Es mag ein wenig zynisch wirken, aber sei’s drum: Dass die Neuverfilmung von Erich Maria Remarques eindrücklichem Werk Im Westen nichts Neues, der sowohl Antikriegs-Roman als auch psychologische Studie ist, an den Start geht, während mitten in Europa ein Krieg tobt, den die Menschen tatsächlich einmal wahrnehmen, ist das Beste, was den Filmbeteiligten passieren konnte. Auch Netflix, wo der Film nach einem kurzen Kinolauf seit dem 28. Oktober 2022 abrufbar ist, kann sich freuen: All Quiet on the Western Front ist nach dem norwegischen Fantasykracher Troll der zweiterfolgreichste nicht-englischsprachige Film des Streaminggiganten.
„Für Kaiser, Gott und Vaterland“
Dass der Stoff, den Regisseur und Drehbuchautor Edward Berger gemeinsam mit seinen Co-Autor*innen Lesley Paterson und Ian Stokell durchaus ein wenig durchgerüttelt hat, nun automatisch den Anschein größter Aktualität und Dringlichkeit hat, dürfte sich auch auf Nominierungs- und Vergabejurys unter anderem der Golden Globes, Oscars und anderer Filmpreise auswirken (zu den Oscar-Nominierungen mehr im PS-Bereich). Zwar ging der Film bei den 80. Golden Globes am 10. Januar leer aus (dafür gab es kürzlich sieben BAFTAs), doch allen eine Nominierung sorgt für Aufmerksamkeit (ausgezeichnet wurde der Film Argentina, 1985 von Santiago Mitre). Entstanden ist der Film aber natürlich bevor Wladimir Putin seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine startete. So äußerte sich etwa der Regisseur Berger gegenüber der dpa wie folgt zum Entstehen von Im Westen nichts Neues:
„Das Thema Krieg ist momentan natürlich sehr aktuell. Aber der Film entstand vor allem, weil wir vor zweieinhalb Jahren das Gefühl hatten, dass eine gefährliche Stimmung von Nationalismus aufkommt: Die Europäische Union zerfällt, rechtsextreme Parteien kommen auf, Orban in Ungarn, Trump in Amerika, Brexit – plötzlich werden Institutionen, die uns 70 Jahre Frieden beschert haben, durch Demagogie und Propaganda infrage gestellt. Wir fanden es relevant, zu zeigen, wohin eine solch aufgeladene nationalistische Stimmung und Sprache schnell führen kann.“
So steht in dem Kriegsdrama das Credo „für Kaiser, Gott und Vaterland“ als jener Propagandaspruch, der junge Menschen nicht nur begeistert an die Front zieht, sondern sie dort auch sinnlos verheizt. Mit dem dringenden und sich in ausgelassener Heiterkeit äußerndem Wunsch, das Vaterland zu verteidigen (streng genommen ja zu erweitern…) melden sich die vier Freunde Paul Bäumer (Felix Kammerer), Albert Kropp (Aaron Hilmer), Frantz Müller (Moritz Klaus) und Ludwig Behm (Adrian Grünewald) 1917 zum Dienst; Paul muss hierfür erst noch die elterliche Unterschrift fälschen, wollte die Familie ihn doch nicht in den Krieg ziehen lassen.
…ist abgebrannt
Schnell holt die Realität des Ersten Weltkriegs die jungen Männer ein und es wird festgestellt, so habe man sich das nicht vorgestellt. Rauer Ton und Tod, entsetzliche Verhältnisse, der Verlust jedweder Unschuld, et cetera. So ein Krieg ist eben kein Zuckerschlecken. Für Paul und noch lebende Kompagnons ist es ein Glück, dass die erfahreneren Frontkämpfer Stanislaus Katczinsky (Albrecht Schuch) und Tjaden Stackfleet (Edin Hasanović) sie unter ihre Fittiche nehmen. Insbesondere zwischen Paul und Stanislaus, der gemeinhin nur Kat genannt wird, entwickelt sich eine Freundschaft zum Gänse stehlen.
Berger verschwendet in seinem Film keine Zeit und wir sind schneller auf dem Fußmarsch zum Schützengraben als mensch sich „Deutschland, Deutschland, über alles“ zusammenreimen könnte. Ein wenig verwundert so schon zu Beginn des Films die Dauer von zweieinhalb Stunden — diese Verwunderung soll bestehen bleiben. Diese Verkürzung ist dann auch nicht der einzige Unterschied zwischen Buch (übrigens ist vor Kurzem eine wunderbare Edition bei der Büchergilde Gutenberg erschienen) und Film. Grundsätzlich ist es gut, wenn eine Verfilmung nicht zu eng am Stoff klebt; das Gefühl, einer bebilderten Lesung zu folgen, ist ein weniger wünschenswertes. Ebenso soll hier kein Abgleich der beiden Formate erfolgen (dafür ist die detaillierte Erinnerung an den Roman beim Rezensenten auch zu blass).
Unterbrochener Kreislauf
Doch fällt auf, dass von Berger, Paterson und Stokell hinzugefügte Motive, wie etwa die Aushandlung eines Waffenstillstands zwischen dem deutschen Zentrumspolitiker Matthias Erzberger (Daniel Brühl, der in einer Disney+-Mini-Serie Karl Lagerfeld spielen soll) und dem französischen Marschall Ferdinand Forch (Thibault de Montalembert) oder die schon eher einer Farce gleichenden Momente mit General Friedrich (hier leider ein Witz ohne Pointe: Devid Striesow) sich nicht fügen wollen und den ohnehin schon kompakten und doch schleichenden Verlauf eher weiter stören, als konstruktiv zu entzerren. Von deren mangelnder historischer Faktizität einmal ganz zu schweigen.
(In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb Andreas Kilb unter der garstig-passenden Überschrift „Ein Krieg aus dem Katalog“, „der zweieinhalbstündige visuelle Dauerbeschuss [wirkt] wie eine aufgepumpte Miniserie.“ Dem möchte ich zustimmen, beziehungsweise den Gedanken erweitern und sagen, diese Verfilmung wirkt, als wollte man eine achtstündige Mini-Serie aus dem Stoff machen, die während der Produktion gekippt wurde und nun veröffentlichte mensch eben einen Zusammenschnitt bereits gedrehter Szenen.)
Darüber hinaus konterkarieren diese Subhandlungen die ursprünglich sehr nüchternen Aussagen Remarques über Anonymität und Bedeutungslosigkeit im Krieg. Unterstrichen wird das noch durch eine pathetische Szene, in der Namen und Geburtsdaten Gefallener aufgezählt werden. Dass dafür eine zentrale Stelle der Geschichte, nämlich der Heimatbesuch Pauls, gestrichen wurde, irritiert umso mehr, kann das doch gut und gern als einer der Schlüsselmomente der fiktionalisierten Geschichte gelten.
Klasse Bilder mit Crux
Durch die erwähnte Einstreuung von Handlungen, die sich nicht an der Front abspielen, kann dieses Weglassen auch nicht durch den Wunsch, einen Bruch im Ablauf vermeiden zu wollen, begründet werden. Natürlich gibt es dennoch reichlich Momente die schockierend, effektiv und grausam sind; dem Anspruch aufzuzeigen, wie brutal und unmenschlich ein Krieg ist, kommen die Macher*innen also durchaus nah. Untermalt wird das von immerfort bedrohungsschwangerer Musik von Volker Bertelmann, der hier ein weiteres Mal seine Vielseitigkeit unter Beweis stellt (und für diese zurecht für den Oscar nominiert ist).
Auch die Bilder von Kameramann James Friend beeindrucken nicht selten in einem klasse Produktionsdesign von Christian M. Goldbeck. Doch auch hier gibt es eine Crux: Wenn wir Luftaufnahmen umkämpfter Bereiche sehen, fühlen wir uns, als blickten auf Mordor oder manch eine Landschaft aus The Sandman. Das sind famose Bilder, jedoch wirken sie so unecht, wie es nur möglich ist. Nicht surreal, nicht entfernt, sondern unecht.
Belangloser Kopfschuss
Eine Ausnahme bilden hier manche (mitnichten alle) Momente im Schützengraben und solche, die sich zwischen Paul — Felix Kammerer ist übrigens großartig — und Kat abspielen. Vieles andere sieht leider allzu oft zu sehr nach Storyboard-Modus aus. Das inbrünstig überzogene Ende, setzt dem Kunst-Inszenierungsfeuerwerk die Krone auf. Es entsteht also gerade durch den Versuch möglichst unmittelbar und nah zu wirken, eine Künstlichkeit, die die Zuschauer*innen auf Abstand hält und eben nicht ins Geschehen zieht. Für die Botschaft des Films ist das im Grunde ein sauberer Kopfschuss.
Brutaler und doch nüchterner ausgedrückt: Diese Verfilmung von Im Westen nichts Neues ist allzu oft belanglos. Aber zum Glück tobt ja ein Angriffskrieg in Europa!
AS
PS: Vor einiger Zeit gab es im Deutschlandfunk Kultur einen Rückblick auf das Filmjahr 2022 und so sehr dort interessante Titel genannt worden sind, stieß mir beim Hören etwas säuerlich auf, dass kritisiert worden ist, dass Deutschland Edward Bergers Im Westen nichts Neues als deutschen Beitrag für den Oscar um den Besten internationalen Film ins Rennen schickt. Argumentiert wurde, dass es wieder ein Anti-Kriegsfilm sei und so wirke, als sei es immer mehr vom Gleichen. Nun dachte ich mir: Naja, wenn’s aber halt gut ist, ist doch gut. Nun ist der Film eher so halb gut (auch wenn viele Kritiker*innen vor allem aus den USA das anders beurteilten) und so denke ich mir mittlerweile auch: Der Russe ist einer, der Birken liebt wäre auch schön gewesen.
PPS: In diesem Zusammenhang: Glückwunsch an „den Film“ und alle Beteiligten zu neun (in Zahlen: 9!) Oscar-Nominierungen; unter anderem in den Kategorien Bester Film und Bester Internationaler Film. Ebenso wurde er in der Kategorie Bestes adaptiertes Drehbuch, Beste Kamera, Bestes Szenenbild (Christian M. Goldbreck, Ernestine Hipper; die Bilder sind auch toll, sie passen nur, wie erwähnt, nicht zum Film bzw. zur Geschichte), Beste Musik, Bester Ton, Bestes Make-up und beste Frisuren (Heike Merker) sowie Beste visuelle Effekte. An der Meinung zu Im Westen nichts Neues ändert das natürlich nichts. Eher ist da ein wenig Erstaunen (und dann wieder nicht, weil die Nominierung in so vielen Kategorien als politisches Zeichen gegen Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine gewertet werden darf und Ton et cetera durchaus stark sind).
PPPS: Schauspieler Tobias Langhoff, der in Im Westen nichts Neues in einer Nebenrolle als Detlof von Winterfeldt zu sehen ist, verstarb leider überraschend am 28. November 2022 — seinem 60. Geburtstag.
Im Westen nichts Neues; Deutschland, USA, Großbritannien 2022; Regie: Edward Berger; Drehbuch: Lesley Paterson, Edward Berger, Ian Stokell basierend auf dem gleichnamigen Roman von Erich Maria Remarque; Kamera: James Friend; Musik: Volker Bertelmann; Darsteller*innen: Felix Kammerer, Albrecht Schuch, Aaron Hilmer, Daniel Brühl, Moritz Klaus, Edin Hasanović, Devid Striesow, Sebastian Hülk, Thibault de Montalembert, Andreas Döhler, Nico Ehrentreit, Adrian Grünewald, Michael Wittenborn, Anton von Lucke, Tobias Langhoff, u. v. m.; Laufzeit ca. 148 Minuten; FSK: 16; seit dem 28. Oktober 2022 auf Netflix verfügbar
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