„Alles an ihr ist extrem, …“

„…sie ist gelebte Dualität, ist Glanz und Abgrund, ist Licht und Schatten, ist Meer und Festland, der Tod steckt genauso in ihr wie das Leben – und beides wird lustvoll zelebriert.“

aus dem Essay „Neapel sehen“ von Zora del Buono im mare-Fotoband NEAPEL von Giovanni Cocco

Es dürfte kaum eine bessere Art geben, sowohl die nach Rom und Mailand drittgrößte Stadt Italiens in der Region Kampanien wie auch den Golf von Neapel zu beschreiben, zu dem unter anderem auch Pompeji, Sorrent und die drei Inseln Ischia, Capri und Procida gehören. Drei – das scheint irgendwie etwas zu sein. Immerhin findet sich westlich von Neapel mit dem „Amphitheater von Pozzuoli aus dem ersten Jahrhundert nach Christus […] das drittgrößte jemals errichtete Amphitheater“, wie wir im mareFotoband NEAPEL von Giovanni Cocco erfahren – und sehen.

„Nirgends in Italien wird das Drama offener gelebt“

Zu sehen gibt es dabei einiges in diesem prachtvollen und hochwertig aufbereiteten (Gestaltung: Anna Boucsein), mit hochpigmentierten Farben gedruckten, von Nikolaus Gelpke herausgegebenen Fotoband, der sich, ähnlich jenen zu Tel Aviv von Jan Windszus oder Schottland von Dmitirj Leltschuk und Sirio Magnabosco, so anfühlt, als handele es sich um drei Bände in einem. Was mitnichten bedeuten soll, das NEAPEL vollgestopft oder unstrukturiert wäre. Ganz im Gegenteil – Giovanni Cocco, der für seine Aufnahmen insgesamt zwölfmal nach Neapel reiste, anfangs noch von Coronamaßnahmen eingeschränkt, nimmt uns wiederum mit auf eine so aufregende wie ästhetische Reise, die nicht nur bei Italien-Fans zu erhöhter Endorphinausschüttung führen dürfte.

Landschaft und Architektur, Geschichte und Geschichten, Alltag und Besonderes, Häfen und Musik, weite Natur und enge Straßenschluchten, Legenden und Essen, Kirche und Ma(ra)donna – all das und mehr gibt es hier in beinahe ausnahmslos fantastischen Bildern zu erfahren. Oft beeindruckt auch das Licht; nicht selten spielt Cocco mit Licht und Schatten, etwa wenn er einen künstlichen Tunnel ablichtet, der zur antiken Stadt Cuma führt, aber auch ein Höllenschlund sein könnte. Daneben sehen wir das helle Innere eines alten Villengebäudes. Gut und gern könnte sich unter diesem Gebäude ein labyrinthischer Untergrund befinden, wie ihn Zora del Buono in ihrem anregenden Essay beschreibt: „Neapel zeichnet sich durch mehr Untergründiges, ja Abgründiges aus.“

„Zerfall und Dekadenz und Schönheit in einem“

So lässt weder del Buono in ihrem Vorwort noch Cocco in seinen Fotografien die so genannten Problemviertel Neapels aus. Sowohl in Text wie auch Bild wird die Parallelwelt, die in dieser Stadt, wenn mensch sich dem nicht verschließen möchte, recht offensichtlich zu Tage tritt, thematisiert. Da ist der Vomero-Hügel, auf dem vor allem die Oberen Zehntausend wohnen oder die Borgo Marinaro an der Amalfiküste. Da ist aber auch der „Palazzo Kimbo“, ein achtstöckiger Sozialwohnungsbau in Bahnhofsnähe. Da ist – in vier wunderbaren Aufnahmen, die wir gut und gern auch in Samet Durguns Come Get Your Honey oder in New Queer Photography hätten finden können – eine queere (Nacht-)Kultur einer sichtbaren und stolzen LGBTIQ*-Community. Da ist aber auch eine Jugend, die unter hoher Arbeitslosigkeit leidet und sich im Nachtleben abzulenken sucht.

Die (vielleicht) berühmteste Straße der Stadt: Spaccanapoli, „die Spalterin“, war schon „zu antiker Zeit die Ost-West-Verbindung“ – und verbindet allerlei Gegensätze // Foto: Giovanni Cocco/mareverlag

Da ist der „Fiordo di Furore [siehe Beitragsbild, Anm. d. Red.], eine Felsspalte inmitten wilder Natur, die einen kleinen Strand von nur 25 Metern einrahmt“ und seit 1997, gemeinsam mit anderen Orten der Amalfiküste, zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Da sind aber auch Pendler an Bord der Fähre Neapel-Ischia, die zum Arbeiten fahren. Da ist die auch mal touristenfreie grüne Lunge der Insel Capri. Da ist aber auch das Wissen, dass die Camorra diese Insel größtenteils aufgekauft hat und die (wohlhabenden) Neapolitaner geübt sind im „Augenverschließen, genauso wie darin, sich mit Unwägbarkeiten zu arrangieren“.

„Diese bunte Pracht, diese opulente Schönheit…“

Womöglich müssen sie das auch sein, wo sie doch sprichwörtlich auf dem Vulkan tanzen, wie die Zürcher Architektin und Autorin Zora del Buono ebenfalls erläutert und sich hier aus gutem Grund, dieser, wie sie selbst meint, abgegriffenen Begrifflichkeit bedient. Nicht nur liegt im Osten Neapels der Vesuv, der mit seinen 1281 Metern Höhe durchaus gut sichtbar ist, sondern es erstreckt sich ebenso das 150 Quadratkilometer große Gebiet der Phlegräischen Felder, „das untermeerisch hinüber bis nach Procida und Ischia reicht.“ Vulkan und Felder teilen sich dabei in zehn Kilometern Tiefe eine Magmagrube.

„Parco Carelli in Neapel ist ein kleines Viertel, das 1910 am Fuß des Posillipo-Hügels errichtet wurde. Er ist durch steile Hänge gekennzeichnet und bietet einen eindrucksvollen Blick auf den Golf.“ – Stimmt! // Foto: Giovanni Cocco/mareverlag

Langsame Erdbeben, genannt Bradyseismos, gehören zum Alltag, weswegen das ebenfalls vom 1973 in Sulmona in den Abruzzen geborenen Giovanni Cocco fotografierte historische Viertel Rione Terra 1970 geschlossen und erst 2014 wieder zugänglich gemacht wurde. Dann wieder gibt es ein traumhaftes Bild vom Parco Carelli, einem kleinen Viertel, oder den unfassbar romantischen Blick auf Marina di Corricella, dem ältesten Fischerdorf der Insel Procida. Ein schattig-sonniger Blick mit ruhendem Mann und sich windender Katze in den Kreuzgang der Basilika Santa Maria della Sanità scheint im Kontrast zu einem schon beinahe unheimlich wirkendenden Bild aus der Kirche San Gregorio Armeno zu stehen, das in jeden Gruselthriller passen würde.

„…immer am Rande des Zerfalls“

So vereint NEAPEL in Bild, Bildsprache und Sprache all die Gegensätze und Widersprüche, die diese so alte Stadt, diese Gegend, an deren Ufern „schon über 100 Generationen“ gestanden „und aufs Meer geblickt haben“ (auch die „kulturelle Beziehung zum Strand“ und die „tiefe Beziehung zum Meer“ der Neapolitaner ist Thema) ausmachen, eindrucksvoll und in Form wie Inhalt mit ausgesuchter Eleganz, ohne den Fokus auf das Leben zu verlieren, welches hier allerdings immer mit Legende verknüpft ist.

☝️ Bettina Baltschev besucht in ihrem Italien-Kapitel Ischia und wir erfahren, „dass Ischia in Zeiten der (noch höheren) sexuellen Intoleranz ein Geheimtipp für Homosexuelle aus ganz Europa und Amerika war“.

Schließlich heißt es, dass der „an Land geschwemmte Körper der Sirene“ Parthenope, die sich, „gedemütigt davon, dass die Argonauten und Odysseus ihrem lockenden Gesang“ entkommen waren, im Meer tötete, versteinerte und die Umrisse des Golfs von Neapel bildete. Der Kopf liege so bei Capodimonte und der Schwanz bei Posillipo. Übrigens ein etwa zehn Kilometer langer Weg, der sich, gern beginnend an der Küste und somit vom Schwanz aus, auch zu Füß zurücklegen lässt. Dabei auch entlang der Caracciolo-Promenade flanierend, ein Päuschen an einem der Strände des Lungomare Caraciollo einlegend, einen Halbabstecher über den erwähnten Vomero-Hügel machend und schließlich den hochgelegenen Kopf erreichend und Werke unter anderem von Caravaggio oder Tizian im Museo di Capodimonte bestaunend, lässt sich ein feiner Tag verleben.

„Castel dell’Ovo in Neapel. Hier lernen die Kinder schwimmen und tauchen. Die Schönheit der Stadt liegt auch in der Kreativität ihrer Bewohner, die sich überall ihre Freiheiten nehmen.“ // Foto: Giovanni Cocco/mareverlag

Zur Einstimmung sei in jedem Fall zu diesem Fotoband geraten, der sich einreiht in die wunderbaren Bildwelten, die der Hamburger mareverlag regelmäßig öffnet und dabei immer wieder aus Neue zu überraschen, informieren und begeistern weiß.

AS

PS: „Es gibt Städte, deren Schönheit einen erfreut, aber letztlich nicht berührt“, beginnt Zara del Buono ihren wirklich starken Essay, in welchem sie auch an die Kinder der Stadt Sophia Loren und den 2015 verstorbenen Pino Daniele erinnert. In der Tat – weder Rom, noch Paris oder auch ein durchaus nicht unästhetisches München, lösen in mir aus, was Neapel zu schaffen vermag.

PPS: Apropos Pino Daniele: Dessen Musik begleitete mich während des Betrachten des Bandes und Verfassens dieses Texts; nicht nur seine durchaus ansprechend kontrastreiche „Hymne der Stadt“ namens „Napule è“.

PPPS: Wenn del Buono in ihrem Essay schreibt, dass die Angst vor der Camorra anders geartet sei, als „jene vor der Cosa Nostra in Sizilien, wo über allem eine schwere, stumme Tragik lastet“, denk‘ ich mir, dass die Teile eins und zwei von Der Pate nicht besser beschrieben sein könnten.

Giovanni Cocco (Fotografie): Neapel; Herausgeber: Nikolaus Gelpke; mit einem Essay von Zora del Buono; Gestaltung: Anna Boucsein; ; Hardcover mit Schutzumschlag und Leineneinband; 132 Seiten, fadengeheftet; ca. 80 Abbildungen, produziert mit hochpigmentierter Farbserie aniva® plus von Epple Druckfarben GmbH im 120-L/cm Feinraster; Papier: Condat matt Périgord 170 g/m2; Format: 30 x 26 cm; ISBN 978-3-86648-706-2 ; mareverlag; 58,00 €

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