Wie mit all dem umgehen?

Es könnte so idyllisch sein, auf dem schönen, im Tal der Santoire in der Auvergne gelegenen Hof, auf dem sie, ihr Ehemann Pierre und die drei Kinder Isabelle, Claire und der jüngste Sohn Gilles leben. Zwar sind Kredite abzubezahlen, schließlich muss mensch mit der Zeit gehen und Ende der 1960er-Jahre neue Maschinen anschaffen, auch wenn der Gehilfe Felix Angst vor den tödlichen Traktorungeheuern hat. Die Kinder entwickeln sich gut: Isabelle, die Älteste, wird eigenständiger, beginnt sich abzunabeln von der Mutter, ist aber die nahezu perfekte große Schwester. Claire vertreibt sich die Zeit mit Karnickeln und springt auf dem Hof umher, während Gilles, der noch immer etwas nach unschuldigem Baby riecht, die Welt zu erkunden beginnt – wenn auch eher still.

Die Tristesse

Wäre da nicht das Unausgesprochene, das sich jeden Samstagabend ereignet. Wenn Pierre ausrastet und seine Ehefrau traktiert, verprügelt, die angestaute Wut der Woche an ihr auslässt. Seiner trägen Ehefrau, die „wie eine schwere Kuh [ist], eine alte, müde Kuh, […] eine abgewrackte Kuh; sie käut wieder und wartet“, nach drei Schwangerschaften, der Sterilisation, der Tristesse des emotionslosen Alltags und dem Warten darauf, dass das Unsagbare wieder geschieht.

Es ist keine schöne Welt, die uns die französische Erfolgsautorin Marie-Hélène Lafon in ihrem verknappten und doch emotional brutal detailreich geschilderten Roman Die Quellen, erschienen im Frühjahr 2024 im Schweizer Atlantis Verlag, auf drei Zeit- und Erzählebenen vor Augen führt. Zunächst schildert uns die Erzählstimme die Ereignisse eines Wochenendes in den Tagen des Sechstagekriegs, dem dritten Arabisch-Israelischen Krieg, am 10. und 11. Juni 1967 aus Sicht der namenlosen Ehefrau. Die für sich jedoch diverse Selbstbeschreibungen oder solche aus ihrem Umfeld findet – siehe oben.

Das Auskotzen

Dieser Abschnitt ist der am ausführlichsten ausgestaltete, der sich wie ein slow burn nach und nach verdichtet, wobei die Eskalation im Grunde Alltag ist. Am Samstagabend wird es physisch, davor geht es auf die Psyche, an die Seele. Der Ehemann ignoriert seine Frau, straft sie mit Blicken, die Kinder scheinen ihn zu fürchten, wissen um die Dinge, die sich im Haus auf dem schön gelegenen Hof abspielen, er nennt seinen Sohn, im Grunde noch ein Kleinkind, einen Jammerlappen.

S. 68

Von Beginn an sitzen die Sätze in Lafons Die Quellen, die Andrea Spingler meisterlich ins Deutsche übertragen hat. Ähnlich wie die namenlose Hofherrin – ihr gehören fünfzig Prozent – immer wieder schildert, dass über diese Dinge unmöglich gesprochen werden kann, bleiben sie auch im Roman für geraume Zeit nur angedeutet. Und doch wissen wir sofort worum es geht. Wissen genau, wovor sie zu flüchten überlegt (sicher nicht nur vor dem berühmten Käse Saint-Nectaire, der ihr zuwider ist). Wieder und wieder und wieder… und es doch nie tut. Nachts, nackt nur mit einem Mantel bekleidet, aus dem Haus flieht und doch wieder zurückkehrt…

Das Ekel

…bis eines Tages… Ja, was eines Tages? Eines Tages ändert sich etwas. Was und wie, das erfahren wir detailliert in den erneut von einer Erzählperson geschilderten Sonntagsgedanken Pierres am 19. Mai 1974. Wir erfahren die Abscheu und den Ekel, den er seiner Frau gegenüber empfand, noch empfindet. Für wie schwach, faul, behäbig und dumm er sie hält. Von nichts habe sie eine Ahnung, die Töchter seien klüger, der Junge werde genauso unnütz und schwach wie die Mutter, die so gar nicht nach seiner starken Schwiegermutter komme.

S. 105 f.

Wir erfahren, wie klein dieser Mann, dieses Ekel ist, der, sind sie zu Besuch bei ihrer Familie, eingeklemmt zwischen den Männern sitzt und sich stillos sein Brot schmiert. Wie er seiner Familie hörig ist. Wie er nichts vom Leben versteht und die Veränderungen – scheiß 68er! – der Zeit und Welt nicht begreifen kann; wie er überhaupt nichts begreifen kann und von allem überfordert ist, der Jammerlappen. Dieser Jammerlappen, der seinen Frust über sein Leben, seine Familie, seine Schwäche und sein Unwissen, auch darüber, was womöglich über ihn geredet wurde und wird, an der Frau, den Kindern, über die er Macht zu haben glaubt, auslässt. Immerhin aber trinkt er nicht, lässt sie uns wissen. Er könne nicht nur Fehler haben. Schlagfertig ist sie, für so eine dumme Kuh.

Die Quelle

Im dritten Teil, einem sehr kurzen Abschnitt am 28. Oktober 2021, nimmt Claire Abschied vom Hof im Tal der Santoire in der Auvergne:

S. 116

Quelle eines Lebens voller Fragen, eines Lebens, in dem es lange wenig Licht gab. Und doch, „seit Langem versucht sie nicht mehr, zu verstehen, was dieser rechteckige, im hintersten Winkel eines winzigen Tals verlorene Hof für sie bedeutet, […].“ Was wir, so wir es möchten, verstehen, ist eine Welt, die auf der einen Seite vergangen scheint und doch sehr heutig ist.

Marie-Hélène Lafon hat einen Roman über das Erinnern und den Abschied geschrieben, der aber sehr im Jetzt ist. Einen Roman, den mensch ohne Weiteres und nur mit leicht angepassten Gedanken in nahezu jede aktuelle Diskussion um Recht und Unrecht, Unterdrückung und Befreiung, Schweigen und Schreien, Gewalt und Wirkung, Väterherrschaft und Emanzipation einbringen könnte. Dies in einer Sprache, die selbst, wenn sie Details von Übergriffen ausspart, oft in elegantester Form grausam und brutal ist.

Die Quellen ist ein fein ziseliertes Werk über die Mechanismen der Gewohnheit von Unrecht und Gewalt, (Macht-)Missbrauch und das Erringen der Macht über sich selbst. Über die Natur, sowohl die des Menschen als auch die uns umgebende. Eine Parabel über ein „Das-Haben-Wir-Schon-Immer-So-Gemacht-Wieso-Sollte-Sich-Das-Ändern?“ Und nicht zuletzt eine Geschichte über die Fragen, ob und wie Herkunft, Erfahrung uns prägen und ob ein dies und sich selbst zu verstehen notwendig ist, um zu leben, um damit umzugehen. Ein großer Wurf, im kleinen Format.

AS

Marie-Hélène Lafon: Die Quellen; Aus dem Französischen von Andrea Spingler; März 2024; 128 Seiten; Hardcover, gebunden; ISBN: 978 3 7152 5035 9; Atlantis Verlag; 20,00 €

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert