Die Sissy, die hat uns alle lieb

[Mit Gewinnspiel am Ende des Textes]

Besonders viel braucht es nicht, um zu dem Schluss zu kommen, dass die Menschen es schätzen, sich von Geschichten unterhalten zu lassen, in denen hinter einer glatten, guten, gediegenen Fassade etwas lauert… etwas Unerwartetes… etwas Böses… *muahahaha*! Wobei das oft gar nicht so unerwartet ist, denn die Trailer von Filmen oder die Klappentexte von Büchern verraten uns dies bereits. Dafür erwischt es aber manch eine Figur dann umso kälter — und wenn das gut umgesetzt wird, dann sind wir gern an Bord und erleben manches Mal doch noch Unerwartetes.

Einen kleinen Twist in diese Formel bringt der ziemlich queere, ziemlich garstige und recht hintergründige Slasher (Nenn sie nicht) Sissy, den Hannah Barlow und Kane Senes gemeinsam geschrieben und inszeniert haben — und die dabei gemeinsam mit ihren Hauptdarsteller*innen offensichtlich so einigen Spaß hatten. Huzzah! 

Chill mal, bist doch was Besonderes

Aisha Dee, die wir alle in The Bold Type als nicht-heterosexuelle Kat Edison kennen- und liebengelernt haben, ist Cecilia, eine erfolgreiche Influencerin, die mit ihrem Kanal einem großen Haufen Menschen dabei hilft, durch den Alltag zu kommen. Zum Beispiel indem sie ihnen Atemübungen nahelegt, wenn es mal wieder zu einer Panikattacke kommen sollte. Ihrer Follower*innenschaft predigt sie dabei immer wieder ihr Chill-Mantra: „Ich werde geliebt. Ich bin etwas Besonderes. Ich genüge mir. Ich gebe mein Bestes. Wir alle tun das.“

Durchatmen! // © Highway Films

Ende des Films. Nein, nein, keine Sorge. Aber creepy genug klingt das dennoch schon einmal. Eines Tages trifft Cecilia zufällig ihre beste Freundin aus Kindheitstagen, Emma (Hannah Barlow), wieder. Diese lädt „Sissy“, so ihr Spitzname damals, prompt zu ihrer Verlobungsparty ein; nachdem Cecilia Emma darüber aufgeklärt hat, dass sie nicht mehr Sissy genannt werden möchte, gehen die beiden heiter weiter. Auf der Party trifft Cecilia auf Emmas Verlobte Fran (Lucy Barrett), den herrlich flamboyanten Jamie (Daniel Monks) und seine beste Freundin Tracey (Yerin Ha).

Fröhlich geht es zu bei Karaoke, Witzen, Kotzen auf’s Shirt, Haare halten, Glitzer und Sternchen, Erinnerungen und so weiter und so fort. Cecilia wird zur Bachelorette-Party von Emma und Fran eingeladen. Endlich ist sie wieder Teil des Lebens ihrer vormals besten Freundin! Doch auf der Fahrt zur Party sich heraus, dass diese im Haus von Alex (spektakulär: Emily De Margheriti) stattfinden soll. Die war sowohl Grund für den Bruch der Freundschaft als auch jener, warum Cecilia „Sissy“ geschimpft wurde und während der Schulzeit als geisteskrank verschrien war…

Öfter mal drüberwegfahren

Da passt es, dass auf dem Weg zur Feier ein Känguru (ja, wir sind in Australien) angefahren wird, das nun noch sterben muss. „Wir sind in Australien Baby, wir fahren einfach drüber“, sagt Tracey. Wo sie recht hat, hat sie recht. Von nun an jedenfalls ist die Stimmung ein wenig weniger gelöst und Cecilia gerät irgendwie auf das Abstellgleis. Nach Ankunft in Alex’ Villa wird das nicht weniger schlimm, außerdem ist da die Frage, wo diese Narbe auf ihrer Wange herrührt…

Was sich nun entwickelt ist eine herrliche Mischung aus Dark Comedy, Gesellschaftskritik, den Fragen, was Trauma der Kindheit in der Gegenwart mit uns machen können und wie Gruppendynamik und Schikane auch im (jungen) Erwachsenenalter Schaden anrichten können und natürlich solidem Slasher. Dass ich nun „Trauma“ und „Schikane“ mit dem Wort „herrlich“ verbinde, mag zunächst einmal seltsam anmuten. Liegt aber daran, dass Hannah Barlow und Kane Senes es in ihrem Drehbuch zu Sissy schaffen, eine glaubwürdige Balance zwischen alldem zu finden. Und wäre „Schikane“ nicht unterhaltsam, gäbe es schlicht kein Reality-TV (das auch im Film sein Fett wegkriegt).

Blutig-hintergründiger Camp

So gibt es Momente in Sissy die wunderbar camp sind, andere berührend, einige schreiend komisch, wie auch solche, die tief in die Abgründe von Neid und Ego blicken lassen. Wenn etwa in der Tischszene darüber gesprochen wird, WAS Cecilia eigentlich mit ihrem Account macht, welche Verantwortung sie damit trägt und eigentlich so gar nicht die Ausbildung dafür besitzt, ist es verständlich, dass ihr das zusetzt (zumal es nur aufgebracht wird, um sie aufzubringen). Genau so ist es aber schlicht wahr — und eine Frage, die viel öfter an Influencer*innen gerichtet werden sollte.

Dinner from Hell? // © Highway Films

Wir merken, es brodelt in der jungen Frau (auch dank einer glanzvollen Leistung Aisha Dees). Wir merken, sie bemüht sich, sich zusammenzureißen. Wir merken, das wird nicht mehr lange gutgehen. So sitzen wir also da, und in unsere pikierte Heiterkeit mischt sich die Wartehaltung, wann das denn alles hochgeht. So schleicht sich der Film gekonnt mit unseren Erwartungen spielend, an die Stelle, an der sich alles wendet…

Die richtigen Fragen

…von hieran könnte sich auch in manchen Zuschauer*innen etwas drehen. Schrieb ich in meine Notizen eben gerade noch „Blut ja, aber kein Splatter/Gore“, strich ich den Satz kurz danach. Denn ja — das Känguru bleibt nicht der einzige „roadkill“. Wir sind ja schließlich in Australien. Es wird also genauso blutig und kreativ gestorben wie zuvor Witze gerissen und Kritik geübt wurden (auch wenn es nicht so ein Blutrausch wird wie Project Wolf Hunting). Parallel dazu gibt es immer weitere Einblicke in Cecilias Innenleben, mit dem ebenso viele Antworten gegeben wie Fragen aufgeworfen werden.

Hey! // © Highway Films

Liebt sie Emma? Oder ist sie schlicht besessen (Hey, You!)? Haben langjähriges Mobbing sie geformt? Oder war der Wahn schon immer da? Wieso ist sie mit der Schwungkraft ihrer Hand nicht Golf- oder Tennisspielerin geworden? Außerdem: Für wen sollen wir sein? Der Film lässt auch uns hinterfragen, wie wir Täter- und Opferrollen ausgestaltet sehen. In diesem knallbunten SatireHorror mit dezentem 80s-Flair und hervorragendem Score von Kenneth Lampl ist nämlich rein gar nichts schwarz-weiß.

Sissy ist eine Empfehlung auf voller Länge. Er funktioniert auf nahezu jeder Ebene. Erzählt selbstverständlich Queerness, stellt die richtigen Fragen, ohne zu belehren. Liefert gerade so viele Antworten, dass auch wir noch ein wenig zu tun haben. Und ist witzig, bunt, überraschend und blutig. Sissy zeigt, wie freigeistig, mutig und innovativ Independent-Kino sein kann — schade, dass dem Film hierzulande keine Kinoauswertung vergönnt war.

JW

PS: Statt „flamboyant“ wollte ich „tuckig“ schreiben, weil ich das Wort und die Attitüde liebe. Das wäre aber wohl falsch verstanden worden. Obwohl beides exakt dasselbe bedeutet. Boom! Handknicks, Umdrehung, Abgang. 

PPS: Apropos „Camp“ — demnächst gibt es unsere Besprechung zu They/Them. Ebenfalls ein queerer Horrorfilm, der aber einen gänzlich anderen und weit ernsteren Ansatz wählt. Stichwort: Konversionscamp

PPPS: Nicht nur über den Film sind wir begeistert, sondern auch darüber, dass wir ein Gewinnspiel* dazu haben. Der Verleih Plaion Pictures und die betreuende Agentur PURE Online haben uns jeweils eine DVD und eine BluRay zur Verfügung gestellt. Alles, was ihr tun müsst um zu gewinnen, ist bis zum 14. März 2023, 23:59 Uhr unter diesen Beitrag oder den Instagram- oder Facebook-Post zu kommentieren (natürlich freuen wir uns auch, wenn ihr uns dort folgen wollt), warum der Film unbedingt zu euch soll. Die kreativste Antwort gewinnt (bitte gebt an, ob ihr die DVD oder BluRay haben wollt). 

*Das Gewinnspiel läuft bis zum 14. März 2023, 23:59 Uhr — die Gewinner*innen werden am 15. März von uns benachrichtigt. Teilnahmeberechtigt sind alle natürlichen Personen ab 18 Jahren mit Wohnsitz in Deutschland. Facebook und Instagram stehen in keinerlei Verbindung mit dem Gewinnspiel. Der Gewinn ist nicht bar auszuzahlen. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. 

Sissy ist seit dem 23. Febraur als DVD, BluRay und Video-on-Demand erhältlich.

Sissy; Australien 2022; Buch und Regie: Hannah Barlow, Kane Senes; Bildgestaltung: Steve Arnold; Musik: Kenneth Lampl; Darsteller*innen: Aisha Dee, Hannah Barlow, Emily De Margheriti, Daniel Monks, Yerin Ha, Lucy Barrett, Shaun Martindale, Amelia Lule, Camille Cumpston, April Blasdall, Melissa Brownlow; Laufzeit ca. 102 Minuten; FSK: 18

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Comments

  1. Das von Hannah Barlow und Kane Senes inszenierte, stilistisch nicht klar zuordenbares Filmwerk wird von mir dringend benötigt, um potentielle Parallelen zwischen Cecilia und realen prominenten Influencerinnen zu erkennen und die Gesellschaft vor ihren mephistophelischen Mordgelüsten zu warnen!

    1. Mit reichlich Verspätung – Herzliche Glückwünsche zum Gewinn der BluRay von „Sissy“. Jippie! Wir kontaktieren Dich in Kürze via der für den Kommentar angegebenen Mail-Adresse.

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