Lasst mich diese Besprechung mit einem Eingeständnis beginnen: Als wir bei the little queer review begannen, den britischen Film Seitenspiel zu schauen, hatte niemand so genau hingesehen, worum es eigentlich gehen würde. Der Eindruck war: UK, Rugby, Homofeindlichkeit — weil es bestimmt so wäre, dass zwei schwule Spieler in einer Hetero-Mannschaft miteinander anbandeln und sich dann durchsetzen müssen oder so. So im Shakespeare’schen Romeo-und-Julia-Style eben. Ist es aber nicht. Zwar gibt es im teils via Kickstarter finanzierten Debütfilm von Matt Carter reichlich Testosteron, nicht zu wenig Breitbeinigkeit, aber weder Homophobie noch große Coming-Out-Momente.
Alpha- und Beta-MännchenTeam
Angesiedelt in London beginnt der Film mit energiegeladener Musik (ebenfalls von Matt Carter) und ordentlich Kasalla! auf dem Rugby-Feld. Es spielt das B-Team einer nicht-heterosexuellen Mannschaft, gibt sein Bestes und muss doch um den Fortbestand bangen. Kostbare Förderung soll lieber in die etablierten Spieler statt in den Nachwuchs fließen. Dieser Konflikt wird uns am Spiefilmrand durchgehend begleiten und spiegelt in der Tat den Konflikt zwischen Breiten- und Spitzensport, den wir auch aus Deutschland kennen.
Im Fokus des gut zweistündigen romantischen Dramas stehen aber der talentierte B-Team-Spieler Mark (*schleck*: Alexander Lincoln) und A-Team-Player Warren (*auchschleck*: Alexander King). Mark ist noch einigermaßen neu in seinem Team und sein ihn gern etwas abschätzig behandelnder Partner Richard (Alex Hammond) vermutet, dass er dem Team nur beigetreten wäre, um im Rahmen ihrer offenen Beziehung möglichst gut rumvögeln zu können.
Während einer Partynacht treffen Mark und Warren aufeinander und die Alpha-Männchen-Attitüde Warrens verfängt beim ebenfalls selbstbewussten Mark so gar nicht (es ist, als würde Brian Kinney auf Brian Kinney treffen). Und doch ist die beiderseitige Anziehung groß und die zwei landen im Luxusapartment im Bett. Am nächsten Morgen ist der machohafte Warren allerdings voller Vorwürfe: Wieso Mark das habe passieren lassen, schließlich sei Warren in einer Beziehung…
Mehr als ein One-Night-Stand
…dieser Moment am berühmtem Morgen danach gehört mit zu einem der besten in Seitenspiel. Er zeigt deutlich, dass Mark nicht bereit ist, sich die Verantwortung für die frei getroffene Entscheidung eines anderen aufbürden zu lassen. Dies wird, wie nicht wenige Momente des zumeist wunderbar fließenden Films, begleitet von süffisanten Dialogen (das Drehbuch stammt ebenfalls von Matt Carter), die es aber nicht an humaner Gesinnung fehlen lassen.
So ist es auch nur allzu menschlich, dass die Anziehung zwischen den beiden jungen Männern etwa nicht einfach nach einem One-Night-Stand rausgeknallt ist, sondern bestehen bleibt. Mark bricht eine der Offenen-Beziehungs-Regeln und trifft Warren erneut und Warren, nun, der betrügt seinen Partner John (Peter McPherson). Zuschauer*innen mögen sich nun darüber streiten, ob die Entscheidung beide in Beziehungen sein zu lassen, die nicht unbedingt hervorragend laufen, getroffen wurde, um die sich anbahnende Affäre weniger leicht einem Vorwurf aussetzen zu können oder ob sie womöglich auf echtem Leben und Erfahrungswerten beruht.
Viel Gefühl, viel sexy
Wie der Film, der im Original passend In from the side heißt, überhaupt für manche Diskussion sorgen dürfte. Angefangen bei der Frage, ob Affären okay sind; ob fremdgehen zu rechtfertigen ist; ob mensch es zulassen darf, Gefühle für eine weitere Person zu entwickeln. Es steht zu vermuten, dass je nachdem, wie die oder der jeweilige Zuschauer*in sich bei diesen Dingen positioniert, entsprechend einen ganz anderen Film schaut. Was grundsätzlich schon einmal eine spannende Angelegenheit ist.
Spannend ist in diesem so romantischen wie größtenteils cleveren, manche Erwartungshaltung unterwandernden Film natürlich auch die Frage, wann die Affäre auffliegt, denn dass dies geschehen muss, ist natürlich klar. Da die beiden Neu-Verliebten sich manches Mal allerdings auch ein wenig dämlich anstellen, wenn sie sich etwa in vollen Räumen über eine größere Distanz hinweg anschmachten, mag es beinahe erstaunen, dass ihre reichlich sexy inszenierte Seitenbeziehung erst sehr spät ans Licht kommt.
Freundschaften mit Zündstoff
Die Bindung wird noch enger, als Warren immer mal wieder als Gastspieler im Team eingesetzt wird, was für ordentlich Neid beim extrem unsympathischen Pot Stirrer Gareth (Carl Loughlin) sorgt. Aber auch Marks bester Freund Henry (William Hearle) schaut besorgt, fühlt er sich doch mehr von Mark (in den er mehr oder weniger heimlich verliebt zu sein scheint — auch eine ganz schwierige Angelegenheit für beide Seiten, ich schreibe aus Erfahrung) im Stich gelassen… dass er mit Warrens Partner John befreundet ist, gibt der Sache noch zusätzlichen Zündstoff.
Wie erwähnt geht das natürlich irgendwann alles einigermaßen in die Luft (übrigens: Wenn du herausfindest, dass dein*e Partner*in eine Affäre hat und wirklich und unbedingt einer Person auf die Fresse hauen willst, dann schlägst du nicht die Affäre, sondern eben die*den Partner*in, klar?!) und ab hier wird der bis dahin nahezu perfekte Film ein wenig seltsam…
Narrativwende
…nach einem eindeutigen Verrat an Mark und nachdem er die einzig sinnvolle Konsequenz gezogen hat, wird ihm ein schlechtes Gewissen gemacht und er, der in der Tat ein guter, emphatischer und sensibler Mensch ist, durch emotionale Erpressung manipuliert. Zusätzlich verhält Warren sich nicht gerade… fein (überhaupt ist er kaum Sympathieträger, sondern eher die Sorte Mensch, die ihre Unsicherheiten und Sorgen gern von anderen aufgelöst hätte). So etwas passiert, solche Menschen gibt es, klar. Doch das Drehbuch Carters vollzieht nun beinahe eine 180-Grad-Wende, begeht, wenn wir so wollen, eine Täter-Opfer-Umkehr und zaubert zum leider sehr schnulzigen Ende hin eine „Ich bin vom Weg abgekommen“-Nummer aus dem Tiefschutz, die sowohl den Hauptcharakteren wie auch dem ganzen Film unwürdig ist.
Allerdings greift hier wohl wieder der oben genannte Aspekt der individuellen Einstellung zu derlei Fragen. Für jene, für die ausgemacht ist, dass Menschen, die sich fremd- beziehungsweise neuverlieben, die eine Affäre beginnen, Schweine sind, mag darin ein vermeintlicher Errettungsmoment liegen. Für viele andere dürfte sich die Frage stellen, ob wir uns aufgrund eines überinterpretierten Loyalitätsgefühls am Ende nicht viel unglücklicher machen, größere Fehler begehen und gravierendere Lügen leben.
Lebhafte Ambivalenz
Dass Matt Carters auf diversen Festivals gefeierter und prämierter Film Seitenspiel solche Fragen aufwirft und überhaupt manch Kluges über Affären zu sagen hat, ist, bei aller gebotenen Kritik zum Filmende, eine gute Sache. Womöglich mag sie manch ein Paar für einige Tage begleiten, mehr Offenheit ins Heim, Hirn und Herz bringen — es sei denn mensch schreckt aus Bequemlichkeit genau davor zurück und lässt die Dinge laufen, bis sie dann doch allzu augenscheinlich von der Bahn abkommen.
Jedenfalls sorgte die Nachlässigkeit einer (eingehenden) Beschäftigung mit Seitenspiel, an dem übrigens sowohl vor als auch hinter der Kamera größtenteils nicht-heteronormative Menschen beteiligt sind, und seinem Plot im Vorfeld für eine gar wohlfeine Überraschung und brachte kurz vor Jahresende noch einen der ambivalentesten aber auch besten Filme 2022 mit sich (in diesem Zusammenhang seien auch Wildhood und Heartbeast empfohlen). Mit anderen Worten: Unbedingt ansehen!
AS
PS: „Relationships born from deception only create more.“
PPS: Die Musik ist fein; ebenfalls von Matt Carter.
PPPS: In einem lesenswerten Interview mit Attitude sprach Alexander Lincoln über den Rugby-Sport, Queerness in Sport, TV und Film und darüber, dass er Sexualität als Spektrum sehe und sich auch mehr von der Person als ihrem Geschlecht angezogen fühle. Etwas, das er mit den Worten „[n]o, I’m not straight“ auf Instagram untermauerte, wie Queerty berichtete.
Seitenspiel wird im Rahmen der neuen LGBTQI*-Filmreihe Pride Night (jeden 3. Montag im Monat) am 19. Dezember in verschiedenen deutschen Kinos zu sehen sein; regulärer Kinostart ist der 5. Januar 2023
Seitenspiel (OT: In from the side); Großbritannien 2022; Drehbuch und Regie: Matt Carter mit Adam Silver; Kamera: Matt Carter; Musik: Matt Carter; Darsteller*innen: Alexander Lincoln, Alexander King, William Hearle, Christopher Sherwood, Peter McPherson, Pearse Egan, Ivan Comisso, Carl Loughlin, Chris Garner, Alex Hammond, Carl Loughlin, Franck Assi, Mary Lincoln, Kane Surry, Tom Murphy; Laufzeit ca. 134 Minuten; FSK: 12; Originalfassung in Englisch mit deutschen Untertiteln; ab dem 5. Januar 2023 im Kino
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