„Alle meine Ideen machen mir Angst“

„Wenn eine Tragödie eintritt und unseren Alltag unterbricht, gibt es keine Erzählung, keine Geschichte, die sich entfalten könnte; nur verwirrende Gefühle und den Eindruck, dass nichts mehr Sinn ergibt und wir herumgeschleudert werden.“

Vielen, die schon einmal einen herben Verlust oder eine persönliche Tragödie anderer Art erlebt haben, dürfte diese Aussage von Regisseur Christophe Honoré ein nachdenklich-entschlossenes Nicken abnötigen. Gesagt hat er dies anlässlich der Veröffentlichung seines neuen Films Der Gymnasiast, der, nachdem er den März über im Rahmen der Queerfilmnacht in ausgewählten Kinos zu sehen war, seit gestern im Verleih von Salzgeber regulär in unseren Lichtspielhäusern gestartet ist. Und der der wohl persönlichste Film des von mir hoch geschätzten Honorés ist.

„Mein Name ist Lucas, und…“

Zwar hat er sich schon in diversen Vorgängerfilmen mit Verlust und Trauer, Tragödien und Bewältigungsversuchen, Bruchstellen des Lebens und Akzeptanz beschäftigt. Dies mal düster und sexuell aufgeladen in Ma mère mit Isabelle Huppert und Louis Garrel, mal angelehnt an Jacques Demys Die Regenschirme von Cherbourg wie im großartigen Chanson der Liebe (ebenfalls mit Garrel sowie Ludivine Sagnier, Clotilde Hesme und Chiara Mastroianni) oder mit Blick auf eine junge Liebe im Lichte der AIDS-Krise in den 1990er-Jahren in Sorry Angel (mit Vincent Lacoste, Pierre Deladonchamps und Denis Podalydès).

Lucas (Paul Kircher), Isabelle (Juliette Binoche) und Quentin (Vincent Lacoste) // Foto: © Jean Louis Fernandez

Wobei Sexualität in Honorés Filmen immer eine Rolle spielte. So auch in Der Gymnasiast, in dem es um den 17-jährigen Lucas (grandios: Paul Kircher) geht, der — nach kurzer Vorahnung — seinen Vater (kurz gespielt: Christophe Honoré) durch einen tragischen Unfall verliert. Er wird aus dem Internat abgeholt und erst bei Ankunft daheim sagt man ihm, was geschehen ist. Sein in Paris lebender und sich eine Karriere als Künstler aufbauender Bruder Quentin (Vincent Lacoste) bricht in Tränen aus; seine Mutter Isabelle (toll: Juliette Binoche) nimmt ihn fürsorglich und doch aufgelöst in den Arm. 

Zuerst funktioniert der Schüler. Doch schließlich gibt es kaum ein Halten mehr. Er zuckt in seinem Bett, drückt sich ein Kissen aufs Gesicht und doch bricht der schmerzvolle Verlust in einem Schreikrampf aus ihm heraus. Familie, Freund*innen und Co. kommen, suchen ihn zu beruhigen, schließlich hilft nur eine Spritze. Von nun an folgen wir ihm, wie er bemüht ist, mit dem Verlust und offenen Fragen umzugehen. 

„…mein Leben ist zu einem wilden Tier geworden,…“

Persönlich ist der Film, da auch Autor und Regisseur Honoré seinen Vater als Jugendlicher verlor. Dennoch sei Der Gymnasiast keine Reise in die Vergangenheit, keine reine Aufarbeitung der Tragödie im eigenen Leben, er versuche ein Gefühl aus der Vergangenheit auf die heutige Realität zu projizieren. „Für mich ist Lucas jetzt eine eigenständige Figur. Ich sehe ihn eher als jungen Mann von heute denn als Erinnerung daran, wer ich war“, sagt der festivalerfahrene Honoré. Und so verbinden sich in diesem tragisch-wunderbaren Film Metaphysik und Emotion, es werden Geister gejagt und gleichsam versucht, diese hinter sich zu lassen. 

Lilio (Erwan Kepoa Falé) und Lucas // Foto: © Jean Louis Fernandez

Dabei arbeitet der Film nah an den Personen, wirkt manches Mal wie ein Tagebuch. Dies nicht zuletzt auch durch die Handkamera Rémy Chevrins, die so schnell den Blickwinkel wechselt wie Lucas’ Stimmung dies tut oder auch der kantige Quentin aufdrehen kann. Momente, die zu Beginn des Films so wirken, als würde Lucas hier womöglich im Rahmen einer Therapie interviewt werden, entpuppen sich recht schnell als filmgewordene Gedankengänge des Schülers. Dass er genau dies ist, ein Schüler, ein Junge, wird auch durch Widersprüche in Aussagen und Handlungen deutlich, in unbewusster Sprunghaftigkeit. In der Behauptung, zu wissen, wie das alles so läuft.

„…dem ich mich nicht nähern kann,…“

Etwas, das sich nicht nur im Umgang mit seiner Internatsliebschaft Oscar (Adrien Casse), sondern auch dem Mitbewohner Quentins in Paris, Lilio (Erwan Kepoa Falé), zeigt, den der Gymnasiast während seines Aufenthalt in der französischen Hauptstadt als Bezugsperson ins Herz schließt, dabei aber nicht recht zu wissen scheint, wie er ihn für sich einzuordnen hat. Seine schnoddrige und vermeintliche Allwissenheit gegenüber eines Grindr-Dates (Matéo Demurtas) steht wiederum im harten Kontrast zu einem gegengeschnittenen Moment in einer Kirche und des Gesprächs mit einem Priester (Pascal Cervo). Die sensible und eindrückliche Spielkraft Paul Kirchers kann dabei nicht genug hervorgehoben werden. 

Oscar (Adrien Casse) und Lucas // Foto: © Jean Louis Fernandez

Ausgelebte und manches Mal nur gewünschte Sexualität spielt wie erwähnt auch in Der Gymnasiast eine Rolle — sei es als Verarbeitungsstrategie oder als Entfaltungsoption… und manchmal wissen wir es genau so wenig, wie wohl Lucas selber. Auch Musik (Yoshihiro Hanno) und Farben sind essenziell für das Werk. Ein vertrautes Blau durchzieht den Film ebenso wie manch ein Rosé- oder Fliederton. Was mitnichten heißt, dass hier eine rosarote Brille getragen würde. Allerdings ist der ergreifende Film auch kein finsteres Drama, wenn auch die scheinbare Unmöglichkeit mit Schmerz umzugehen konsequent erzählt wird. 

„…ohne gebissen zu werden.“

Dabei ist es ein Gutes, dass Honoré Drama ebenso aufrichtig zu erzählen versteht wie leichtere Momente und solcher selbstverständlicher Zusammenkunft von Familie und Freunden. Durch dieses natürliche Erzählen allerdings wiegen die Augenblicke, in denen sich Tränen und Trauer Bahn brechen umso schwerer. Als ich den Film das erste Mal anschauen wollte, habe ich nach knapp zwanzig Minuten abgebrochen. Nach ein paar Jahren diverser Verluste, denen 2022 die Krone aufsetzte und einer schwierigen Woche im Vorfeld des ersten Sehversuchs, ging da wenig…

Lucas verarbeitet // Foto: © Jean Louis Fernandez

…zwei Heulkrämpfe und Wochen später allerdings der nächste Versuch. Dieses Mal aus einer anderen Stimmung heraus und wohlwissend, welche Intensität da auf mich zukommen dürfte. Der Gymnasiast hat mich noch immer mitgenommen, aber eben auch im besten Sinne berührt, an mancher Stelle verzaubert und mir vor allem wieder in Erinnerung gerufen, was ich doch eigentlich weiß: Natürlich geht es immer weiter. Nur zuweilen anders und langsamer, als wir uns das womöglich wünschen — oder von uns erwarten. Aber auch das ist okay. Der Gymnasiast ist ein Film, für den wir sehr dankbar sein dürfen. 

AS

PS: Es ist ratsam, ihn nicht unbedingt mit jemandem zu schauen, der ab und an einen Spruch reißt, um die Stimmung aufzuhellen.

Der Gymnasiast ist seit dem 30. März 2023 in unseren Kinos zu sehen.

Der Gymnasiast; Frankreich 2022; Buch und Regie: Christophe Honoré; Bildgestaltung: Rémy Chevrin, AFC; Musik: Yoshihiro Hanno; Darsteller*innen: Paul Kircher, Vincent Lacoste, Juliette Binoche, Erwan Kepoa Falé, Adrien Casse, Pascal Cervo, Christophe Honoré, Anne Kessler de la Comédie-Française, Elliot Jenicot, Matéo Demurtas; Laufzeit ca. 122 Minuten; FSK: 16; seit dem 30. März 2023 im Kino

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