Mein wunderbares Ich

Charlie — ein sehr guter Schüler, für einen 14-Jährigen erstaunlich wenig pubertär-verzickt, famoser Fußballspieler. So gut gar, dass er von einem Scout das Angebot bekommt, in die Jugendakademie eines englischen Ligaclubs aufgenommen zu werden. Vater Paul kann sich vor Stolz kaum mehr halten. Wohl auch, weil Charlie nun das ermöglicht werden könnte, was ihm selbst aufgrund einer Verletzung verwehrt geblieben war und ihn stattdessen dazu zwang, sich einen regulären, öden Job suchen zu müssen und sich mit Golf abzulenken.

Doch kann Charlie (grandios: Harry Gilby) diese Freude nicht ganz teilen. Klar, Fußball ist cool, doch ist da noch etwas, worüber Charlie mit keiner Person sprechen kann. Das ist etwas in ihm. Nämlich die echte Charlie. Charlie ist ein Mädchen, kein Junge. Mehr und mehr distanziert Charlie sich, widerspricht den Eltern Paul (Scott Williams) und Susan (Patricia Potter), verschlechtert sich in der Schule, will den Fußball aufgeben, zieht sich immer mehr in sich zurück.

Das richtige Leben…

Als Charlie etwa für eine Hochzeit einen Anzug zu tragen hat, ist ihr das Unbehagen nicht nur anzusehen, nein im Film Einfach Charlie von Rebekah Fortune überträgt sich dieses auf uns Zuschauer*innen. Wie Charlie am Kragen zerrt, den Ärmeln nestelt, sich windet. Bis sie aus der Hochzeitsgesellschaft ausbricht, losrennt in den Wald, zu ihrem Versteck. Hier hat sie ein paar der aussortierten Kleider ihrer Schwester Eve (Elinor Machen-Fortune) deponiert. Kaum aus dem falschen Anzug befreit und ein Kleid übergestreift, ist Charlie ganz bei sich.

Noch sein ganzer Stolz: Charlie und Vater Paul // © Salzgeber

Dies allerdings sieht auch der Fußballtrainer Mick (Peter Machen) — und uns schwant Böses. Was vollkommen unnötig ist, denn gerade dieser soll sich als eine der ersten Personen erweisen, die Charlie sowohl Hilfestellung als auch den einen oder anderen, wenn auch verklausulierten, guten Rat zu geben versucht. Im Gegensatz zu einem überforderten, auch recht egoistischen Vater, als der herausfindet, dass sein Sohn doch eigentlich seine Tochter ist.

…im falschen Körper…

In diesen Momenten glänzt der von Peter Machen geschriebene Film ohne Ende. Das Bedrückende, Gedrungene und Hektische, wenn Charlie ein Junge sein muss. Das Befreite, Helle und Ruhige wenn sie sie sein kann und darf. Eine Stelle, in der sie ein Bad nimmt, sich rasiert, umzieht, schminkt, wird auch dank der Bilder von Karl Clarke in Erinnerung bleiben. Dies allerdings auch durch den Bruch, als Papa reinkommt und „his little boy“ in diesem für ihn unnormalen Aufzug vorfindet und recht handgreiflich wird. 

Schwester Eve // © Salzgeber

Immerhin ist es an dieser Stelle — bzw. kurz danach — raus. Nun beginnt das Austarieren. Mutter Susan und Schwester Eve unterstützen Charlie so gut es geht; der vormals beste Freund Tommy (Travis Blake Hall) distanziert sich, wurde zuletzt aber auch von Charlie gemieden. In Ort und Schule scheiden sich die Geister. Für die einen ist sie ein Freak, eine olle Transe, ein Mann in Kleidern. Für andere ist Charlie eben einfach Charlie. 

…ist unmöglich

Durchaus schafft der Film es recht gut, neben einer charmanten und einfühlsamen Erzählweise, den Zuschauer*innen verschiedene Stufen nahezubringen, die auch das Umfeld durchläuft. Wenn Schwester Eve sich etwa darüber informiert, was genau das mit Charlie sein kann; wenn es in einem Beratungsgespräch (und einer großartigen Szene) darum geht, dass Charlie Pubertätsblocker möchte, schon immer wusste, dass da die echte Charlie ist und Mutter Susan daneben sitzt und das erste Mal ihre zweite Tochter bewusst wahrnimmt; wenn eine vormalige Freundin von geistiger Krankheit spricht und meint, Charlie würde „seine“ Meinung noch ändern und Eve sie entsprechend zurechtweist; wenn Vater Paul sich bei Trainer Mick darüber beklagt, wie Charlie all dies der Familie antun kann und der nur erwidert: „Ich glaube nicht, dass Charlie euch das antut.“

Charlie und Mutter Susan, die nun erfährt, wer ihre Tochter ist // © Salzgeber

Einfach Charlie steckt voller solcher Momente, die auch dabei helfen „aufzuklären“ ohne zu belehren. Der Ton ist meist der Richtige. Der Film changiert zwischen Leichtigkeit und leichtem Drama, ist größtenteils eine gelungene Mischung aus Coming-of-Age– und Coming-out-Geschichte. Es gibt Konflikte, aber nicht alles ist Konflikt. Die Welt ist hier nicht schwarz/weiß. Insofern irritieren die letzten zehn Minuten stark, die so gar nicht zum Rest des Films passen wollen und vermutlich noch einmal für einen MelodramaThrill-Moment sorgen sollen.

Dass das Ganze noch durch einen ziemlich mistigen und unfeinen Griff in die unterste Inszenierungskiste mit einer Art Twist, der dann wieder in harten Kitsch umschlägt, getoppt wird, mag den zuvor gewonnen, sehr, sehr positiven Eindruck von Einfach Charlie durchaus nachträglich schmälern. Bis dahin jedoch ist diese ruhig und doch nie behäbig erzählte Geschichte recht wunderbar, auch dank eines großartigen Ensembles.

AS

Einfach Charlie wird im Rahmen der sechsten Staffel von rbb QUEER als deutsche Erstausstrahlung am heutigen Dienstag um 22:45 Uhr im rbb ausgestrahlt und ist anschließend für 14 Tage in der ARD-Mediathek verfügbar.

Einfach Charlie; UK 2017; Regie: Rebekah Fortune; Drehbuch: Peter Machen; Kamera: Karl Clarke; Musik: Yann McCullough, Darryl O’Donovan; Darsteller*innen: Harry Gilby, Scott Williams, Patricia Potter, Elinor Machen-Fortune, Peter Machen, Travis Blake Hall, Jeff Alexander, Karen Bryson, Janine Hipkins; Laufzeit ca. 99 Minuten; FSK: 12; englische Originalfassung mit deutschen Untertiteln; eine Produktion von Seahorse Films LLP, im Verleih von Salzgeber

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