Wenn man nicht man selbst sein kann…

Lügen ist nicht schön. Nicht wenn man andere belügt und noch weniger, wenn man sich selbst belügt. Und doch tun wir es mit großer Häufigkeit. Philippe Besson greift die Thematik in seinem lesenswerten Buch Hör auf zu lügen auf, das in deutscher Übersetzung von Hans Pleschinski im C. Bertelsmann Verlag erschienen ist. Hör auf zu lügen befasst sich mit der Geschichte des Autoren, der seiner Hauptfigur auch ganz nonchalant seinen Klarnamen verpasst. Der Philippe des Jahres 2016 erinnert sich zurück an die Jahre 1984 und 2007, in denen die Bekanntschaft mit dem gleichaltrigen Thomas Andrieu kulminierte, ebenso wie zum Erzählzeitpunkt 2016.

Eine prägende Jugendliebe

1984 stand der damals 17-jährige Außenseiter Philippe kurz vor dem Schulabschluss. Es war klar, dass er anders als alle anderen war und sein Leben nicht im beschaulichen Dorf Barbezieux im Südosten Frankreichs verbringen würde. Er verguckte sich in den gleichaltrigen, ungeouteten Mitschüler Thomas und die beiden beginnen eine etwa ein halbes Jahr währende heimliche Affäre. Thomas verlässt anschließend Barbezieux und wie Philippe in seiner zufälligen Begegnung mit dessen Sohn Lucas 2007 erfahren soll, gründete sein Geliebter in Spanien unmittelbar eine Familie.

Die Begegnung mit Lucas wiederum weckt in Philippe die nie verschwundene Erinnerung an die gemeinsame Zeit mit dessen Vater. Sie hat beide für ihr Leben geprägt, denn sie haben einander geliebt und damit nie aufgehört. Nur konnte diese Liebe nicht mehr als ein halbes Jahr bestehen oder vielmehr gelebt werden. Vor allem Thomas konnte sich niemals dazu durchringen, seine Liebe zu Philippe sich selbst, aber auch seiner Umwelt einzugestehen. Erst Lucas sollte sie seinem Vater ganz unmissverständlich ansehen. Er brauchte kein Geständnis dieser Gefühle.

Ohne Mut wird die Lüge zur Lebenslüge

Hör auf zu lügen handelt somit vom Leben mit einer Lüge, sogar mehr: einer Lebenslüge. Während der erfolgreiche Schriftsteller Philippe mit seiner Homosexualität offen umgeht, sie auslebt und dennoch scheinbar kein außergewöhnlich glückliches Leben führt – wahrscheinlich ist es ähnlich öde, wie das Leben von so vielen – ist Thomas zeit seines Lebens in seiner Lüge gefangen. Er gründet, eher ungeplant und ungewollt, eine Familie, übernimmt ein paar Jahre später die elterliche Landwirtschaft und ist sich dennoch stets seiner Natur bewusst.

Was er jedoch nicht aufbringt, ist der Mut, den es erfordert, zu sich und seiner Natur zu stehen. Das ist sehr bedauerlich, denn Thomas‘ Gefühle gegenüber Philippe sind echt und er scheint sich ihrer bewusst zu sein, sie aber zu verdrängen. Diese Situation dürfte vielen Homosexuellen bekannt sein. Auch heute noch – und vor allem auf dem Land – ist das Bekenntnis zur eigenen Homosexualität eine große Herausforderung. Nicht jeder hat den Mut, diese zu meistern. Nicht wenige dürften sich daher in Thomas wiederfinden – traurigerweise.

Eine Geschichte, die fast zu real ist

Philippe Besson erzählt seine Geschichte sehr unaufgeregt. Eigentlich ist sie langweilig, fast wie einer von den vielen Romanen, die jährlich erscheinen. Und dennoch ist Hör auf zu lügen fesselnd und überaus anschaulich. So fragt man sich manches Mal, ob es sich nun um Fiktion handelt oder um Realität. Und auch wenn das eine oder andere Detail vielleicht erfunden sein mag, die Erzählung wirkt echt, authentisch und nachvollziehbar und das macht sie überaus lesenswert.

Gerade deshalb ist es gut, dass Philippe Besson diese Geschichte, seine Geschichte, veröffentlicht hat. Sie ist leider viel zu sehr ein oft unbemerkter Teil unseres Alltags und leistet daher einen wichtigen Beitrag, um darauf aufmerksam zu machen, wie der schambehaftete Umgang mit Homosexualität in der Öffentlichkeit noch heute das Leben so vieler Menschen unglücklich und unzufrieden macht. Und dass hier einfach und ohne große Umschweife erzählt wird, in klarer und doch schöner Sprache, wunderbar übersetzt von Hans Pleschinski, wie eine Jugendliebe ablief und das Leben zweier Menschen auf so unterschiedliche Weise geprägt hat, zeigt, wie normal und wie wenig anders die gleichgeschlechtliche Liebe ist.

Wie bereits erwähnt, gibt es vermutlich viele, die sich in Thomas und seiner Situation wiederfinden werden. All diesen ist dieser etwas andere autobiografische Coming-of-Age-Roman vielleicht eine Stütze. Ein Mutmacher, sich der eigenen Situation und Natur zu stellen. Aber auch denen, die den Mut sich zu outen und zu sich zu stehen bereits aufgebracht haben, kann er helfen sich daran zu erinnern, welches Glück sie eigentlich haben, diesen Mut aufgebracht zu haben. Und allen, die mit Homosexualität gar nichts anfangen können, sei das Buch erst recht empfohlen, denn es zeigt auf nüchterne und schonungslose Art und Weise, was es mit einem machen kann, wenn man nicht man selbst sein kann. Unser Fazit daher: ein überaus lesenswertes Buch.

HMS

PS: UPDATE, 27. Oktober 2023: Am 16. November 2023 startet die Verfilmung des Romans (Regie: Olivier Peyon, auch Drehbuch mit Vincent Poymiro) in unseren Kinos. In dieser heißt der fiktionalisierte Autor nicht mehr Philippe sondern Stéphane (gespielt von Guillaume De Tonquédec); die Rollen von Lucas und Thomas übernehmen Victor Belmondo und Julien De Saint-Jean. Eine Rezension der Literaturverfilmung lest ihr bei uns zum Kinostart.

Hör auf zu lügen von Philippe Besson

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Philippe Besson: Hör auf zu lügen (OT: Arrête avec tes mensonges); Aus dem Französischen von Hans Pleschinski; 1. Auflage 2018; 160 Seiten; Hardcover mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-570-10341-8; C. Bertelsmann Verlag; 20,00 € 

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