Von Fußballweh und Freundschaftsleiden

„Immer wieder solche Sachen mit dem Fußball.“ — „Gibt’s immer Tote?“ — „Nee aber immer Dinge, die nicht sein müssen.“ […und in Katar auch gern ein paar Tote…, Anm. d. Red.] So läuft der Austausch zwischen Dr. Friedemann Lech (Till Butterbach) und Hauptkommissar Leo Hölzer (Vladimir Burlakov), nachdem Andreas Schneider (Nils Bannert) sehr tot auf dem Tisch liegt und zuvor mit Stichverletzung im Oberschenkel und diversen anderen Blessuren in der Automatiktür seiner Notaufnahme lag. Was das mit Fußi zu tun hat? 

Auf der Suche

Das erfahren wir in diesem vierten Saarländer Tatort: Die Kälte der Erde gar noch ein wenig früher: Samstag, Spieltag. Ein Saar-Pfalz-Fußball-Derby ist vorüber (eine Mannschaft hat gewonnen, oder ein TEAM wie Lucas „griechische Cannelloni“ Cordalis sagen würde; gestern gab es hier übrigens das Berliner Pendant: Hertha BSC gegen 1. FC Union, keine Toten, nur einen entlassenen Sport-Geschäftsführer), die Saarbrücker Innenstadt ist voll — hier kämpfen sich gerade Hölzer und Kollege Adam Schürk (Daniel Sträßer) freizeitlich mit Schlafcouch-Transporter durch die Straßen — und an einer etwas abseits gelegenen Industriebrache treffen ein paar Personen für eine „Dritte Halbzeit“ zu einem Ackermatch aufeinander. 

Und es hat BOOM gemacht – zwei verfeindete Hooligan-Gruppen im Ackermatch // © SR/Iris Maria Maurer

Dass es dabei ordentlich auf die Fresse gibt (was Tatort-Novizin Kerstin Polte, Becoming Charlie, sehr fein in Szene zu setzen weiß, wie sie überhaupt stark inszeniert), nun gut, das ist wenig überraschend. Dass aber jemand mit Stichverletzung verendet, hingegen schon. Schließlich sind — bei aller herzlich empfundenen Club-Feindschaft — Waffen bei diesen Events der Versicherungsinanspruchnahme strengstens verboten. Was also ist passiert? 

„Wir mögen Bullen nicht.“ – „Ach so.“

Mit dieser und anderen Fragen befassen sich die beiden Kommissare und ihre Kolleginnen Esther Baumann (Brigitte Urhausen) und Pia Heinrich (Ines Marie Westernströer) nun eingehend. Dass der Tote auf einem solchen Ackermatch war, wird schnell klar… Doch wie in diese „Szene“, die so schlagfertig wie verschwiegen ist, vordringen? Hier hilft es, dass unser flinkes Vierergespann so viele diverse Ton- wie Augenbrauenlagen beherrscht.

Esther Baumann (Brigitte Urhausen) befragt Jay-Lou (Jing Xiang) vom Fanprojekt in der Fankneipe „Heimatschänke“ zum Tod von Andreas Schneider. Wirtin Manuela Baron (Ursula Berlinghof) hört interessiert zu // © SR/Manuela Meyer

Ebenso hat Baumann einen gewissen Zugang: Bis sie zur Arbeit gerufen wurde, war sie selber mit Fußball-Freundinnen beim Spiel und anschließend in der von der resoluten und immer gern helfenden Manuela Baron (Ursula Berlinghof) geführten Fankneipe Heimatschänke unterwegs. Schnell kommen die Ermittler*innen darauf, dass auch die Ex-Freundin von Schneider, Alina Barthel (Bineta Hansen, Eldorado KaDeWe, Loving Her), Teil des Ackermat(s)ches war und die zwei sich außerdem darum stritten, ob er der Vater von Tochter Stella (Finja Leonie Meyer) ist oder nicht. Ein Motiv?

Gürkchen?

Möglich, wer weiß. Vielleicht war es auch der Bruder Alinas, Hinterhoffitnessstudiobetreiber Bastian (Lorris Andre Blazejewski), um seine Schwester zu beschützen? Oder das veritable, tollpatschig autofahrende Arschloch Rémy Pontier (Tamer Tahan)? Oder gar der Partner von Dr. Lech, Carlos Lech (Alexander Prince Osei), aus möglichen Gründen, die hier noch nicht genannt werden sollen. Tatort: Die Kälte der Erde bietet ein recht breites Tableau an Verdächtigen auf. Das Faszinierende daran ist, dass Drehbuchautorin Melanie Waelde dafür nicht, wie sonst gern in diversen Krimi-Formaten, groß in die Weite schaut, nicht plötzlich Totgeglaubte zurückkehren lässt, sondern den Kreis der möglichen Täter*innen im engsten und engeren Rahmen um den Toten belässt. 

Ein Feind, ein guter Feind… aber auch ein Mörder? Rémy Pontier (Tamer Tahan) // © SR/Iris Maria Maurer

Aber es wäre keiner der neuen, von uns sehr, sehr (!) geschätzten Saarländer Tatorte, wenn nicht auch wieder das Persönliche ins Team käme. Adam Schürks Vergangenheit spielt erneut eine Rolle, vermengt sich dezent mit der Fallumgebung und die Frage nach dem Bankraub-Geld taucht stetig auf. Leo, der im Haus der Schürks auf der Schlafcouch pennt, zweifelt, will helfen, stellt sich dabei aber auch nicht immer so schlau an. 

Croissant?

Heinrich und Baumann bekommen, wie schon im Vorgänger Das Herz der Schlange, mehr Raum, dies auch nicht nur im Schürk-Hölzer-Orbit, sondern so ganz als Menschen und Kolleginnen, vielleicht Freundinnen. Etwas, das auch den beiden Darstellerinnen Ines Marie Westernströer und Brigitte Urhausen gefällt, wie sie im Presseheft-Interview angeben: „Wir dürfen ein Stück weit mitkreieren, unsere Ideen in das neue Drehbuch einfließen lassen“, ebenso habe der weibliche Blick von Autorin Waelde und Regisseurin Polte natürlich Einfluss auf die Figuren.

Esther Baumann und Pia Heinrich befragen Bastian Barthel (Lorris Andre Blazejewski) zu seiner Schwester Alina // © SR/Iris Maria Maurer

In der Tat ist der Tatort: Die Kälte der Erde der erste der Reboot-Reihe, der nicht von Hendrik Hölzemann geschrieben wurde. Konnte man die ersten drei Filme im Grunde als Trilogie sehen, geht es nun in die nächste Phase (Hey, Marvel!) und die dürfte nicht nur falltechnisch spannend werden beziehungsweise bleiben (hier konnten bisher alle vier Filme überzeugen). Sondern auch was die Dynamik sowohl innerhalb des Vierer-Ermittlungs-Teams (da ist es wieder) angeht als auch zwischen den beiden Jugendfreunden Adam und Leo sowie den immer enger werdenden Kolleginnen Esther und Pia.

Geld?

„Es geht um Menschen, die leidenschaftlich lieben und mit großer Wucht aufeinanderprallen und – aus ihrer Perspektive – auch folgerichtig handeln“, sagt Regisseurin Kerstin Polte über diesen Tatort, den sie ein wenig in Western-Manier stilisieren wollte, was ihr gelingt, ohne, dass es komisch würde. Das trifft aber ebenso auf das Team und vor allem Adam und Leo zu. So ist es kein Wunder, dass das Thema Vertrauen und Sorge vor Vertrauensmissbrauch ein zentrales, nicht nur dieser Folge, ist. 

Leo Hölzer und Adam Schürk stellen starke Schäden an einem Auto fest – auch an ihrer zwischenmenschlichen Beziehung? // © SR/Manuela Meyer

Ob es dennoch so richtig ist, jemanden fortwährend unter Druck zu setzen, ihn dezent emotional zu erpressen, unbedingt alles zu sagen und dann doch erst einmal abschätzig zu reagieren? Oder anders: Das Angebot einen Weg konsequent mit jemandem zu gehen, ist nur dann sinnvoll, wenn es nicht an hunderte Bedingungen und Ausstiegsklauseln geknüpft ist. In diesem Sinne liegt sicherlich noch ein holpriger, sich schlängelnder und sehr interessanter Weg vor uns. Nach diesem (erneuten) Cliffhanger sowieso

JW

Hools klären ihre Kämpfe unter sich, mittendrin: Alina Barthel (Bineta Hansen) // © SR/Manuela Meyer

PS: …apropos Cliffhanger: Es ist wunderbar, dass diese Tatorte wirklich etwas Besonderes im an Sonderlichkeiten nicht armen Tatort-Universum sind. Aber eben auch schade, dass sie nur einmal im Jahr laufen. Vielleicht so ein achtmonatiger Rhythmus?! Hmmm…?! Der ÖRR will (und muss!) sich doch ohnehin ein wenig umstellen. 

PPS: …apropos Cliffhanger II: So wunderbar dieses Besondere und so spannend der Fall in Die Kälte der Erde auch sind: Wer nicht zumindest den Vorgänger Das Herz der Schlange gesehen hat, dürfte hier ein, zwei Fragen haben. Am besten sollten sie aber alle gesehen worden sein. Glücklicherweise dachte sich das wohl irgendwer, denn der Saarländische Rundfunk hat alle drei Filme erneut gezeigt. Hier findet ihr unsere Besprechungen mit den jeweiligen Mediathek-Links.

PPPS: „Konfuzius, die Bibel, der Koran, Stephen Hawking. Da war aber einer ganz schön auf der Suche.“

PPPPS: Die Szenenbildnerinnen Winnie Christiansen und Anne Storandt im Presseheft-Gespräch auf die Frage, wie sie das Saarland als Drehort beschreiben würden: „Noch unbetreten, offen, inspirierend, vielfältig, großartig!“ Dann wohl doch mal hin. Das 49-Euro-Ticket kommt ja nun.

Drehstart SR-Tatort „Die Kälte der Erde“ (AT) am 03.05.2022 v.l.n.r.: Brigitte Urhausen (Hauptkommissarin Esther Baumann), Jan Kruse (Produzent), Vladimir Burlakov, (Hauptkommissar Leo Hölzer) Kerstin Polte (Regie), Ines Marie Westernströer (Hauptkommissarin Pia Heinrich), Christiane Buchmann (Kamera), Daniel Sträßer (Hauptkommissar Adam Schürk), Christian Bauer (Redaktion SR) // © SR/Pasquale D’Angiolillo

Tatort: Die Kälte der Erde läuft am 29. Januar 2022 um 20:15 Uhr im Ersten und um 21:45 Uhr auf one und ist anschließend für sechs Monate in der ARD-Mediathek verfügbar.

Tatort: Die Kälte der Erde; Deutschland 2023; Regie: Kerstin Polte; Drehbuch: Melanie Waelde; Kamera: Christiane Buchmann; Musik: Ephrem Lüchinger, Daniel Hobi; Darsteller:innen: Daniel Sträßer, Vladimir Burlakov, Brigitte Urhausen, Ines Marie Westernströer, Anna Böttcher, Tamer Tahan, Bineta Hansen, Lorris Andre Blazejewski, Finja Leonie Meyer, Ursula Berlinghof, Alexander Prince Osei, Till Butterbach, Jing Xiang, Nils Bannert, Stephan Bissmeier; Laufzeit: ca. 88 Minuten; Eine Produktion der Bavaria Fiction GmbH, Niederlassung Köln, im Auftrag der ARD Degeto und des Saarländischen Rundfunks für die ARD

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