Tiger, Tiger in der Wand

Mensch sollte öfter mal was Neues probieren. Ein neues Reiseziel zum Beispiel. Oder Insekten als Nahrungsmittel. Oder mal in die Oper statt immer nur ins Musical. Oder eben mal sehr exotische Gaumenschmäuse — von Wildkatzen bis Szenedrogen. Das und noch viel mehr bietet der neue Tatort: Die Nacht der Kommissare des Stuttgarter Teams Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare), der am heutigen Sonntag die Sommerpause einläutet.

Kopflos(e Ermittlungen)

Wir steigen direkt in den Fall ein, der die Kommissare samt Gerichtsmediziner Dr. Daniel Vogt (Jürgen Hartmann) offenbar bereits seit einiger Zeit beschäftigt. Der Kopf von Boris Kellermann (Thomas Gräßle) ist nämlich im Neckar aufgetaucht, der Torso hingegen bisher nicht. Da es sich ohne Kopf dennoch nur selten gut leben lässt, müssen die Ermittler unabhängig vom Vorhandensein einer Fußnote mit ihren Ermittlungen beginnen. Vor allem Lannert scheint eine Spur zu verfolgen – wir sehen ihn zu Beginn in einem dunklen Zimmer, wie er vor blutverschmierten Utensilien steht.

Eilig kann er ein Bild dieser Szenerie an seinen Kollegen Bootz senden, aber daraufhin bricht der Kontakt ab. Auf Umwegen findet Bootz Lannert etwas später in der herzlich einladenden Kneipe des Tote, in der sich unter anderem Jan Hanika (Frederic Linkemann) und Jessy Schwanitz (Rilana Nitsch) aufhalten. Lannert jedoch ist nicht mehr Herr seiner Sinne, irgendeine Droge scheint ihm verabreicht worden zu sein

Nächtliches Unboxing – Wer braucht noch einen Schnellkochtopf? // © SWR/Christian Koch

Woran er sich aber erinnern kann: Es wird heute Nacht geschehen – was auch immer „es“ ist. Obwohl druff ohne Ende schleppt Bootz also Lannert durch eine denkwürdige Nacht, in der sie Lkws auf dunklen Parkplätzen durchsuchen lassen, ein Katerfrühstück (oder eher Spätstück) futtern und auch mal vor einer ikonischen Wand für kleine Kommissarentiger müssen…

Kein Alk, nur Ulk

Öfter mal was Neues probieren… Dieser Gedanke lag offenbar auch diesem Tatort zugrunde, wie Autor Wolfgang Stauch in seinem Statement im Presseheft implizit schreibt. Es sollte eine Art Krimikomödie werden. Das kennen wir vor allem aus Münster (ja, natürlich darf ein Hinweis auf die auch im genannten Heft nicht fehlen), wo das oft funktioniert, zumindest wenn wir der Quote Glauben schenken dürfen. 

Die Bechtles, Dieter (Klaus Zmorek, links), Arthur (Valentin Erb) und vor allem Beate (Therese Hämer) haben den großen Deal geplant, um endlich ihren Hof zu verlassen und ein weniger mühsames Leben anzufangen // © SWR/Christian Koch

Ulkig fanden wir auch den letzten Weihnachtstatort mit dem sonst eher bräsigen Münchener Team. Das hatte nicht funktioniert, wie die Quote bewies (es war offenbar der schlechteste Tatort 2022). Wir hatten uns dennoch weggeschossen und zwar nicht mit Glühwein, sondern vor Lachern. Wir sehen also, manche Experimente sind nicht ohne.

„Ich liebe dich!“

Egal, zurück zu diesem Stuttgarter Fall. Der wartet nämlich durchaus mit humorvollen und fast kafkaesken Szenen und Momenten auf. Das liegt einerseits zu großen Teilen daran, dass Stauch beim Drehbuch tatsächlich ein paar recht witzige Einfälle und Wendungen hatte, die zwar manchmal ein wenig weit hergeholt sein mögen. Aber wir sind von Tatorten schon ganz anderes gewohnt.

Jessy Schwanitz (Rilana Nitsch) und Jan Hanika (Frederic Linkemann) betreiben nicht nur die Kneipe, in der Lannert abgestürzt ist, sie müssen außerdem von ihrem geplanten Deal ablenken, bei dem Polizei eher nicht willkommen wäre. © SWR/Christian Koch

Das liegt andererseits aber an der herausragenden schauspielerischen Leistung zahlreicher Nebendarsteller — neben den beiden genannten Linkemann und Kitsch auch Therese Hämer, Klaus Zmorek und Valentin Erb, die die zwielichtige Familie Bechtle verkörpern, sowie Poki Wong, der den noch zwielichtigeren Katzenliebhaber Zhou spielt — und vor allem der Hauptdarsteller. Richy Müller ist einfach grandios absurd, wie er high durch die Stuttgarter Nacht streift und versucht, seine Erinnerung zu durchkämmen. Oder sich von Felix Klare vielmehr im eigenen Porsche chauffieren lässt, nicht ohne ihn zu bedrohen, falls dieser seinem Baby etwas antun würde.

Schöne Bilder, würdiger Saisonabschluss

Dazu kommen die feine Regie von Shirel Peleg sowie die überzeugende Kameraführung von Andreas Schäfauer, die herrlich abstruse Bilder produziert, wie beispielsweise das bereits angedeutete Pissoir-Date der Kommissare vor rot-schwarzen Kacheln. Das entschädigt auch dafür, dass manche Pointen vielleicht nicht so zünden oder der eine oder andere Zusammenhang vielleicht doch etwas weit hergeholt erscheinen mag.

Im Goldenen Tiger haben Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) eine wichtige Spur gefunden. Wenn sie nur wüssten, welche … // © SWR/Christian Koch

Schlussendlich bleibt zu sagen, dass der Tatort: Die Nacht der Kommissare ein würdiger Abschluss der diesjährigen Tatort-Saison vor der Sommerpause ist. Und gerade, was die Folgen aus Stuttgart betrifft, ist Die Nacht der Kommissare noch einmal eine ganz andere Nummer als beispielsweise der bitterernste und zeitgemäße Neujahrstatort: Videobeweis, bei dem es um eine (erdachte?) Vergewaltigung ging oder auch der Fall Der Mörder in mir, in dem wir es mit einer Fahrerflucht zu tun hatten.

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Felix Klare und Richy Müller mit Kameramann Andreas Schäfauer beim Dreh vor dem Goldenen Tiger // © SWR/Christian Koch

Tatort: Die Nacht der Kommissare läuft am 18. Juni 2023 um 20:15 Uhr im Ersten, um 21:45 Uhr auf one und ist anschließend für sechs Monate in der ARD-Mediathek verfügbar.

Tatort: Die Nacht der Kommissare; Deutschland 2023; Buch: Wolfgang Stauch; Regie: Shirel Peleg; Kamera: Andreas Schäfauer; Musik: Jasmin Reuter; Darsteller*innen: Richy Müller, Felix Klare, Jürgen Hartmann, Therese Hämer, Klaus Zmorek, Valentin Erb, Frederic Linkemann, Rilana Nitsch, Poki Wong, Bernd Gnann, Thomas Gräßle; Laufzeit ca. 88 Minuten

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