Ein Spiel oder Ernst?

„Du bist nicht wie die anderen“, sagt Lisa zu Michael und ahnt gar nicht wie richtig sie damit liegt. Michael (Zoé Héran) ist neu in der Nachbarschaft, findet während der Sommerferien schnell Anschluss und weckt aufgrund seiner weniger versponnenen Andersartigkeit Lisas (Jeanne Disson) Interesse. Was weder sie noch die nun mit Michael Fußball spielenden Jungs wissen: Michael heißt eigentlich Laure und ist ein Tomboy, woher auch der Titel von Céline Sciammas drittem Langfilm rührt, den der WDR im Rahmen von WDR QUEER und einer damit verbundenen Werkschau der queerfeministischen Regisseurin zeigt.

Glanzleistungen

Sciamma gibt ihren Figuren wie gewöhnlich viel Raum und Ruhe, verzichtet auf unnötige Dialoge, lässt lieber Mimik, Gestik und die Bilder von Crystel Fournier (Water Lilies, Große Freiheit) sprechen. Was natürlich gerade mit jungen Darsteller*innen schnell nach hinten losgehen kann – es hier aber nicht tut. Sowohl Héran wie auch Disson und Malonn Lévana, die Laures/Michaels jüngere Schwester Jeanne spielt, tragen den Film problemlos über weite Strecken.

Laure (Zoé Héran) wagt ein Experiment: sie stellt sich bei den anderen Kindern als Michael vor // © WDR/Alamode Film

Wie kürzlich erwähnt spielen die Erwachsenen eine untergeordnete Rolle. Der liebevolle Vater (Mathieu Demy) ist durch seine Arbeit eingebunden und die Mutter (Sophie Cattani) durch die letzten Züge ihrer Schwangerschaft. Wie gut also, dass die Kinder bei bestem Wetter Fußball spielen, schwimmen gehen und Wasserschlachten austragen können.

Kein Melodrama, keine Pathologisierung

Hier ahnt noch niemand, dass Laure sich aus Knete ein Penisimitat bastelt, um die eben noch aus dem Badeanzug zurechtgeschnittene Badehose auszufüllen. Wir ahnen allerdings bereits, dass das natürlich nicht ewig so weitergehen kann, weitergehen wird. Dennoch – so viel Spoiler sei erlaubt – endet Tomboy bei weitem nicht so tragisch, wie es bei solchen Filmen gern einmal der Fall ist. Ebenso verzichtet Sciamma, die auch hier wieder das Drehbuch verfasste, auf unschön melodramatische Töne, wie sie etwa das Ende von Einfach Charlie verhunzten.

Interessant an diesem Film, der auf der Berlinale 2011 die Panoramasektion eröffnete und den Teddy Jury Award gewann, ist auch, dass Céline Sciamma nicht psychologisiert und schon gar nicht pathologisiert. Es ist an uns zu überlegen, ja für uns zu entscheiden, ob Laure lediglich mit Geschlechterrollen spielt, bewusst oder unbewusst Rollenmotive und Klischees annimmt und sie im selben Zuge konterkariert oder ob sie*er im Grunde trans* ist. Oder ob das Kind das Spiel mit Identitäten als einen Bewältigungsprozess wählt, um mit den ständigen Umzügen und Ortswechseln zurechtzukommen.

Große Kinder, kleine Kinder, grausame Kinder

Wir sehen auf jeden Fall, wie gut es ihr als Michael geht. Wie Michael gern und konsequent die Rolle des großen, starken Bruders für Jeanne annimmt. Wir sehen, wie Laure damit hadert, die an sie als Mädchen gerichteten Erwartungen zu erfüllen. Wir sehen eine Mutter, die schließlich aus Überforderung – und vermutlich einer panischen Kurzschlussreaktion – eine Entscheidung trifft, die Laure/Michael sicherlich für den Rest des Lebens formt und einfach nur demütigt.

Oh Mother // © WDR/Alamode Film

Wir sehen, dass diese Erwachsenen auch nur große Kinder sind und dass Kinder oft grausam sind, wohl aber auch nur ein Spiegel ebendieser Erwachsenen. Wir sehen in jedem Fall einen ziemlich guten Film, der selbst ohne große Drastik lange nachhallen dürfte.

AS

Der WDR zeigt Tomboy am Donnerstag, 10. August 2023, um 23:45 Uhr. Anschließend ist der Film für 30 Tage in der ARD-Mediathek verfügbar.

Tomboy; Frankreich 2011; Buch und Regie: Céline Sciamma; Bildgestaltung: Crystel Fournier; Musik: Jean-Baptiste de Laubier; Darsteller*innen: Zoé Héran, Jeanne Disson, Malonn Lévana, Mathieu Demy, Sophie Cattani, Rayan Boubekri, Yohan Vero, Noah Vero, Cheyenne Lainé; Laufzeit ca. 84 Minuten; FSK: 6

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