Im Lauf der ersten halben Stunde von André Szardenings’ Bulldog, seinem Abschlussfilm an der ifs internationale filmschule köln, war ich mir sehr sicher, dass der Titel dieser Besprechung so lauten würde, ja müsse. Freilich ohne das Frageziechen am Ende. Erinnerte doch manches daran an Françoise Sagans großes Stück Bonjour tristesse. Ko-Abhängigkeit einer zu engen Elternteil-Kind-Bindung, Flucht vor dem „echten“ Leben und Ignorieren möglicher Einsamkeit, Ausblenden von Lebenswirklichkeit, et cetera. Wenn hier auch ohne das viele Geld und den Luxus, außerdem befinden wir uns nicht an der Côte d’Azur sondern auf einer spanischen Insel (gedreht wurde in Sant Antoni de Portmany auf Ibiza). Doch erzählt Bulldog gar keine solche Geschichte, wie sich herausstellt. Nicht das einzige Mal, dass dieser formidable Film uns während seiner neunzig Minuten Laufzeit überraschen soll…
Mutter-Kind-Freundin
…so soll auch gar nicht zu viel über den Verlauf des teils wie ein lichtdurchflutetes Kammerspiel laufenden Films, der seit Anfang Februar im Kino zu sehen ist, verraten werden. Zu Beginn treffen wir auf den von zehn zurückzählenden Bruno (Julius Nitschkoff, Gestern waren wir noch Kinder, Toubab, Tatort: Der Herr des Waldes), der am Morgen seines einundzwanzigsten Geburtstags mit seiner nur fünfzehn Jahre älteren Mutter Toni (Lana Cooper, Eldorado KaDeWe, Tatort: Das ist unser Haus) Fangen spielt. Dass wir hier denken könnten, es handle sich um ein Paar, gibt schon einmal eine Richtung vor, in die André Szardenings, der auch das Drehbuch zu seinem Langfilmdebüt schrieb, geht.
Doch auch hier gilt: Obacht vor zu schnellen Sch(l)üssen. Denn auch wenn die körperliche Nähe zwischen Mutter und Sohn durchaus zu bedenken gibt, wird hier keine inzestuöse Geschichte erzählt oder angedeutet, dass es einmal zu weitergehenden Momenten gekommen sein könnte. Stattdessen lernt Toni, die gemeinsam mit Bruno in einer noch nicht voll geöffneten Hotelanlage im Facility Management arbeitet, Hannah (Karin Hanczewski, Tatort Dresden, Loving Her) kennen. Die beiden Frauen nähern sich zügig an, Hannah wohnt gar plötzlich bei ihnen — was in Bruno Irritationen, Eifersucht und Sorge auslöst.
Übergänge und Unterscheidungen
Zuerst reagiert er passiv-aggressiv, dann laut-aggressiv und schließlich beinahe positiv überrascht auf Hannah. Wenn es anfangs so wirkt, als würde er zeitnah beginnen, Pläne zu schmieden, wie er die neue Frau in Tonis Leben wieder loswerden könnte, bleibt es doch zuerst bei spätpubertären Reaktionen (wer hat bitteschön noch nie gegen ein Auto gepisst?), bis durch einen gar nicht so unvermittelten Wutausbruch nach langem Arbeitstag klar wird: Es geht hier doch um etwas anderes. Beziehungsweise vermengen sich so manche Dinge.
So wird dem jungen Mann, der nebenher noch eine wunderbare und ohne Rührigkeit rührende Bindung zum Nachbarsmädchen Zoe (Zoe Trommler) aufbaut, klar, dass es nicht unbedingt von Vorteil sein muss, mit der eigenen Mutter befreundet zu sein. Dass die Übergänge von Kindheit zu Jugend und Erwachsensein fließend sein können (hey, Euphoria, Élite und Co.) und die Unterscheidung von jenen, die Verantwortung für andere tragen, zu jenen, die sich gern von dieser tragen lassen, nicht immer so leicht zu treffen ist.
Fürsorge und Toxizität
So stellt sich Bruno, aus dessen Sicht Bulldog erzählt wird, so einige Fragen, die uns in dieser verspätet ablaufenden Coming-of-Age-Geschichte, in der die Figuren „ weder gut noch böse sind und alle aus ihrer Sehnsucht heraus agieren“, zu packen wissen. André Szardenings, selber Jahrgang 1989, eben zitiertem Statement zum Film kann nur zugestimmt werden. Allein, dass alle der drei fabelhaft gespielten Hauptfiguren uns ihnen mal zustimmen, sie ab und an urkomisch, hin und wieder erschreckend abstrus und nicht selten verblüfft sein lassen, gibt seinen Worten recht.
Vor allem zwischen Nitschkoff und Hanczewski sprühen die Funken der Skepsis, Abneigung und Annäherung. Aber auch mit Cooper funktioniert das super. Vor allem in der zweiten Hälfte des Films, wenn die Brüche in dieser mal fürsorglichen, mal toxischen Beziehung zwischen Mutter und Sohn beziehungsweise den vermuteten Best Friends Forever sichtbarer und an mancher Stelle ausformuliert werden. Dass Bulldog dabei nie zu einem niederschmetterndes Drama wird, sondern eine knifflige Gemenge- und Gefühlslage lebendig erzählt, ist eine weitere positive Überraschung.
Mut zum Wagnis
Ebenso, dass die Queerness von Toni und Hannah selbstverständlich eingebracht wird; über einen anderen Punkt — der sich früh andeutet, aber erst spät zum Tragen kommt — mag mensch sich streiten. Auch hierzu noch zwei Gedanken von André Szardenings: „Auch, dass Bruno als Hetero-Cis-Mann ohne Klischees erzählt wird und in sich eine Figur ist, deren Leben von queeren Perspektiven geprägt ist, war ein wichtiger Bruch mit Erwartungen. Ich glaube, meine Queerness und die Tatsache, selbst Kamera gemacht zu haben, haben sehr geholfen, einen sensiblen und intimen Blick auf Brunos Welt zu finden.“
Diesen Zugang finden wir durchaus — dank eines starken, organischen Drehbuchs und einer ebensolchen Vermittlung von Dialog und Figuren durch die Schauspielenden. Dank einer in der Tat sehr prägnanten und fließenden Kameraführung. Dank sehr unmittelbarer Musik von Eduardo Noya Schreus aka NOIA. Dank des Muts zum Wagnis, eine vermeintlich absehbare Geschichte in nahezu völlig neuen Mustern zu gestalten. Ein Wagnis, das sich gelohnt und mehr als ausgezahlt hat.
AS
PS: Bulldog war übrigens u. a. als Bester Spielfilm für den FIRST STEPS Award 2021 und den Filmfestival Max Ophüls Preis 2022 nominiert. Auszeichungen für den Besten Film gab es für André Szardenings und als Bestem Darsteller für Julius Nitschkoff jeweils auf dem Evolution Mallorca International Filmfestival 2022 und den Biberacher Filmfestspielen 2022.
Bulldog läuft im Verleih von missingFILMs seit dem 2. Februar 2023 in den Kinos.
Bulldog; Deutschland 2022; Buch, Regie und Kamera: André Szardenings; Musik: Eduardo Noya Schreus (NOIA): Darsteller*innen: Julius Nitschkoff, Lana Cooper, Karin Hanczewski, Moritz Führmann, Zoe Trommler, Cosima Henman; FSK: 12; Laufzeit: ca. 96 Minuten; seit dem 2. Februar 2023
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