„Wie ein Käfig der Freiheit.“

Vergangene Woche starte die nicht nur von uns heißersehnte Verfilmung Olivier Peyons von Philippe Bessons eindriglichem Roman Hör auf zu lügen in unseren Kinos. Wie ihr in unserer Filmrezension lesen könnt, ist auch dieser nicht weniger intensiv als der Roman. Peyon, der auch das Skript zum Film verfasst hat, nimmt einige Änderungen vor, überträgt die Geschichte nicht 1:1 auf die Leinwand, fängt aber die Essenz der Story ein und erweitert sie gar ein wenig.

Wie es dazu kam und er eine zauberhafte Lagune fand, was sein Film mit einer Psychoanalyse Bessons zu tun hat und wie die Jungdarsteller Jérémy Gillet und Julien de Saint Jean an ihre teils sehr intensiven Sexszenen sowie manches mehr rangegangen sind, konnten wir mit dem Auteur sprechen und gehen dabei ein wenig in die Filmanalyse.

the little queer review: Sie haben gesagt, dass Sie das Buch Hör auf zu lügen von Philippe Besson noch nicht kannten, als das Projekt an Sie herangetragen wurde, es dann aber gelesen haben. Wie kam es zu der Entscheidung sich der Verfilmung zu widmen?

Oliver Peyon: Wegen des Endes, das ist sehr bewegend. Hör auf zu lügen war das erste Buch, das ich von Philippe Besson gelesen habe. Als ich dann am Skript zum Film gearbeitet habe, habe ich all seine Bücher gelesen [in Frankreich sind um die zwanzig Bücher von Besson erschienen, Anm. d. Red.] – und ein wenig handeln sich alle von Besson selbst. Bei diesem Roman jedenfalls hat mich der Charakter des Sohnes, Lucas, sehr bewegt.

Im Buch steht ja die in Rückblenden geschilderte Romanze zwischen Thomas und Stéphane im Vordergrund, was ich mochte, im Film aber schon sehr oft gesehen habe. Interessanter fand ich den Handlungsstrang der im Buch nur wenig Raum einnimmt, die Begegnungen zwischen dem erwachsenen Autoren Stéphane und eben Lucas, dem Sohn von Thomas. Das war wirklich toll geschrieben und dieser Sohn, der so sehr unter dem Schweigen seines Vaters gelitten hat, hat mich sehr berührt.

Im Grunde wollte ich vor allem auch einen Film über den Sohn machen und habe die Liebesgeschichte der Teenager ein wenig reduziert. Aber um ehrlich zu sein, liebe ich auch diese Teile – vor allem wegen der Jungschauspieler, die Thomas und Stéphane so stark verkörpern [Julien de Saint Jean und Jérémy Gillet, Anm. d. Red.], das ist große Klasse.

the little queer review: Wieso entscheidet Stéphane sich eigentlich in seine alte Heimat zu kommen? Er scheint eigentlich nicht dort sein zu wollen, Gaëlle Flamand (Guilaine Londez) muss ihn förmlich zu den Terminen schleifen und er macht nicht den Eindruck an irgendetwas teilnehmen zu wollen. Geht es ihm darum, sich den Geistern der Vergangenheit zu stellen?

Der erfolgreiche Romanautor Stéphane Belcourt (Guillaume de Tonquédec) kehrt zurück in die Heimatstadt seiner Jugend // © TS Productions/24 Bilder

Oliver Peyon: Ja, exakt. Er wurde traumatisiert, als er siebzehn war von dieser ersten Liebe. Manche mögen nach solch einer Geschichte einfach weiter machen können, aber nicht Stéphane. Es war vermutlich gar nicht mal die Trennung, die ihn so erschütterte. Aber das Schweigen, das Ende des Kontakts. Wir reden über die 1980er-Jahre – da gab es kein Internet, keine Mails, kein Instagram. Er wusste nicht, was mit Thomas war. Also entscheidet er sich zu gehen. In der großen Stadt zu studieren und nicht mehr zurückzukehren.

the little queer review: Etwas, das Buch und Film unterscheidet, ist, dass Lucas im Film erst lügt und nicht offen sagt, dass er es ist, der hinter der Einladung an Stéphane steckt. Nachdem diese Lüge auf dem Tisch ist, verändert sich die Dynamik zwischen Lucas und Stéphane. Wirkte es zuerst so, als würde der Autor dem jungen Mann etwas beibringen, dreht sich das nun und es ist so, als würde Stéphane von Lucas lernen. Dem zu folgen ist sehr spannend… Wie kam es dazu?

Oliver Peyon: [lacht] Ich weiß es nicht, Sie haben das schon sehr treffend beschrieben. Das Buch ist ganz anders aufgebaut, und genau, diese Lüge kommt da nicht vor. Dafür gibt es im Buch etwas sehr Interessantes, das ich nicht in den Film übertragen habe. Im Roman treffen sich der Autor und der Sohn zwei Mal. Einmal und dann nochmal rund eine Dekade später und hier will Lucas vom Tod des Vaters erzählen. Das ist spannend, wollte ich aber so nicht übernehmen, da ich es in meinen Filmen mag, wenn die Tage innerhalb eines kurzen Zeitabschnitts geschehen.

Auf diese Lucas-Lüge kam ich irgendwann während des Schreibprozesses, als ich quasi in Lucas‘ Haut steckte, mich in ihn hineinversetzt habe. Ich habe dann auch Victor Belmondo [der den Lucas spielt, Anm. d. Red.] gesagt, dass er den ersten Teil des Films unschuldig spielen soll, so als wüsste er es selber nicht. Erstgradig subtil sozusagen.

the little queer review: Was er perfekt hinbekommt. Man kann vielleicht etwas ahnen, aber Gewissheit kommt da erst mit der Offenbarung auf.

Oliver Peyon: Sehr gut. Das ist das mit der Dynamik: Am Anfang scheint Stéphane mehr zu wissen, über den Dingen zu stehen. Das verändert sich im zweiten Teil des Films. Und es sind immer Puzzlestücke aus Erinnerungen und Gesprächen, die dort rumfliegen und zusammgenfügt werden müssen. Es ist wie eine etwas verdrehte Vater-Sohn-Beziehung zwischen ihnen.


Lucas Andrieu (Victor Belmondo), der Sohn von Stéphane Belcourts Jugendliebe Thomas // © TS Productions/24 Bilder

the little queer review: Ich würde gern zu einer anderen essenziellen Figur im Film kommen: Der Lagune. Die wirkt wie eine Analogie auf die Beziehung von Stéphane und Thomas. Auf der einen Seite sehr frei und nur für sie bestimmt. Aber umgeben, eingeschlossen von Felsen. Im Grunde wie eine eingesperrte Freiheit

Oliver Peyon: …ja, genau so ist es. Wie ein Käfig der Freiheit.

the little queer review: Wie haben Sie diesen wunderschönenen und so passenden Ort gefunden?

Oliver Peyon: In der Umgebung unseres eigentlichen Drehorts, gibt es so einen Ort nicht. Doch ich brauchte einen Platz, wo die beiden schwimmen konnten, das ergab sich auch während des Drehbuchschreibens. Das habe ich Philippe Besson erzählt, der in Barbezieux-Saint-Hilaire aufwuchs, dort haben wir Teile gedreht, und ihn gefragt, wo er als Kind so schwimmen gegangen ist. „Ich war nicht viel schwimmen“, sagte er. Nun gut. Empfahl mir aber einen Ort.

Ich war in Paris und hab bei Google Earth geschaut, einen Namen eingegeben und den Ort gefunden. Allerdings nicht den, den Philippe Besson mir nannte, sondern einen anderen, sehr versteckten und geschützten Ort. Deswegen konnten wir in den Credits auch nicht angeben wo genau das ist und wie die Gegend heißt. Jedenfalls habe ich die Lagune aus Versehen gefunden.

Die Freiheit eines Sommers: Thomas Andrieu (Julien de Saint Jean) und Stéphane Belcourt (Jérémy Gillet) an der Lagune // © TS Productions/24 Bilder

Julien de Saint Jean und Jérémy Gillet waren auch die einzigen, die darin schwimmen durften – das ist eigentlich nicht erlaubt. Ich durfte auch nicht, was sehr frustrierend war [lacht].

the little queer review: Wie Sie schon sagten, liefern Julien als Thomas und Jérémy als Stéphane eine klasse Leistung ab. Auch hier wirkt es so, als würde der junge Stéphane Thomas etwas beibringen. Wie er ein wenig sanfter und zärtlicher sein kann beispielsweise, dies vor allem bezogen auf die Körperlichkeit, das Sexuelle, das anfangs sehr rough ist. Später aber auch in Bezug auf seine Gefühle, dass er ihm etwas subtil Wege aufzeigt empfindsamer zu sein. Wie war da Ihre Heransgehensweise, diese Chemie und das Vertrauen aufzubauen und zu vermitteln?

Oliver Peyon: Ja, die Sexszenen… Wir haben den Dreh mit der ersten Sexszene begonnen…

the little queer review: …oha…

Oliver Peyon: … ja… Ich habe die beiden gefragt, womit sie anfangen wollen, denn wir hatten verschiedene Möglichkeiten. Und sie haben gesagt, dass sie damit beginnen möchten, dann wäre das auch erledigt. Diese Szenen sind auch wirklich wichtig, sowohl für die Geschichte als auch für die Chemie, wie Sie sagen.

Wir haben den Dreh erst vier Monate nach dem letzten Casting begonnen und in dieser Zeit sind Julien und Jérémy Freunde geworden. Die waren auch auf der selben Theaterschule, was sie zuerst gar nicht wussten, was sie dann aber verband. So fühlten sie sich schon einmal wohl miteinander. Ich habe auch viel mit ihnen gesprochen. Wie Sie schon sagten, sind diese Szenen anfangs sehr hart, aber das hat ja einen Sinn. Durch unsere Gespräche zu dritt wurde deutlich, dass es diese Szenen nicht einfach zum Spaß gibt, sondern sie einen Zweck haben. Beide hatten auch das Buch gelesen und in dem sind die Sexszenen noch herber.

In inniger Zweisamkeit: Thomas Andrieu (Julien de Saint Jean) und Stéphane Belcourt (Jérémy Gillet) // © TS Productions/24 Bilder

Vertrauen und Sicherheit waren also da, als wir die Szenen filmten und die beiden hatten die volle Kontrolle über diese Momente. Klar wusste ich, was ich filmisch wollte, aber klar war, dass die beiden nichts machen, das sie nicht wollten. Hör auf zu lügen ist mein sechster Film und ich muss sagen, es waren die glücklichsten Dreharbeiten, die ich je hatte.

Das liegt sicher auch an der Geschichte, die auch autobiografisch ist, die nicht einfach eine (schwule) Liebesgeschichte ist, sondern eine Geschichte über Lügen und (Familien-)Geheimnisse. Eine universelle Geschichte, die vieles abdeckt. Die Crew, die Schauspielenden – alle hatten einen guten Grund dabei zu sein. Es waren intensive Dreharbeiten für alle.

the little queer review: Das kann ich mir vorstellen. Wie Sie meinten, ist die Story autobiografisch geprägt, Sie haben Bessons andere Bücher gelesen, in denen es eben auch immer verklausuliert um ihn selbst geht, und Sie haben an anderer Stelle mal gesagt, dass Sie auch mit Philippe Besson gesprochen und einige Anekdoten aus diesen Gesprächen haben in die Verfilmung einfließen lassen. Also haben Sie im Grunde nicht „nur“ das Buch verfilmt, sondern eigentlich einen Film über Philippe Besson gemacht…

Oliver Peyon: [lacht] …ja, das stimmt. [Oliver Peyon greift nach oben und zeigt sein Exemplar der Taschenbuchausgabe der deutschen Übersetzung von Hans Pleschinski.] Im Buch ist die Figur des Autoren mit sich im Reinen, darum spielt es auch noch mehr in der Vergangenheit. Eine Figur, die mit sich im Reinen ist, macht aber keinen guten Film. Ich wollte eine komplexere Figur zeigen – also habe ich eben seine Bücher gelesen, alte Zeitungsartikel über ihn gelesen, ältere Interviews mit ihm recherchiert.

De facto gleicht der Philippe Besson aka Stéphane in meinem Film nun mehr dem Philippe Besson von vor zehn Jahren. Es gab eine Zeit in seinem Leben, da war er tatsächlich etwas verloren, so ganz real. Das ist ganz witzig: Als er den Film gesehen hat, hat er sich wiedererkannt, war ganz überrascht davon. Für die Recherche hatte ich auch seine Herausgeberin angerufen und ihr ein paar Fragen gestellt und sie sagte dann irgendwann zu mir, dass ich wohl eine Psychoanalyse Philippes machen würde [lacht].

Dass wir mit Guillaume de Tonquédec noch einen Schauspieler besetzt haben, der Besson in der Physis ähnlich ist, verstärkt diesen Eindruck natürlich noch, dazu ein paar Klamotten und so weiter.

the little queer review: Ich muss den Film nach unserem Gesrpäch nochmals ansehen…

Oliver Peyon: …ja, unbedingt!

the little queer review: Zum Ende noch eine ganz andere Frage. In Deutschland debattieren wir seit geraumer Zeit viel und hitzig über Filmförderung, die recht kompliziert strukturiert ist und größere und Mainstream-Produktionen von vornherein bevorzugt. Was es dem Indie– und Arthouse-Kino, den Auteur-Filmen und kleineren Projekten schwer macht, das Licht der Zuschauerwelt zu entdecken. Gibt es eine ähnliche Debatte in Frankreich oder ist es dort einfacher Filme wie Hör auf zu lügen umzusetzen, finanziert und unterstützt zu bekommen?

Oliver Peyon: Naja, wissen Sie, die Franzosen sind niemals happy, sind immer am diskutieren. Das System in Deutschland kenne ich natürlich nicht, aber in Frankreich können wir uns eigentlich glücklich schätzen, denn wir haben das CNC, Centre national du ciném, das Filme fördert. Klar ist das auch nicht ganz einfach, da eine Menge Leute Filme machen wollen, aber auf eine gewisse Weise sind wir durch diese Institution geschützt.

Es gibt aber auch immer die ganz großen Produktionen mit den großen Stars, viel Förderung, Unterstützung von Unternehmen. Da verändert sich was. Wie Sie sagen, wir können diese Indie-Filme und Nischenproduktionen machen, aber es gibt doch immer weniger Geld dafür und mehr geht an die Großproduktionen.

Und wissen Sie, das sehen wir auch in den Kinosälen: Die Menschen gehen in die gleichen Filme. In diesen amerikanischen Blockbuster und die französische Großproduktionen, dafür immer weniger in andere Filme. Das ist schade. Aber dennoch: Mit dem CNC haben wir großes Glück.

the little queer review: Das ist doch gut zu wissen. Lieber Olivier Peyon, ich danke Ihnen für dieses erhellende Gespräch.

Lucas Andrieu (Victor Belmondo) und Stéphane Belcourt (Guillaume de Tonquédec) // © TS Productions/24 Bilder

Oliver Peyon: Vielen Dank Ihnen und alles Gute!

PS: Passend dazu gibt es heute Abend französische Zwiebelsuppe.

Hör auf zu lügen ist seit dem 16. November 2023 im Kino zu sehen.

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