Flitterwochen des Lesens

Gestern, zum Welttag des Buches, schrieb ich im Text zu Buchhandel von Ursula Töller davon, wie es sei, Bücher anzufassen, wie sie riechen könnten, wie sie also nicht nur inhaltlich genossen werden dürften. Das darf im Grunde als Aufbau zur heutigen Besprechung zu Andrea und Dirk Liesemers Tage in Sorrent dienen, denn dieses erfrischende Buch ist sowohl inhaltlich wie auch in der Aufmachung ein Genuss.

„Ein jeder Gedanke ist eine Welle, die ausläuft in eine andere“

Das beginnt beim wunderbar zu greifenden, matten und festen Schutzumschlag, der, gestaltet von Nadja Zobel und Petra Koßmann vom mareverlag, die Zeichnung eines Zitronenbaums mit dem Titel „The Ornamental Tree“ von C.F.A. Voysey, zu finden im Victoria and Albert Museum, London, zeigt und auf dem Buchrücken durch ansprechende Gestaltung zu erfreuen weiß. Das sommerlich gelbe Vorsatzpapier bringt einen wohlstimmenden Einstieg in das fantastisch riechende Buch, in dem wir uns bei Pausen die für die Augen angenehm bedruckten Seiten mit einem robusten und doch weichen Lesebändchen markieren können.

Doch nun zum Lesen, das, es ist natürlich kein Muss, aber doch eine Empfehlung, bei Büchern eben dazu gehört. Vor einiger Zeit las ich in einer Besprechung zu einem anderen Titel, den auch wir rezensiert haben, dass sich die Rezensentin gern beinahe jeden Satz markiert und herausgeschrieben hätte. Auch ich mochte das Buch, das dort besprechen wurde, aber so weit ging es dann doch nicht. Bei Tage in Sorrent hingegen sehr wohl. Nicht jeden Satz, nein, aber reichlich. Vor allem die Ausarbeitung der aufeinander aufbauenden, von Nichtigkeit zum Wesentlichen führenden Sätze, also sozusagen die Satzkonglomerate der einzelnen Absätze, begeistern. Sprachlich, formal und im Klang ist es ein glänzendes Buch.

Was natürlich noch lange nicht heißt, dass es auch inhaltlich trägt. Genera+ion ist formal und optisch zum Beispiel eine ganz tolle Serie, inhaltlich aber doch eher ermattend. Ermattet geht es auch in Tage in Sorrent zuweilen zu; das jedoch überträgt sich nicht auf uns als Leser:innen. Durchaus fühlen wir mit dem gerade einmal 32-jährigen, kränklichen, darunter, aber auch seinem eigenen Ego und Narzissmus leidenden, Friedrich Nietzsche, der im Sommer 1876 auf Einladung der Schriftstellerin und Förderin von Kunst, Gleichberechtigung der Frauen und unverbesserlichen Idealistin Malwida von Meysenbug gemeinsam mit dem Philosophen Paul Rée und seinem Assistenten Albert Brenner in eben jenes Sorrent am Golf von Neapel, ganz in der Nähe von Pompeji reist.

„Dass wir uns wichtigmachen, merkt das Publikum immer und wir nie“

Nietzsche, unzufrieden mit der ihn und seine geistige Freiheit einengenden Universtitätsumgebung in Basel, nimmt dankend an, auch wenn kurz nach der Ankunft ein Essen mit Richard und Cosima Wagner geplant ist, auf die Nietzsche seinerseits seit einiger Zeit nicht mehr gut zu sprechen ist. Eine verbürgte Fehde, die später – im Buch taucht dies nicht mehr auf – auch noch das Verhältnis von Malwida von Meysenbug und Nietzsche erschüttern sollte.

Denn die Wagners, ja sie sind Antisemiten, was auch im Buch sehr fein und doch direkt herausgestellt wird; allein schon wie sie den „Israeliten“ Paul Rée, der in eine jüdische Familie geboren wurde, die später zum Christentum konvertiert, was, so lesen wir in Tage in Sorrent, einen Stachel in ihm hinterließ, der zeitlebens schmerzen sollte. Rée allerdings ist auch nicht sonderlich angetan von diesen geistig obszönen Wagners und einer Cosima, die keine Ahnung von Evolution und „Darwin grob missverstanden hat“. 

Nietzsche wird den Wagner in Gedanken noch einen „heillos überschätzten Tonmeister“ und einiges Weitere nennen, einen Heuchler sowieso, und was soll ich sagen? Ja. Doch steht dieser Konflikt, diese letzte Abnabelung von Wagner nicht im Zentrum der Erzählung, wenn sie auch dazu führt, dass wir erfahren, wie Nietzsche seinen Geist befreite, dabei eine Wüste zu „durchwandern und alles einst Verehrte, alle, an die er fest geglaubt hat, hinter sich [zu] lassen“ hat. 

„Lesen Sie und lassen Sie uns also zurück in eine bessere Zeit reisen!“

Apropos wandern: Fräulein von Meysenbug, ihr Hausmädchen Trina, Paul Rée, der schwindsüchtige Albert Brenner und Friedrich Nietzsche sind viel unterwegs. Ausführlich erleben wir die Reise aus der Schweiz nach Sorrent über Genua, Livorno und Pisa oder im Falle von Meysenbugs etwas kürzer von Rom aus. Es geht nach Capri, Pompeji (eine eindrückliche Stelle), auf den Vesuv und zumindest im Geiste an die Amalfiküste. Für geneigte Leser:innen mag Tage in Sorrent, das nicht müde wird, ohne jedoch uns zu ermüden, die Tuffsteinterrassen der Stadt an Steilklippen zu beschreiben, als ein Reiseführer der anderen Art oder wenigstens ein Ideengeber dienen. 

Nun sei es meiner Affinität zu Italien geschuldet, doch natürlich möchte ich sofort dorthin und auf den Spuren des zwar wenig sympathischen, in diesem Buch aber doch nahbaren Nietzsches wandeln, Zitronen- und Olivenbäume bestaunen und beschwingt im Meer toben. Es gibt übrigens eine Stelle, an der Rée allein bis zur Erschöpfung und darüber hinaus weit raus schwimmt. Sie gibt tiefe Einblicke in diese Person. Andrea und Dirk Liesemer schaffen es, uns die Wesenszüge eines komplexen Menschen in wenigen Sätzen deutlich zu machen, ohne zu vereinfachen. 

„Ist nicht immer ganz einfach mit ihm“

Natürlich ist Tage in Sorrent, darauf wird auch hingewiesen, ein Werk der Fiktion. Und doch wird reichlich aus den Schriften Nietzsches zitiert – etwa wenn er seinem gehetzten Sekretär Brenner zackig spazierend diverse Aphorismen diktiert – ebenso aus Tagebüchern und Briefwechseln; jene Stellen sind im Buch kursiv und laden dazu ein, sich genauer mit diesen sehr eigenen Personen auseinanderzusetzen, denen wir uns nach 250 Seiten schon recht verbunden fühlen und deren Stellung und Funktion in der Gesellschaft wir einordnen können. Jedenfalls müssen wir nicht wie Yolanda Hadid fragen „Who is Adrienne Maloof in this world?“

Immer wieder geht es auch um unterschiedliche philosophische Betrachtungen der Welt, eine sehr gläubige Malwida von Meysenbug, die in den drei jungen Männern ihre Buben, ja Söhne sieht, gerät immer wieder mit dem nüchternen Denken Paul Rées aneinander, der „das Verhalten der Menschen auf biologische Gegebenheiten zurückzuführen“ und hinter jeder guten Handlung Eigennutz zu entdecken weiß. Dass ausgerechnet er es ist, der als einziger die Unmöglichkeit der Idee in Sorrent oder der Umgebung eine freie und freiheitliche Akademie zu gründen, erkennt, wie es von Meysenbug und Nietzsche vorschwebt, ist nur folgerichtig. 

„Am Ende läuft alles darauf hinaus, in mannigfaltiger Form wiederzukehren“

Die Gedanken, Debatten und Bestimmungen fliegen nur so umher, oft in indirekter Rede, was den Text wunderbar fließen und uns nicht immerfort bemerken lässt, wie viel hier an und in Details versteckt ist, welch kleine Grade der Figuren wir vermittelt bekommen. So ist Tage in Sorrent also auch ein Buch, in dem mit Freude manch eine Stelle ein weiteres Mal gelesen wird. Zudem ist es ein unglaublich witziges Buch; mal garstig, mal liebevoll, mal ironisch, mal bitter, ob so oder so: Es darf gelächelt und gelacht werden.

Darüber hinaus besticht das Buch dadurch, dass es komplexe Gedankengänge und Personen durch Sätze so reflektiert funkelnd wie Sonnenstrahlen auf einem mild fließenden Bächlein schafft, die uns einnehmen und gebannt am Text entlang spazieren lassen. Tage in Sorrent lässt also niemanden zurück, ganz im Gegenteil. Wie die Luft im damaligen Genua, ist das Buch leicht und angenehm frisch, ohne jede Seichtigkeit und hinter einer freundlichen Fassade, verbirgt sich so viel, dass ich es zum mit Abstand Besten zählen möchte, das ich in langer Zeit gelesen habe und belletristisch ist es für mich definitiv das bisher beste Buch des Jahres, das trotz der Verankerung im 19. Jahrhundert sehr ins Jetzt passt.

AS

PS: Die „fünf Grade“ von Reisenden, die Nietzsche unterscheidet – wunderbar.

PPS: Es gibt sehr, sehr viele Momente, die Nietzsches weiteren Veröffentlichungen vorgreifen; wie Andrea und Dirk Liesemer die Geschichte mit einer philosophischen Denkschule und der Ausbildung beziehungsweise Reifung von Gedanken verknüpfen – Chapeau.

PPPS: Ebenso Chapeau, wie sie Malwida von Meysenbug, die ohne jede Bosheit teilweise wunderbar schrullig auftritt, Nietzsches teils recht frauenverachtende Ansichten zerpflücken lassen.

PPPPS: Womöglich spricht es mich auch deshalb so an, weil sich hier Belletristik und Sachbuch treffen; wenn auch ein Werk der Fiktion, ist es im Kern dennoch keine nur „occassionally true story“ wie jene einer gewissen großen Katharina und ihres unglaublich heißen Mannes Nicholas Hoult, äh, Peter.

PPPPPS: Bei Hanser ist in diesem Frühjahr ein dickes Buch über Malwida von Meysenbug erschienen.

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Andrea und Dirk Liesemer: Tage in Sorrent; Februar 2022; 256 Seiten; gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen; ISBN: 978-3-86648-601-0; mareverlag; 23,00 €

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