„Die Wut, mehr Leben zu wollen“

So viel dazu, was uns die Website des Duden Verlags zum Begriff „Subkultur“ zu sagen hat. Wer es gern ein wenig ausführlicher, anschaulicher und aktiver mag, der oder dem sei zu Zwischen den Dörfern auf hundert, dem Debütroman des Theater- und Hörspielmachers Lars Werner, geraten. Da kann mensch sich direkt auf die linke Subkultur – von autonom über radikal zu extrem – stürzen und mit ihr im Umfeld der Fußballweltmeisterschaft 2006 hier und da abstürzen.

„Dieser ruinöse Patriotismus“

2006, ihr wisst schon, als die deutsche Fußi-Nationalmannschaft, also Deutschland, also wir, also Schlaaaand „Weltmeister der Herzen“ wurde(n). Deutschland hat also nicht gewonnen, „aber irgendwas muss ja draus gemacht werden. Diese ganze nationale Berauschung brauchte einen letzten treffenden Slogan, ein letztes Ventil, damit sie sich nicht völlig unkontrolliert anstaute. Also ist aus dem Weltkrieg der Gastfreundschaft der deutsche Herzensweltmeister emporgestiegen“, schreibt Werner. Lässt es seine Hauptfigur (womöglich sein Alter-Ego) Benny Winter sagen respektive denken.

Zwischen den Dörfern auf hundert, erschienen im April 2023 im Albino Verlag, ist auf seinen knapp 250 Seiten voll solcher Sätze, solch so süffisanter wie treffsicherer Kommentare. Im Zusammenhang mit Dresden, dort und in der Umgebung spielt der Roman: „Diese Sehnsucht nach Größe geht hier irgendwie nicht weg. In einer dunklen Ecke des sächsischen Bewusstseins hat sie ausgeharrt wie eine überwinternde Zecke. Und als die Mauer aufbrach, krochen auch Stolz und Trotz wieder hervor, durch die lange Demütigung in Hass verwandelt.“ Das Buch in Kombination mit Dirk Oschmanns polemisch zugespitztem Essay Der Osten: eine westdeutsche Erfindung zu lesen, ist ein zwiespältiges aber lohendes Vergnügen.

Baseballschlägerromantik

Nochmal zu Dresden, kurz nach eben zitierter Stelle: „Denn sobald das Wasser wieder in seinen Bahnen und der ganze Prunk wieder aufgebaut ist, kann der Dresdner gar nicht anders als seine Stadt mit blöder Zärtlichkeit anzuschauen. Diese Zärtlichkeit, die im Hinterzimmer einen Baseballschläger liegen hat.“ Baseballschlägerjahre, Nullerjahre (Hey, Hendrik Bolz), Kinder von Hoy – diese Assoziationen kommen nicht erst ab Seite 125 auf, sie sind im Grunde von Beginn an da.

Nun gut, spielt der Roman, ja, Roman, nicht Essay, doch auch genau in der Mitte der Nullerjahre. Zwei Sommer lang begleiten wir den ich-erzählenden „Benny Winter, picklig, übergewichtig, Teenager“ durch sein Leben zwischen Spießerfamilie und Punkgehabe in irgendeinem fascho– und nazigeprägten Dorf (Großenhain), aus dem aber immer wieder ausgebrochen wird. Was die nicht nur mit dem aufmüpfigen Sohn, sondern vor allem auch sich selbst und ihrer Ehe überforderten Eltern Franka und Rudi (der im Theater oder in einer Verfilmung sicherlich gut von Devid Striesow verkörpert werden könnte) geschehen lassen.

Da liegt was in der Luft

Eigentlich aber beginnt alles mit einem Kuss im Jahre 2006, dann geht‘s zurück ins Jahr 2005 und an den Familienkühlschrank, in dem alles abgezählt ist und dann wieder in den WM-Sommer 2006 und Benny erlebt sein erstes BRN-Festival (Bunte Republik Neustadt), mitsamt eingeklautem Brunch, Poppers, Straßenschlacht, Wasserwerfern und MDMA. Im Jahr zuvor konnte er nicht gehen, da er sich fies den Fuß verstaucht hatte, als er und seine Freund*innengruppe um seine beste Freundin Maren und deren Schwester Liz vor einem Haufen schlagfertiger Behelfsnazis vom Dorffest fliehen mussten.

C‘est la vie, in Saxony.

Dieser Kuss jedenfalls fällt zwischen Arne, dem im Grunde besten Freund Bennys, und eben diesem. Strenggenommen fällt der auch nicht zwischen denen, sondern der recht heterosexuelle und wesentlich ältere Arne gibt dem sich seiner Sexualität nicht sicher seienden Benny diesen nach der Flucht aus einem Club, der von Faschos kleingehauen werden sollte. Überhaupt wird viel gerannt in dem Buch. Und wenn nicht gerannt wird, wird gechillt, philosophiert, gezogen, verpatzt, gefeiert.

FOMO, aber subversiv

Dabei ist Benny durchgehend irgendwie verunsichert, hat immerfort das Gefühl irgendwas nicht mitzubekommen, zu verpassen. Bestätigt wird das scheinbar, wenn ihm ein, zwei „seiner Leute“ mitteilen, er sei irgendwie immer nur so halb… halb da, halb Punk, halb Benny. Dabei ist doch am Ende irgendwie immer alles gleich: „Wir treffen uns bei Maren, hängen ab, gehen in den Park, eine Kneipe, auf ein Konzert. Wüste Abende. Irgendwann pennen. Und am Morgen alles auf Repeat.“

Und doch meint Benny, jedes Wochenende werde Geschichte geschrieben: „Aber jedes Frühstück, jede Party, jedes Abhängen und jeder Brocken Speed, den wir uns teilen, sind einmalig.“ Die Begeisterung der Jugend! Das Leben eine Party – aber eine ernsthafte! Bei den Älteren scheint manches Mal schon mehr Desillusionierung, gar Zynismus durch. Der eher im Hintergrund stattfindende Kampf um die Leitung des alternativen Clubs Rosaluchs steht im Buch exemplarisch dafür.

Alles eins

Spießertum im alternativen Revoluzzer-Gewand. Das ist überhaupt eine aufschlussreiche Erkenntnis aus diesem sprachlich sehr flüssigen Roman: Der – hier immer politische – Punk, das vermeintlich Subversive ist am Ende genauso von Zugehörigkeitscodes, Regeln und Hierarchien durchzogen:

Das sagt Rob, eines von Bennys Love Interests im Verlauf von Zwischen den Dörfern auf hundert, ebenso wie Arne ein Stück älter, aber definitiv nicht sonderlich heterosexuell. Später soll Rob noch einige Kritik abbekommen, als ein Foto von ihm mit seiner Band ihn als Rockstar erscheinen lässt. Das ist den freigeistigen Anarchos dann zu Anti-Anti-Establishment. Echt läst grüßen – die wollten auch Punk‘n‘Roll und bekamen Mainstream, derweil sie ihren Frontmann Kim als Mittelpunkt kritisch sahen und nach einem „Scheiß Bullenstaat“ (aber nicht „Bullenschweine“) das ACAB auf der Zunge trugen, während diese ihnen Schutz boten.

Gib ihnen doch nur‘n kleines bisschen Sicherheit

Im Debüt Werners schützt die Polizei unsere Protagonist*innen nun eher weniger. Was aber vergleichbar zu Echt ist (am 23. November gibt‘s übrigens eine dreiteilige Dokumentation aus den Aufnahmen die mit der „Echt-Cam“ während der Bandzeit entstanden – unseren Text dazu gibt es hier), ist das Sicherungsnetz, auf das auch in Zwischen den Dörfern auf hundert viele zurückfallen können.

Maren und Liz sind super alternativ, gehen irgendwie in der Szene dieser Subkultur auf und doch: Bei der lockeren Mutter Teresa ist Sicherheit. Bei Rob wissen wir es nicht genau, er wird allerdings nicht als jemand vermittelt, der hart zu strugglen hätte. Eine Ausnahme mag der, genau wie Rob, später eingeführte Schweißer bilden. Der nicht nur eine der spannendsten Nebenfiguren ist, sondern es auch wirklich ernst zu meinen scheint mit Veränderung, Umsturz, linkem Leben, etc.

Derweil viele andere eher Salon-Punks zu sein scheinen. Auch bei Benny, der aus gutem Grund und nach vielem, langem Schweigen um Abnabelung vom spießbürgerlichen, passiv-aggressiven Elternhaus bemüht ist (Distanziertheit ist schon lange da), stellt sich die Frage, ob es nicht eher um Zugehörigkeit denn um, nun, nennen wir es mal gesellschaftliche Ideale geht. Schon früher schien er die Rollen seines Selbstbildnisses oft gewechselt zu haben. Ist das auch wieder nur so eine Rollenannahme, um nicht allein zu sein? Alles andere ist durch und die Nazis und Faschos sind keine Option.

Berührungspunkte ausloten

All solche Fragen und noch einige mehr können die geneigten Leser*innen sich bei der durchaus lohnenswerten Lektüre von Zwischen den Dörfern auf hundert selber stellen. Für mich persönlich war sie auch dadurch spannend, dass meine Berührhungspunkte mit dieser speziellen Subkultur in ihrer „Reinform“ bisher eher gering waren. Vor allem in den Teenagertagen. Sicherlich gab es die auch bei uns an der Schule, in der Nachbarschaft. Sicherlich kannte ich da auch ein paar von, aber eben eher flüchtig und mein Leben spielte sich doch woanders ab.

Ich erinnere mich an ein Date vor… nun einiger Zeit. Da nahm mich der Typ in der Nähe der, Überrsaschung, Rigaer Straße in BerlinFriedrichshain in eine sehr, sehr, sehr alternative Kneipen-/Bar-/Clubsituation (die es meines Wissens nach nicht mehr gibt, genauso verschwunden wie der Typ) mit und ich fühlte mich dort durchaus sehr, sehr, sehr fremd. Alle waren nett (so nett, wie mensch in Berliner Kneipen eben is‘), alles war okay. Meine Welt aber war‘s nicht, irgendwie fühlte ich mich unbehaglich. Der Sex im Anschluss glich das etwas aus.

Apropos: Sehr sexuell ist Zwischen den Dörfern auf hundert nicht. Sehen wir mal von Knutschereien, vermuteten Ficks und einem selbstgemachten Analplug zum Üben ab. Dennoch knistert es in der zum Ende ein wenig mäandernden Geschichte nicht selten.

AS

PS: FunFact #538: Zwischen den Dörfern auf hundert zu lesen begonnen habe ich direkt nach Beendigung der Lektüre des im Herder Verlag erschienenen >>Die ticken doch nicht richtig!<< Warum Politik neu denken muss von Carsten Linnemann. Einfach mal Kontrast machen!

Lars Werner: Zwischen den Dörfern auf hundert; April 2023; 248 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen; ISBN 978-3-86300-354-8; Albino Verlag; 24,00 €

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