„Mehr Raute gibt’s nicht“

Im vergangenen Jahr, kurz vor Ende ihrer Kanzlerinnenschaft, mitten in Sommerloch und Wahlkampf ploppten diverse Dokumentationen und Buchveröffentlichungen zu Angela Merkel auf. Vor allem die filmischen Dokumentationen liefen primär nach dem üblichen Schema chronologisch aneinandergereihter, zuweilen subjektiv verkürzter und von den meist üblichen Verdächtigen kommentierter Bewegungsbildschnipsel als Ereignisabfolge ab. Vor allem aber liefen sie ohne die Protagonistin herself ab: Angela Merkel kam nirgendwo als Interviewpartnerin zu Wort.

Eine Annäherung, der anderen Art

In Torsten Körners Dokumentation Angela Merkel – Im Lauf der Zeit, die heute Abend auf arte, am Sonntag im Ersten und am 6. März 2022 im MDR gezeigt wird, ist das anders, hier stand sie für zwei ausführliche Gespräche zur Verfügung und sie bilden, eine Aussage, die nicht oft zu vernehmen ist, Corona sei Dank, die letzten Interviews mit Angela Merkel als Kanzlerin Angela Merkel ab, nämlich am 6. Dezember 2021, zwei Tage vor der Vereidigung von Olaf Scholz. Vieles ist anders in dieser Doku-Perle, die keine dieser „bilanzierenden Pflichtübungen“ (Torsten Körner im Presseheft) ist wie manch andere.

Angela Merkel bei einer Kundgebung zum Weltfrauentag 1994, aus Angela Merkel – Im Lauf der Zeit // © WDR

Das beginnt schon dabei, dass sie auf Off-Kommentare verzichtet und nur verschiedene Gesprächspartner:innen von Torsten Körner zu Wort kommen lässt und geht bei der Auswahl ebenjener weiter. Es wird nicht bereits einhundertmal Gesagtes von Wolfgang Schäuble, Wolfgang Bosbach, Volker Kauder, Martin Schulz, Lars Klingbeil, Sophia Thomalla und Co. aneinandergereiht, so wollte er auch parteipolitisch motivierte Rede und Gegenrede vermeiden. Stattdessen konnten Regisseur Körner und Produzent Leopold Hoesch („Hallo, Diktator!“ Orbán, die EU und die Rechtsstaatlichkeit) unter anderem Ursula von der Leyen, Christine Lagarde, Theresa May, Aydan Özoğuz, Melanie Brinkmann, Herlinde Koelbl, Jutta Allmendinger, Kristina Dunz, Naika Foroutan, Aminata Touré, Luisa Neubauer, Ulrich Matthes und einen gewissen Barack Obama für ihre Dokumentation gewinnen.

Torsten Körner zu dieser Auswahl im Gespräch mit uns: „Ich wollte Gesprächspartnerinnen und -partner verschiedener Generationen dabei haben und wollte auch zeigen, dass Deutschland sich verändert hat in den letzten Jahrzehnten, dass es diverser geworden ist und es andere Herkunftsgeschichten gibt in Deutschland. Das ist für mich ein integrativer Erzählansatz, der eben zeigt, dass Deutschland sich verändert und das gut so ist.“ Stimmt.

„So, denn fang’ wa mal an…“

Weiter geht diese Andersartigkeit bei der Optik, die bisweilen im besten Sinne verspielt ist und vor allem nach einer Kinoproduktion aussieht und landet schließlich bei der Unterteilung in thematische Kapitel, wodurch zwar auch in Teilen eine chronologische Folge gegeben ist, es jedoch keine Krisen-Nabelschau wird. bei der Unterteilung in thematische Kapitel, wodurch zwar auch in Teilen eine chronologische Folge gegeben ist, es jedoch keine Krisen-Nabelschau wird. Nach einer Einleitung durch das auch heute noch sehr bekannte Fernsehinterview mit Günter Gaus aus dem Jahr 1992, in dem sie auf einem Wassily Chair von Marcel Breuer saß – einen solchen brachten Körner und Team für ihr zweites Interview mit Angela Merkel mit, schöner Effekt (siehe Beitragsbild) –  steigen wir mit Kapitel eins „In der Männerrepublik“ ein (wie es der Zufall will, lautet so auch der Titel eines Buches von Körner, auf dem wiederum dessen Dokumentation Die Unbeugsamen fußt). Es geht um die bundespolitischen Anfänge der damaligen Bundesministerin für Frauen und Jugend und wir vernehmen eine oft mehr als gönnerhafte Berichterstattung – Frau und aus dem Osten? Krasser Scheiß. 

Angela Merkel im Interview zu Angela Merkel – Im Lauf der Zeit // © BROADVIEW TV

Von einer gewissen Überheblichkeit ist Joachim Gauck nicht ausgenommen, der, bevor er mal mehr, mal weniger zielsicher grüßend und mahnend unterwegs war, eine Talkshow hatte. Es ist eine tolle Sache und ein großer Gewinn für Im Lauf der Zeit, was Thorben Bockelmann, Niko Körner und Lisa Oellers hier an Archivmaterial gehoben haben. Ein ebenso großer Gewinn ist die Fotografin Herlinde Koelbl, die im Film Angela Merkels „große Eigenwilligkeit“ und ebenso zu wissen, was sie nicht wollte, als wesentlich für ihre politische Laufbahn ausmacht. 

Anders hätte sie die „unfassbare Rücksichtslosigkeit und Verächtlichkeit“, mit der manche Kollegen und die Medien Angela Merkel begegneten, wie Ursula von der Leyen anmerkt, kaum aushalten können. Bis heute hält dabei so manches an: Eine Frau und dann noch aus dem Osten, das gilt noch immer, das müsse wohl ein Fehler der Geschichte sein; es ist dabei kaum ein Geheimnis, dass dies auch nicht wenige innerhalb der Unionsparteien so sehen (Hey, Friedrich!). Dass dies aber auch dazu führte, dass sie unterschätzt wurde, was ihr bisweilen half, ist kaum zu bestreiten – das attestiert im Film auch der Historiker Herfried Münkler. Dass es nun ebenjene Männer sind, die über sich und ihre Arroganz stolperten (Hallo, „Roland Kotz, äh Koch“ – Zitat Merkel) und schließlich den Mythos der männerfressenden, keine Loyalitäten kennenden Merkel-Maschine etablierten und aufrechtzuerhalten versuchten, deutet die Dokumentation, unter andrem auch über Münkler, eher kurz an. Ausführlicher liest sich das in den beiden Merkel-Biografien von Ursula Weidenfeld und Ralph Bollmann (dort findet sich auch die Kotz-Episode). 

„Diesen unangenehmen Part hab ich übernommen“

Rückblickend würde die Bundeskanzlerin a. D. dieses Verhalten vermutlich begrüßen, wäre es die größte Krise, mit der sie sich im Laufe ihrer politischen Laufbahn und Kanzlerinnenschaft hätte herumplagen müssen. War sie aber nicht, wie das Kapitel „Krise? Was für eine Krise?“ zeigt, das der SZ-Journalist und kritische, zumeist aber ausgewogene, Beobachter Merkels, Nico Fried korrekt einzuordnen weiß: „Angela Merkels Amtszeit war im Vergleich zu der von Helmut Kohl – der natürlich eine gewaltige Herausforderung zu meistern hatte mit der Einheit, aber es war ja ein positives Problem, wenn man so will –, war ihre Amtszeit eher geprägt von lauter schweren Krisen. Übrigens Krisen, die teilweise auch angelegt waren in der Zeit von Helmut Kohl.“

Anti-Merkel-Demonstrationen im Zuge der Griechenland-Krise in Athen, 2012, aus Angela Merkel – Im Lauf der Zeit // © Associated Press

Hier lernen wir die „Late Night Lady“ Angela Merkel kennen, die immer länger durchhält als die anderen und, ohne, dass es hier zur erwähnen Krisen-Nabelschau kommt, werden natürlich die Finanzkrise (hier sagt die Kanzlerin, wie demütigend es sei, dass die Politik sich den Marktmächten unterwerfen müsse, einer der stärksten Sätze im Film, auch wenn er womöglich ein wenig wirken muss), Fukushima und Co. genannt. Ohne die Erwähnung dieser ließe sich schlussendlich natürlich keine greifbare dokumentarische Annäherungen an Angela Merkel als Kanzlerin und Person gestalten. Letztlich wirkte sie doch auch immer durch ihre Politik als Mensch oder ihre Menschlichkeit, ihre Werte und ein innerer Antrieb gaben ihrer Politik zuweilen einen deutlichen Anstrich. Insofern darf es durchaus kritisch gesehen werden, wenn die Fridays for Future-Aktivistin und Grünen-Mitglied Luisa Neubauer sagt, „Frau Merkel [hat] mit der Kraft der Krisen Politik“ gemacht und weniger aus eigenem Antrieb heraus. Schon blöde, dass wir nicht in einer Autokratie leben, was? Die Menschen in der (Ost-)Ukraine dürften bald erfahren, was das heißt.

In einem späteren Kapitel des Films – „Greta und ihre Schwestern“ – wird Frau Neubauer sagen, dass der Satz Merkels, „Politik ist das, was möglich ist“, auf Klimapolitik nicht zutreffe. „Ökologisch gesehen ist Politik nicht nur das, was möglich ist, sondern auch das, was notwendig ist“, so Neubauer. Der Wunsch, dass endlich die Realitäten der Klimakrise breit anerkannt und danach gehandelt würde, ist auch bei uns groß. Doch verkürzen diese durchaus prägnanten und eingängigen Sätze die realpolitische Gesamtlage stark, einmal davon abgesehen, dass Kritik ohne jedweden Lösungsansatz auch kein konstruktiver Aktivismus sein kann. Ihr an anderer Stelle oft wiederholter Satz, wohl, um sich von Sachvorschlägen freimachen zu können, „Ich bin ja keine Politikerin“, spricht darüberhinaus Bände. Angela Merkel sagt dazu im Film: „Während der Wirtschaftskrise, während der Eurokrise war es nicht so einfach, Klima als vorrangiges Thema auf die Tagesordnung zu bringen. Aber sobald es politisch aus den Kurzfristkrisen etwas ruhiger wird, ist dieses Thema das, was, unterlegt auch in meiner Kanzlerzeit, immer wieder eine Rolle gespielt hat.“

„Dann ist das nicht mein Land“

Nach den Standard-Krisen kommt auch Im Lauf der Zeit nicht ohne die „Master“-Krise aus, die hier mit „Drei Tage im September“ überschrieben ist. Wir begegnen einer Frau mit einem ausgeprägten Wertekompass, wie der ehemalige US-Präsident Barack Obama mit Blick auf ihre Haltung, die Grenzen den Flüchtenden 2015 nicht zu schließen, konstatiert: „Das war eine riskante politische Entscheidung von ihr. Aber sie war moralisch richtig.“ An anderer Stelle wird Obama sagen, Merkel habe das, was einen „Leader von einem Politiker unterscheidet.“

Es ist weithin bekannt, was die AfD von moralischen Werten hält, diese Krise bedeutete ihren Aufstieg, auch das umreißt dieses Kapitel, wenn etwa die Journalistin und Leiterin der Hauptstadtredaktion des Redaktionsnetzwerks Deutschland, Kristina Dunz, meint, dass das Potenzial der Rechten sich in der Flüchtlingsfrage kanalisierte. Nicht nur an Horst Seehofers Obergrenze und Master-Plan sehen wir, wie sehr und wie lange auch Unions-Kollegen in diesem braunen Teich fischten. Übrigens auch ein gewisser Markus Söder, der einst vom „Ende des geordneten Mulitlateralismus“ sprach.

„Ich weiß nicht, ob der Artikel 1 des Grundgesetzes Gefühlsduselei ist. Das lehne ich ab. Das ist aus einer tiefen Erfahrung geboren und hat etwas mit unserem gesamten Menschenbild zu tun. Und dass das immer wieder so in Frage gestellt wird und dass man dazu irgendwie rausfinden muss, dass ich eine Pfarrerstochter war, das finde ich sehr seltsam.“

Angela Merkel in Angela Merkel – Im Lauf der Zeit; mehr ist hierzu wohl nicht zu sagen

„Wenn jemand Sorgen hatte, dann haben meine Eltern Zeit gefunden“

Dass diese Werte und Prinzipien, für die sie laut Christine Lagarde deutlich stand, und die sie, die Kompromissmaschine, oder, um Regisseur Torsten Körner aus unserem Gespräch zu zitieren, diese „dialogische Marathonläuferin die immer auf einen politischen Konsens hingearbeitet hat“, auch für keinen Kompromiss aufzugeben bereit war, nicht von ungefähr kamen, arbeitet die Dokumentation im Kapitel „Kindheitsmuster“ so fein es geht heraus. Über das den meisten Bekannte hinaus, zeigt dieser Teil auch ihr Aufwachsen mit körperlich und geistig behinderten Menschen auf dem Waldhof, was auch dazu führte, dass manche ihrer Klassenkamerad:innen nicht mehr mit ihr bei ihr spielen sollten, da die Kinder diesen Einfüssen nicht ausgesetzt werden sollten. So sah sich schon die junge Angela Kasner mit Ignoranz konfrontiert, sah sie das doch als Normalität an. Der Schauspieler Ulrich Matthes spricht hier von „einem bunten Durcheinander von Menschenmöglichkeiten“, in dem sie groß geworden sei und sicherlich ist seine Eischätzung, dass diese auch für Angela Merkels Offenheit, Neugierde und Gelassenheit gegenüber anderen Menschen verantwortlich sei, nicht unzutreffend.

Kristina Dunz im Interview zu Angela Merkel – Im Lauf der Zeit // © BROADVIEW TV

Im Prinzip aber ließe sich sicherlich ein eigener Film allein mit der Herkunftsgeschichte Merkels, samt Einordnung der damaligen Zeit, Gegenüberstellung der gesellschaftlichen und menschlichen Realitäten in Ost wie West ausgestalten. Wer weiß, was noch kommen mag. Im Film geht Frau Merkel erst einmal nach Washington. Dieses Kapitel, in dem Barack Obama von spannenden und verbindenden Gemeinsamkeiten und Außenseitertum spricht – sie als erste Kanzlerin, er als erster afroamerikanischer Präsident – ist das am wenigsten starke des Films. Denn von der, recht späten, NSA-Abhöraffäre (O-Ton Kristina Dunz: „[die] Abhöraktionen von der NSA hat sie irgendwie weggesteckt. Und sie hatten beide, da sind wir wieder bei der Freiheit, immer das Ziel, Freiheit zu verteidigen, Demokratie zu verteidigen. Das mussten sie sich nicht erzählen. Das haben beide inhaliert und das haben beide auch am eigenen Leben erfahren.“) abgesehen, geht es kaum auf das anfänglich sehr holprige Verhältnis zwischen Obama und Merkel ein, was bedauerlich ist, ist doch die Entwicklung der Beziehung der beiden gerade mit Blick auf die Startschwierigkeiten und Angela Merkels anfänglicher Skepsis umso bedeutsamer. 

„Emotionalität erhöht die Wirksamkeit nicht“

Es folgt Donald Trump, jedwede Skepsis sollte sich hier als richtig und doch teils zu wenig ausgeprägt erweisen. Kristina Dunz untermauert noch einmal die Richtigkeit von Angela Merkels „Glückwünschen“ an Donald Trump nach dessen Wahl zum 45. US-Präsidenten, in denen sie eine Zusammenarbeit auf Grundlage der gemeinsamen Werte und Menschenrechte anbietet. Arroganz? Nein, sagt Dunz – „es war genau das Richtige für das, was kam.“

Produzent Leopold Hoesch, Präsident Barack Obama und Regisseur Torsten Körner beim Interview zu Angela Merkel – Im Lauf der Zeit // © BROADVIEW TV

Kristina Dunz kennt die Situation also gut und die Kanzlerin jedenfalls gut genug, um im Kapitel „Sie kennen mich“ die Diskrepanz, die Ulrich Matthes zwischen der öffentlichen und der privaten Angela Merkel erkennt, zu bestätigen: „Das stimmt. Das ist ein Erleben einer Kanzlerin, die die breite Öffentlichkeit nicht hat. Ich habe das häufig bedauert, dass vor allem die Selbstironie, die diese Kanzlerin auch hat, den Bürgerinnen und Bürgern in der Breite nicht gezeigt wird, weil sie das verschließt.“ Ähnliches war bei #MerkelStreichelt zu bemerken: dass es den Menschen, egal welchen Lagers, dann auch wieder nicht recht war, wie Dunz ganz richtig feststellt und Jutta Allmendinger, nennt diesen Moment „mutig“. Aber wir wissen ja, Menschen und vor allem Frauen, die lachen und emphatisch sind, wählen wir Deutschen nicht gern, das scheint doch immer zu unsicher. Nachher weinen die noch und Tränen sind eben kein guter Ratgeber, was…

Gehen wir also einmal vom Humor weg und hin zum Ernst. So hat uns Angela Merkel in der Corona-Krise, im Film „Die Pest“, auch eine emotionale Seite gezeigt. In einer ihrer Fernsehansprachen, aber auch in einer Bundestagsdebatte. Das wurde nicht wirklich von vielen goutiert, gleichsam half es der Kanzlerin und dem Menschen Merkel mit einem Mythos aufzuräumen: „Ich war damals, ja, man muss schon sagen, eigentlich verzweifelt darüber, dass das alles so einfach zu sehen ist. Aber keiner wollte es, oder viele wollten es nicht so wahrhaben. Und das hat mich dann zu diesem emotionalen Auftritt geführt. Allerdings muss ich sagen, dass die Wirksamkeit nicht besser war, als wenn ich sehr kühl und emotionslos gesprochen hätte. Also das, was immer gesagt wird, ach, wäre sie doch ein bisschen emotionaler, schon würden wir ihr alle folgen, ist überhaupt nicht richtig.“

„Sie kennen mich“

Definitiv aber lässt sich sagen, dass die „Sie kennen mich“-Nummer und das riesige Raute-Plakat gegenüber vom Berliner Hauptbahnhof im Wahlkampf 2013 genial waren, so wollen „wir“ unsere „Mutti“. Dennoch kippte hier auch anschließend die Stimmung und das nicht nur wegen der so genannten Flüchtlingskrise. Viel eher konnten die, wie Herfried Münkler an anderer Stelle sagt, „stabilitätsverwöhnten Deutschen“ doch nach und nach feststellen, dass sie Angela Merkel durchaus nicht so gut kannten, wie sie wohl mutmaßten. Die Raute, zu der auch Herlinde Koelbl zu sagen weiß, dass sie sie 1998 erstmalig für eine ihrer Portrait-Aufnahmen zur körperlichen Haltungsförderung formte und die Merkel selbstironisch damit kommentiert, dass man nun ihren Kopf nicht mehr zu zeigen brauche, was ja auch Vorteile hätte, wurde zwar Kult, genauso aber die Erzählung einer Kanzlerin, die an den Wähler:innen oder „dem Volk“ vorbei regiert. Diese wurde nicht nur von rechts, sondern von vielen Seiten kultiviert.

Aminata Touré im Interview zu Angela Merkel – Im Lauf der Zeit // © BROADVIEW TV

Was auch an einer gewissen Enttäuschung liegen mag, dass diese Frau doch so viel wusste und verstand, aber doch nicht alles so umsetzen konnte – oder wollte – wie mensch es gewünscht und ihr zugetraut hätte. Der Verweis darauf, dass Mehrheiten sich nicht von selbst organisieren, wird da schnell als Makulatur abgetan. Die Bündnis 90/Die Grünen-Politikerin und Vizepräsidentin des schleswig-holsteinischen Landtags, Aminata Touré, beschreibt es ganz treffend: „Wenn man sich ältere Interviews von ihr anguckt, dann sagt sie all das, was man heute als Neuigkeit empfindet. Und ich glaube, dass sie auch deutlich versucht hat, zu zeigen, welchen Weg man eigentlich gehen müsste, aber es in ihrer eigenen Kanzlerschaft nicht geschafft hat.“

Et voilà: Wir werden sie noch vermissen

Die Frage, was also nach 16 Jahren Kanzlerinnenschaft Angela Merkels bleibt, wie sie zu sehen ist, beantwortet das Kapitel „In einem Land nach ihrer Zeit“ natürlich auch wieder über die Stimmen der Gesprächspartner:innen Körners. Christine Lagarde nennt sie „die Unbeirrte“, Naika Foroutan, die sich im Film eher kritisch gegenüber Merkel äußert, sagt, sie habe „Deutschland auf eine neue geschichtliche Schiene gesetzt. Nach 2015 hat sich plötzlich weltpolitisch die Perspektive auf dieses Land verändert, und zwar wegen dieser Kanzlerin. Und wegen diesem einen Moment, in dem sie gesagt hat: Wir schaffen das.“ Barack Obama betont, den Wert dessen, dass sie zu keinem Zeitpunkt aus den Augen verloren habe, wie wertvoll Freiheit sei und er schätze sich glücklich, sie seine Freundin nennen zu können. So pathetisch wie wundervoll.

Angela Merkels letzte Sommer-Pressekonferenz, 22. Juli 2021 // BROADVIEW TV

Da sitzt mensch also nach 90 Minuten, die sich in der Tat weniger gehetzt, aber doch reichlich gefüllt anfühlen. Es empfiehlt sich in jedem Fall die Dokumentation ein zweites Mal zu schauen, auch um einzelne Nuancen in Ton und Bild nicht zu verpassen. Und durch die geraffte Erzählweise mag es anfänglich scheinbar unausgefüllte Lücken geben, die sich geneigte Zuschauer:innen aber durchaus selber auffüllen können. Körner meint, wir könnten so zu Zeitzeugen werden, die „außer Acht gelassene Zeit mitdenken.“ Das ist ein feiner, ehrenwerter aber auch herausfordernder und Aufmerksamkeit erfordernder Ansatz. Wie ließe sich ein Film über Angela Merkel und den Lauf der Zeit besser umreißen und wie könnte es passender sein?

In diesem Sinne: „Et voilà – mehr Raute gibt’s nicht.“

AS

Das Zitat in der Überschrift, wie auch das den Text beschließende, stammt von Ursula von der Leyen, alle anderen Zitate in den Zwischenüberschriften von Angela Merkel in der Dokumentation oder dem Kontext.

Street Art Angela Merkel aus dem Film Angela Merkel – Im Lauf der Zeit // © Imago

Angela Merkel – Im Lauf der Zeit läuft am 22. Februar um 20.15 Uhr auf arte; am 27. Februar um 21.45 Uhr im Ersten und am 6. März um 20.15 Uhr im MDR; sowie jeweils zwei Tage vorab in den Mediatheken 

Angela Merkel – Im Lauf der Zeit; Deutschland, 2022; Regie: Torsten Körner; Produzent: Leopold Hoesch; Musik: Stefan Döring; mit: Angela Merkel, Barack Obama, Ursula von der Leyen, Christine Lagarde, Theresa May, Kristina Dunz, Nico Fried, Aydan Özoğuz, Melanie Brinkmann, Jutta Allmendinger, Herfried Münkler, Naika Foroutan, Aminata Touré, Luisa Neubauer, Ulrich Matthes, Carla; Laufzeit ca. 90 Minuten; Eine Koproduktion von BROADVIEW Pictures undMDR in Zusammenarbeit mit ARTE 

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