Bundeskanzler: Wie Helmut Kohl die Stasi narrte; Deutschland 2024; Buch und Regie: Claus Räfle; Kamera: Helmut Fischer; Sprecherin: Christin Marquitan; Eine Look! Filmproduktion

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