Ein Satz mit „X“, das war wohl krassx

Es ist so schwer ungestört einen guten Porno zu drehen und noch am Leben zu sein, wenn er womöglich einmal das Licht der Welt erblickt. Diese Erfahrung jedenfalls soll eine Gruppe Menschen machen, die im Jahre 1979 von Houston aus auf eine Farm ins ländliche Texas fährt, um dort in einem gemieteten Nebengelass in Ruhe ihren Film zu drehen. Schließlich entdeckt die Welt gerade die VHS-Kassette — unendliche Vermarktungsmöglichkeiten also für Filme, die doch gern eher im Privaten geschaut werden.

Titel für Klassiker

Doch schon die Ankunft von Produzent Wayne (Martin Henderson) und dessen Verlobter Maxine (Mia Goth) sowie Regisseur RJ (Owen Campbell), der zeigen will, dass es möglich ist, einen guten schmutzigen Film zu machen, seiner Freundin Lorraine (Jenna Ortega) und den, neben Maxine, Stars des Films Bobby-Lynne (Brittany Snow) und Jackson Hole (Scott Mescudi aka Kid Cudi) gestaltet sich holprig. Zwar werden sie nicht wie sonst so gern in 70er-JahreSlasher-Reminiszenz-Filmen an dunkler Gasstation unheilvoll gewarnt…

Ankunft der Crew // © capelight pictures/Christopher Moss

…wohl aber bedroht ihr Vermieter Howard (Stephen Ure) Wayne erst einmal mit einem Gewehr. Die Farm sei schließlich Privatgelände und er dürfe schießen. Das Missverständnis ist schnell ausgeräumt, die bunte Truppe bezieht das Haus — erbaut im Ersten Weltkrieg für Soldaten — und „Pops“ Howard lässt sie noch einmal wissen, dass sie ihm alle suspekt sind. Sei’s drum: Los geht der Dreh von „The Farmer’s Daughters“. Ein Titel, der schon andeutet, dass der Film zum Klassiker taugt.

Kein Trittbrettfahrer

Allein, wie von mir angedeutet, wird das alles nicht so einfach sein in Ti Wests X, seinem ersten Film nach längerer Pause. Diese gönnte er sich, nachdem seine WesternKomödie In a Valley of Violence floppte. Zwar inszenierte er hier und da mal eine Serienepisode, schuf aber nichts Eigenes mehr seit 2016. Bis er sich im vergangenen Frühjahr eben mit X zurückmeldete — und die Zuschauer*innen ihm ihre Herzen zuwarfen, er auf Festivals, unter anderem hierzulande auf dem Fantasy Film Fest, abgefeiert wurde und großen Erfolg an den Kinokassen hatte.

Sheriff Dentler (James Gaylyn) schwant Schreckliches // © capelight pictures/Christopher Moss

Zurecht, zurecht! Denn im Gegensatz zu vielen Trittbrettfahrerfilmen, die irgendwie versuchen ein wenig vom Ekelcharme des klassischen Texas Chainsaw Massacre-Films oder von Das letzte Haus links einzufangen bzw. diesen zu kopieren, schafft West, der 2011 mit The Innkeepers einen famosen Grusel-Horror geschaffen hat, es, etwas Eigenes zu kreieren und doch an mancher Stelle den großen 70er-Jahre-Slashern Respekt zu zollen. Das gelingt ihm, der den Film inszeniert, geschrieben und produziert hat, nicht zuletzt dadurch, dass er sich Zeit nimmt.

Mehr wollen

Zeit dafür eine Geschichte zu erzählen, die eigentlich weniger Geschichte als mehr das Bild verschiedener Charaktere ist, die in einer Episode voller Umbrüche einerseits als Aussätzige behandelt werden — sie lieben Sex und stehen dazu —, andererseits gefragter denn je sind, denn nahezu alle lieben Sex, stehen aber nicht dazu. „Queers, straight, black, white… it’s all disco“, sagt die als blonde Sexbombe mit Köpfchen auftretende Bobby-Lynne. Dazu erinnert immer wieder ein Fernsehprediger an den vergebenden Gott — der Mensch allerdings habe seine Grenzen. 

„It’s all disco“, meint Bobby Lynne (Brittany Snow) // © capelight pictures/Christopher Moss

Ebenso geht es darum, mehr zu wollen. Maxine, die von Mia Goth hervorragend präsentiert wird, sagt an einer Stelle, „I have cosmopolitan taste“. Das ist eine Ansage an ihren Verlobten Wayne: Mach mich zum Star oder schau dir die Staubwolke an, die ich hinterlassen werde. Staubig geht es ohnehin an mancher Stelle zu, vor allem aber sonnendurchflutet in grobkörnigen Bildern. Der 70er-Jahre-Stil passt und weiß zu gefallen.

Perfekt? 

Der Sonne entgegen steht der düstere und beklemmende Ton, der X ebenfalls durchzieht und der in nicht wenigen Momenten beinahe in eine Art melancholische Tragik mündet. Als es dann im Lauf der zweiten Filmhälfte anfängt wirklich blutig und kreativ brutal zu werden, mangelt es dennoch nicht an tragikomischen Momenten, die die Zuschauer*innen in die möglicherweise unangenehme Situation bringen, mit den mordenden Alten sympathisieren zu können…

Hallo?! Jackson Hole (Scott Mescudi) und Howard (Stephen Ure) // © capelight pictures/Christopher Moss

…so mag West es aber auch angelegt haben. Schließlich startet auch in Deutschland Anfang Juni endlich das X-Prequel Pearl in unseren Kinos (in den USA lief es bereits im September 2022), das die Vorgeschichte der sich den Kopf zermarternden Mörderin erzählt. Natürlich wieder mit Mia Goth in der Hauptrolle (die hier unter viel Make-Up bereits Pearl ist) und die unser Gastautor Alexander Schütz unfassbar gut fand, als er den Film im Rahmen der diesjährigen Fantasy Film Fest Nights sah. „Ein perfekter Film“, schreibt er über Pearl

Na, fast.

Ein perfekter Film ist X nach Meinung dieses Rezensenten noch nicht, aber beinahe. Er ist famos besetzt. Neben Goth glänzen vor allem Jenna Ortega, nach zwei Scream-Filmen und ihrer Rolle als Wednesday in der gleichnamigen Netflix-Serie sehr versiert im Horror-Genre, Brittany Snow und Martin Henderson. Der bedrohlich gefühlvoll wabernde Score von Tyler Bates und Chelsea Wolfe überzeugt ebenso wie diverse Distanz- und Nahaufnahmen von Kameramann Eliot Rockett. 

Aua! Jenna Ortega als „churchmouse“ Lorraine // © capelight pictures/Christopher Moss

Dennoch leidet die Spannung womöglich ein wenig darunter, dass von Beginn an klar ist, wer hier das Final Girl sein dürfte und es im Grunde nur darum geht, wie alles zum Ende findet. Dies wiederum geschieht durchaus horrortauglich und dürfte vor allem Genrefans erfreuen. Zudem ist Ti Wests X witzig ohne lächerlich zu werden; sexuell aufgeladen ohne trashig zu sein; hintergründig ohne prätentiös zu werden. Also vielleicht doch ein perfekter… Nein, nein, nicht ganz. Aber fast. 

JW

PS: „Moo.“ — „Oh shut up, cheeseburger. Go wander into traffic.“

X; USA 2022; Regie, Buch und Produktion: Ti West; Bildgestaltung: Eliot Rockett; Musik: Tyler Bates, Chelsea Wolfe; Darsteller*innen: Mia Goth, Jenna Ortega, Martin Henderson, Brittany Snow, Owen Campbell, Stephen Ure, Scott Mescudi, James Gaylyn, Simon Prast, Bryony Skillington; Laufzeit ca. 106 Minuten; FSK 16; erhältlich als VoD, Online-Kauf, DVD und BluRay (diverse Editionen)

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