Zündstoff

Als Jens Spahn (CDU) Gesundheitsminister war, reiste er um die halbe Welt, um Pflegekräfte anzuwerben. Sein Nachfolger, Karl Lauterbach (SPD), tat und tut es ihm gleich. Diese Kräfte sollen helfen, den Personalmangel in der Pflege von Alten und Kranken zu lindern. Dabei jedoch ist diese Branche bezahlter Care-Arbeit nur so etwas wie die Spitze des Eisbergs der Leistungen im Pflegebereich, die hierzulande erbracht werden.

Ein sehr, sehr großer Teil der Pflegearbeit nämlich findet ohne Entlohnung im Rahmen der Familie und im Freundeskreis statt – und zwar ohne reguläre Bezahlung und mit teils überbordenden und atypischen Arbeitszeiten. Die wichtigste Ressource für diese Arbeit ist Zeit. Zeit, die mensch sich für andere Menschen nehmen muss und die nicht für andere Tätigkeiten verwendet werden kann.

Genau hiermit, mit der Zeit, die uns zur Verfügung steht, befasst sich die Publizistin und Autorin Teresa Bücker in ihrem Buch Alle_Zeit – Eine Frage von Macht und Freiheit, das bei Ullstein erschienen ist und für den Deutschen Sachbuchpreis 2023, der am 1. Juni vergeben wurde, nominiert war und nun auf der Shortlist für den NDR Sachbuchpreis steht, der am 1. November vergeben wird. Ihre Kernthese lautet, dass Zeit nicht allen Menschen gleichermaßen zur freien Verfügung steht und dass dadurch gesellschaftliche Ungleichheiten entstehen und zementiert werden.

Viel Zeit

In sechs Kapiteln sowie einem Vorwort und einem als „(K)eine Utopie“ betitelten Ausblick behandelt Bücker die Thematik. Sie stellt zu Beginn die Frage, warum uns die Zeit niemals ausreiche und wirft einige grundsätzliche Fragen zum Zeitverständnis in unserer Gesellschaft auf. Sie beleuchtet die Zeit, die wir für Erwerbsarbeit aufwenden und widmet sich anschließend dem großen und prinzipiell immer zu wenig beachteten Block der Zeit, der für Kümmer- oder Care-Aufgaben zur Verfügung steht.

Ein dritter großer Block entfällt auf freie Zeiten, die jedoch – anders als oft insinuiert – nicht in einem Block daherkommen, sondern eher als Schnipsel und daher vielleicht auf dem Papier als Freizeit erscheinen mögen, aber nicht wirklich Erholung versprechen. Die Generationenfrage wird im fünften Kapitel aufgeworfen, in dem es darum geht, wie Erwachsene ihre Zeit und Macht mit Kindern teilen. Im abschließenden Kapitel schließlich geht es um die Frage, welche Zeit für Politik und gesellschaftliches Engagement aufgewendet werden kann und wie der Kampf zur Beseitigung bestehender Ungerechtigkeiten durch das bisherige System torpediert wird, aber aus Bückers Sicht dennoch zu führen möglich wäre.

Mean Time

Wir haben alle zu wenig Zeit und schaffen in ihr meist weniger, als wir uns vorgenommen haben. Zeit ist ein Aspekt unseres Lebens, über den viele Menschen so erst einmal nicht nachdenken, auch wenn sie uns permanent umgibt. Teresa Bückers Buch verfolgt jedoch den Ansatz, genau das zu ändern. Sie stellt die Zeit in den Mittelpunkt ihrer Analyse und Argumentation und nimmt damit eine Perspektive ein, die uns zwar ausnahmslos alle betrifft, die wir jedoch fast immer unberücksichtigt lassen.

Das allein ist schon ein großer Mehrwert von Alle_Zeit, denn es erlaubt und ermöglicht uns einen neuen Standpunkt einzunehmen, um unser Leben und Schaffen zu reflektieren. Vor allem letzteres nämlich, das Schaffen, hat sich in den letzten Jahrhunderten in den Mittelpunkt unseres Lebens gedrängt. In einem kapitalistischen System, das uns auch und vor allem Wohlstand verschafft hat, ist nämlich die Erwerbsarbeit der Ankerpunkt, um den unsere wache Zeit kreist – eine Priorisierung, die Bücker stark kritisiert.

Zu viel Zeit

Anders ist dies übrigens in nicht-kapitalistischen Systemen, vor allem der Planwirtschaft, wie sie im früheren Ostblock und der DDR lange praktiziert wurde oder wie es sie beispielsweise auf Kuba zumindest auf dem Papier immer noch gibt. Ironischerweise standen gerade in den „Arbeiter- und Bauernstaaten“ Zeit und Ertrag nicht im Zentrum und vor allem war ersteres wohl nicht so knapp wie heute.

Im Gegenteil, Zwangsarbeit in Arbeitslagern war und ist in solchen Systemen sogar eine Methode der Bestrafung. Der Blick auf die Planwirtschaft als Alternative zur kapitalgetriebenen Marktwirtschaft jedenfalls ist eine Perspektive, die in Teresa Bückers Buch bedauerlicherweise eher wenig Raum findet. Auch wenn sie oft mit politisch eher links zu verortenden und gleichsam innovativen Ideen argumentiert – weit ausgewogener übrigens als beispielsweise Simone Schlindwein in Der grüne Krieg oder Niklas Franzen in Brasilien über alles, die ebenfalls aus dem linken Spektrum schreiben. 

Zeit für dich

Deutlich mehr Raum hingegen widmet Bücker Aufgaben, die in unserer Gesellschaft oft nicht beachtet, aber dennoch erledigt werden müssen und wohl auch durch ihre Unsichtbarkeit nicht angemessen wertgeschätzt (sprich: entlohnt) werden. Es geht um die bereits erwähnten Care- oder Kümmeraufgaben. Dadurch, dass diese überwiegend durch Frauen erledigt werden, entstehen und manifestieren sich neue Ungerechtigkeiten.

Diese wiederum arbeitet Teresa Bücker sehr gründlich und sorgsam heraus. Es geht um mehr als Wertschätzung: Es geht um Einkommensunterschiede und finanzielle Abhängigkeiten, um fehlende Rentenpunkte und Altersarmut, um körperliche und seelische Belastungen. Und es geht um den unschätzbaren Wert von Tätigkeiten, die mit der Fürsorge für andere Menschen zusammenhängen.

All das illustriert die Autorin sehr gut und eindrücklich, auch wenn sie dabei an manchen Stellen vielleicht sogar zu sehr in die Materie eindringt. Ihre Botschaft ist zweifelsohne von enormer Bedeutung, aber irgendwann können Leserinnen und Leser an den Punkt kommen, an dem sie sagen: „Ich habe verstanden.“ Von den rund 330 Textseiten, die Alle_Zeit neben den ausführlichen Quellen und Verweisen umfasst, hätten sich also vermutlich locker 30 bis 50 Seiten einsparen lassen können, ohne dass die Botschaft darunter gelitten hätte.

Zeit für mich

Auf inhaltlicher Ebene – und das ist oben bereits angedeutet – gibt es je nach eigener Perspektive verschiedene Punkte, die kritisch bewertet werden können. An einer Stelle beispielsweise erwähnt Bücker das Phänomen des „Feel-Good-Managements“, auf dessen Basis Unternehmen sich dadurch um ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bemühen, dass sie ihnen beispielsweise Obstkörbe, Fitnesskurse oder sonstige „Feel-Good-Leistungen“ zugutekommen lassen, Vielen hingegen wäre etwa mit einem Angebot zum Babysitting deutlich mehr geholfen.

Das mag wahr sein, aber beispielsweise ein kinderloser Mann wie ich, der reichlich Überstunden angehäuft hat, braucht eben keinen Babysitter– lieber nehme ich eine (saisonale) Orange aus einem Obstkorb. Es mag wichtig sein, auf solche Missstände aufmerksam zu machen, aber verschiedene Gruppen gegeneinander auszuspielen (was Teresa Bücker nicht tut, aber bei dieser Form der Argumentation dennoch eine naheliegende Gefahr ist), hilft in der Auseinandersetzung nicht weiter.

Gut investierte Zeit

Oder ein zweites Beispiel: Wenn es darum geht, dass die Arbeit von Putzkräften nicht so sehr wertgeschätzt wird wie die von Führungskräften, was sich unter anderem in unterschiedlichen Preisen bzw. Löhnen zeigt. Das mag zu einem gewissen Grad korrekt sein, denn jede und jeder gibt bei der Arbeit vermutlich das Beste, was sie oder er zu leisten bereit ist – und eine niedrige oder oft gar keine Entlohnung und wenig Wertschätzung sind alles andere als motivierend.

Allerdings gibt es eben auch andere Unterscheidungskriterien, die herangezogen werden können und sollten. Beispielsweise – und darauf kommt Bücker in diesem Zusammenhang nicht wirklich zu sprechen – ein unterschiedliches Bildungsniveau. Manche Tätigkeiten erfordern eine lange und umfangreiche Ausbildung – professionelle Pflegetätigkeiten fallen auch hierunter. Dafür haben höher bezahlte Personen oft einige Jahre – Zeit – ihres Lebens sowie einiges an Geld in Ausbildung und Studium investiert.

Das muss sich konsequenterweise auch in später höheren Gehältern niederschlagen, denn ansonsten würde wiederum der Wert von (Aus-)Bildung und die dafür aufgewendete Zeit ad absurdum geführt. Gerade in einer wissensbasierten Gesellschaft darf dieser Aspekt nicht aus den Augen verloren werden. (Und ja, natürlich gibt es auch Putzkräfte mit hoher Qualifikation, beispielsweise Geflüchtete, deren Abschlüsse nicht anerkannt werden – um solche Fälle soll es aber an dieser Stelle nicht gehen.)

Es wurde Zeit

Je nach persönlicher Lebenssituation und -perspektive gibt es also an Alle_Zeit durchaus einige Punkte, die sich kritisieren lassen. Das soll und darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Teresa Bücker es mit diesem Buch schafft, uns eine neue und/oder oftmals ignorierte Perspektive auf die Bedeutung des Faktors Zeit in unserem Leben und unserer Gesellschaft werfen zu lassen. Gerade was die Zeit betrifft, die wir für die Fürsorge für andere Menschen – Alte, Kranke, Kinder – einsetzen, die Wertschätzung hierfür hält sich viel zu sehr in Grenzen und auf diesen Missstand macht Teresa Bücker deutlich und berechtigterweise aufmerksam.

Hinsichtlich dieses Perspektivwechsels wollen wir daher diesen Text zu Alle_Zeit mit einem Zitat hieraus beenden:

„Wir werden wohl immer in Arbeitsgesellschaften leben, da wir auf diese Weise unser Leben organisieren, doch Arbeitsschwerpunkt ist das Kümmern umeinander. Wenn wir das berücksichtigen, ist unser Land bereits vollbeschäftigt. Wir müssen die gesamte Arbeit, die für ein gutes Leben notwendig ist, aber endlich gerecht verteilen.“

S. 107

HMS

PS: Die Verleihung des NDR Sachbuchpreises 2023 könnt ihr am 1. November 2023 ab 19:00 Uhr im Livestream verfolgen.

UPDATE, 2. November 2023, 04:47 Uhr: Teresa Brücker ist gestern Abend mit dem NDR Sachbuchpreis ausgezeichnet worden und kommentierte das lakonisch: „Die Zeit zu warten hat sich gelohnt.“ Als Jury-Vorsitzende überreichte NDR Programmdirektorin Katja Marx die Auszeichnung im Rahmen es Göttinger Literaturherbstes auf dem Sartorius Campus.

Die Begründung der Jury: „Teresa Bücker geht in ‚ALLE_ZEIT‘ einen originellen wie anspruchsvollen Weg: Anstatt eine komplexe wissenschaftliche Betrachtung zu popularisieren, erhebt sie das anschlussfähige Alltagsthema fehlender Zeit in einen gesellschaftspolitischen Kontext. Sie analysiert den existentiellen und selten bedachten Faktor Zeit als extrem ungerecht verteilte Ressource unserer modernen Gesellschaft. Ein wissenschaftlich fundiertes und relevantes Plädoyer für eine völlig neue Zeitkultur und mehr Zeitgerechtigkeit, klar und klug formuliert. Ein Buch, das wirklich jeden betrifft.“

Wir gratulieren ganz, ganz herzlich!

Eine Leseprobe findet ihr hier; mehr zur Autorin Teresa Bücker hier.

Teresa Bücker: Alle_Zeit – Eine Frage von Macht und Freiheit; Oktober 2022; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; 400 Seiten; ISBN 978-3-5502-0172-1; Ullstein Buchverlage; 21,99 €

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