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„Es wird schon nicht so schlimm kommen.“ — „Die Brandmauer steht solide.“ — „Wir leben noch immer in einem Rechtsstaat.“ — „Die Kraft der Zivilgesellschaft ist nicht zu unterschätzen.“ — „Keinen Zentimeter den Antidemokraten!“ — „Das waren doch nur ein paar verwirrte Rentner.“ 

Ja, wir sind uns im Gros schon ziemlich einig, dass unsere Repräsentative Demokratie so fest im Sattel sitzt wie Tim Oliver Schultz als Nagi-nita in Der junge Häuptling Winnetou. Hmm, okay, das ist womöglich kein sonderlich sinnvoller Vergleich. Oder doch? Ist unsere gefühlte Sicherheit in Bezug auf die Unverrückbarkeit unserer etablierten Herrschaftsform am Ende genauso naiv und kurzsichtig wie jene der produzierenden Fraktionen, dass der neue Winnetou-Film schon seicht und erfolgreich durchs Land galoppieren würde?

Du musst nichts wissen

Die 1985 geborene Schriftstellerin und Journalistin Nora Burgard-Arp stellt in ihrem Debütroman Wir doch nicht unter anderem diese Frage in den Raum. Dies in ihrer im Katapult Verlag erschienen Geschichte eher rhetorisch, setzen wir doch in einer nicht allzu fernen Zukunft ein und begegnen der Mittdreißigerin Mathilda, die ihr Mantra „Das kriegt ihr von mir nicht. Das nicht. Ich will das nicht. Ich mache das nicht. Das kriegt ihr nicht.“ wiederholend ihrer so frischen wie panisch entdeckten Schwangerschaft mit dem Kleiderbügel unter großen Schmerzen ein jähes Ende bereitet. 

Seit einiger Zeit stellt die Partei SfDD (Sieg für Deutschland und die Deutschen) mit Philipp Neumeier den Kanzler (und diverse Ministerposten) und baut in hohem Tempo das Land um: Ausländer raus — es zählt Abstammung statt Pass, Entdigitalisierung, mehr Naturbezogenheit, nach Geschlechtern getrennte Klassen, die Idee der Wiedereinführung der Todesstrafe oder Verbot von „pseudowissenschaftlicher Geschlechterforschung“ und die Inhaftierung von Queers sind nur die augenscheinlichsten „Verbesserungen“ der nationalistischen Partei. Und natürlich sind Abtreibungen nun illegal und werden mit aller Härte bestraft.

Der Ehemann Mathildas, Finn, ein Lehrer mit ausgeprägtem Geltungsdrang, dem absoluten Willen immer Herr der Lage zu sein und fortwährend dem Anschein entgegenwirkend „etwas Unwichtiges zu machen. Etwas ohne Substanz“, ist mehr als nur linientreu in dieser auch die kleinsten Männer bevorzugenden Welt und darf auf keinen Fall von Mathildas Schwangerschaft und ihrer Abtreibung erfahren. Ihre Aufgabe in diesem neuen Deutschland ist es, Kinder zu gebären, ihrem Mann hörig zu sein und dem Vorgegebenen zu folgen, komme was da wolle.

Heute geben sich alle Mühe…

Burgard-Arp, die für ihre journalistische Arbeit bereits zweimal vom Medium Magazin unter die Journalistinnen und Journalisten des Jahres gewählt wurde, schmeißt uns hier mit kühlem Blick in eine unangenehme und aufdringliche Umgebung, nur durchbrochen von wärmeren Blicken Mathildas in die Vergangenheit. Aufgewachsen in einem aktivistisch geprägten Umfeld, denkt sie nun an die Kindheit mit Mutter Julia, deren bester Freundin Greta und ihrer eigenen besten Freundin Frida, die beinahe so etwas wie eine Schwester für sie gewesen ist.

Verhältnisse, die sich im totalitären Erzählungs-Jetzt verändert haben. Mutter Julia und Greta haben Deutschland verlassen; Frida ist noch da, ist aber eine andere Frida. Ist für klare Ansagen und Regeln und meint in einer Rückblende, Feminismus dürfe eben nicht die Unterdrückung der Männer bedeuten. So sind auch diese zuerst vermeintlich warmen Blicke zurück, in denen sich Mathilda beispielsweise an ihre Regenbogenfisch-Lampe erinnert, letztlich eher Öl ins bereits lodernde Dystopie-Feuer, zeigen sie doch auf, wie oft das Offensichtliche als etwas Unmögliches abgetan wurde.

…Gespräche zu führen

Oder nicht gesehen werden wollte. Versuchte Mathildas Mutter doch ihrer Tochter, die lieber im Hintergrund blieb und sich schon immer gern fügte, sensibel klar zu machen, dass weder Finn noch dessen Eltern, die die Vorgängerpartei der SfDD, die LfD (Lösungen für Deutschland), wählten, Menschen sind, die prägend für das Land und Leben der Menschen wirken sollten. Diese ließ sich ihre erste große Liebe nicht madig machen. Stand hier für sich ein. 

Dass es eben leicht ist, verständnisvollen Personen gegenüber für etwas zu stehen — auch das deutet Nora Burgard-Arp immer wieder an. Wie überhaupt Wir doch nicht durchzogen ist von feinen Beobachtungen, die gern — aber nicht immer — in Form kleiner Stiche formuliert werden. Dabei ist manches Mal sehr deutlich, auf wen oder was die Autorin anspielt, an anderen Stellen können wir Leser*innen unserer Assoziation freien Lauf lassen und die Lücken selber füllen. Ganz hervorragende Illustrationen von Iris Ott mögen diese Assoziationen noch anheizen. 

Die aufmerksame Angst

Kaum Lücken zu füllen haben wir, wenn es um das Innenleben von Mathilda geht. Hier merkt mensch, dass Burgard-Arp einen ihrer Schwerpunkte seit langem nicht nur auf die Geschlechtergerechtigkeit legt (wer könnte besser ein diktatorisches Patriarchat antizipieren?), sondern auch auf Mental Health. Immer wieder hadert Mathilda aus verschiedenen Gründen mit sich, ihren Ängsten, ihrer Blindheit in der Vergangenheit, dem Nicht-Anecken-Wollen und dem Misstrauen, das in dem manifesten Überwachungsstaat an der Tagesordnung ist. Gerade als eine Person, die vertrauen möchte und Vertrauen braucht, eine schwierige Situation. Dass Mathilda beinahe jede Menschenkenntnis abgeht, macht’s nicht leichter. 

An apple a day keeps the Schwangerschaft in mind // © Iris Ott/Katapult Verlag

Natürlich erkennt sie das Regime nach und nach als das, was es ist oder viel eher: Gibt dieser Erkenntnis in sich selbst Raum. Wie auch jener, wer ihr Mann eigentlich ist. Doch schon ein Guter, immerhin erlaubt er seiner kranken Frau das schmutzige Geschirr erst am kommenden Morgen wegzuräumen, gestattet ihr für sich allein und ganz in Ruhe im für das Kind geplanten Zimmer auf der Couch zu schlafen und sich auszukurieren und pflanzt gar einen für Kinder stehenden Apfelbaum noch vor der Schwangerschaft, um Mathilda zu motivieren und zu unterstützen. Sie könne sich glücklich schätzen — nicht jeder Frau ist ein so verständnisvoller Mann vergönnt. 

„Ich bin keine Gebärmaschine!“

Nun soll an dieser Stelle nicht zu viel über den Fortgang der Handlung von Wir doch nicht, das in zwei Teile aufgeteilt ist, verraten werden. Nur so viel: Der erste Teil fokussiert sich stark auf die selbstvorgenommene Beendigung der Schwangerschaft und der Selbstermächtigung Mathildas über ihren Körper, ergänzt um diverse Rückblenden. Der zweite Teil deckt einen erweiterten Zeitraum ab, bleibt aber immer nah am Geschehen und so vielschichtig die Autorin auch Nebenfiguren zeichnet, so wenig verliert sie den Fokus auf das, was Mathilda er- und durchlebt.

Dabei besteht bei solchen Geschichten durchaus das Risiko, sich in Message über Erzählung zu verlieren und eher einen unvollständigen Essay als einen dystopischen Charakter-Thriller zu schreiben. Dies geschieht hier nicht. Eher wird den Leser*innen nicht nur vor Augen geführt, was bei „uns“ stattfinden könnte, sondern was in manch anderen Ländern nicht mehr nur seinen Anfang nimmt. Insofern klemme ich mir an dieser Stelle auch die Frage, die ich mir manches Mal beim Lesen stellte: Was ist denn mit der Europäischen Union? Im Zweifel sehen wir, was mit ihr ist, wenn wir etwa auf die jüngere Gesetzgebung und Gesetzesinitiativen in Ungarn und Polen schauen. 

„Doch!“

Es findet sich so viel in Wir doch nicht, das jede*r Leser*in für sich entdecken und einordnen sollte. Für mich ist es ein Hybrid aus zynisch geprägter Rückschau und idealistischem Appell, aus feinsinnigem Blick in das Innere von Menschen und derbem Ausdruck von Gewalt gegen alles Unwillkommene, einem sensiblen Sinn für den Wunsch nach Verständnis und der harten Lehre von Einsamkeit, von etwas, das uns mitnimmt und am Ende doch allein lässt. 

Mein Schatz // © Iris Ott/Katapult Verlag

Damit ist dieses Buch, das Lektor Sebastian Wolter dankenswerterweise bereits nach einer Leseprobe von fünfzig Seiten unterstützte, eben nicht nur eine Dystopie, keine Handmaid’s Tale-Story, die irgendwann entgleist und aus einer Bedrohung eine zwar unterhaltsame, aber eben auch ka­ri­ka­tu­reske Soap werden lässt. Es ist eine Geschichte, die ihre Lehren schon im Vorfeld zieht und aus der wir unbedingt lernen sollten. 

AS

PS: Wir doch nicht ist auch eine super Idee zu Weihnachten! Das letzte Viertel des Buches spielt in der ach so seligen Zeit

Bringen Scherben Glück? // © Iris Ott/Katapult Verlag

PPS: Es gibt einen Austausch, der auf kleiner Fläche die größtmögliche Wirkung von allem Unangenehmen entfaltet. Dieser spielt sich während eines Grillabends ab. Wer Beklemmung so drastisch und unmittelbar beschreiben kann, muss gelesen werden. 

PPPS: Wenn ich in der Ecosia-Suchmaschine „Reichsbürger r“ eingebe ist der erste Vorschlag „Reichsbürger Rentenanspruch“, noch vor „Reichsbürger Rechtsextremismus“. Siehste mal. 

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Nora Burgard-Arp: Wir doch nicht; September 2022; mit Illustrationen von Iris Ott; 224 Seiten; Hardcover, gebunden mit Lesebändchen; ISBN: 978-3-948923-38-9; Katapult Verlag; 22,00 €

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