Eine Lektion in Moral und Anstand

Eine Lektion in Moral und Anstand“… Hmm… das scheint doch eine etwas eigenwillige Überschrift zu einer Rezension des zehnten Teils eines der größten, blutigsten und garstigsten Horror-Franchises der Filmgeschichte zu sein. Dann allerdings ging es in den Saw-Filmen immer auch irgendwie genau darum. Schließlich war es von Beginn an John Kramers aka Jigsaws erklärtes Ziel, die Menschen durch seine Prüfungen wieder auf den rechten Pfad zu führen. Ihnen Wege aus einer häufig selbst gewählten Misere aufzuzeigen, von vorne zu beginnen. Jeder Mensch hat eine Wahl, so das Credo des Tüftlers mit Geschmack für metaphorische Herausforderungen.

Zurück zu den Ursprüngen?

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich gemütlich mit einem Gläschen Likör 43 plus Milch im schaumigen Wasser in der Wanne sitzend erstmals vom Phänomen namens „Saw“ las, das in den USA Menschen so begeistert wie geschockt hätte und bei geringem Budget massiv an den Kinokassen eingefahren hatte. Erinnerte irgendwie an Blair Witch Project, den ich mit einem damaligen Bekannten aus meiner Schule im Kino gesehen hatte. Also er nur gut die Hälfte, weil er dann den Saal verließ. Was ich bis heute gut verstehen kann, auch mich forderte der atmosphärische Grusel, der bis heute wirken kann, heraus.

Billy, die Puppe, kehrt auch in SAW X wieder zurück // © Lionsgate / Alexandro Bolaños Escamilla

Der Gruselfaktor war nie wesentlicher Bestandteil der Saw-Filme. Sicherlich – die Sorge von Pighead und Co. geholt zu werden, mag ihren gruseligen Reiz gehabt haben. Doch eigentlich waren es die Aufgaben der Protagonist*innen, die für uns Zuschauende die Herausforderungen und sicherlich auch manchen Spaß darstellten. Vor allem ab dem vierten Teil entwickelte sich die von Leigh Whannell und James Wan erdachte und ab dem famosen zweiten Film von Darren Lynn Bousman mit weitergesponnene Reihe mehr und mehr zum belanglosen aber unterhaltsamen Torture-Porn.

Oink // © Lionsgate / Ivan Meza

Die fand 2010 mit dem von Kevin Greutert inszenierten SAW 3D – Vollendung ihren vorläufigen, unwürdigen Abschluss. Greutert, von Beginn an als Editor dabei, kannte die Reihe gut, insofern überraschte der uninspirierte Beitrag (Drehbuch: Patrick Melton & Marcus Dunstan). Drum war bei mir eine gewisse Skepsis vorhanden, als bekannt wurde, dass Greutert auch den zehnten Teil der Reihe umsetzen würde, der sich nach Jigsaw (2017, Regie: The Spierig Brothers) und dem etwas anders gelagerten, spannenden Saw: Spiral (2021, Regie: Darren Lynn Bousman) wieder auf die Urpsrünge der vormals faszinierenden Filmreihe besinnen wollte und sollte…

Menschliches Grauen

…was SAW X, der zwischen dem ersten und zweiten Teil spielt, in der Tat schafft. Das Autorenduo Josh Stolberg und Peter Goldfinger zeichnete auch für die beiden vorhergehenden Filme verantwortlich und bringt hier fertig, was die Teile vier bis sieben eher nicht mehr schafften: Uns interessiert zusehen und mitfiebern zu lassen.

Cecilia Perderson – klüger als Jigsaw ahnt // © Lionsgate /Alexandro Bolaños Escamilla

Dies nicht zuletzt, weil wir hier den Menschen John Kramer kennenlernen, wie er immer mal wieder angedeutet, aber nie wirklich erzählt wurde. So ist die erste Hälfte des Films, in dem es primär um Johns Krebserkrankung, seinen Kampf gegen diese und ums eigene Überleben sowie eine vermeintlich heilende Therapie in Mexiko City (wo der Film auch gedreht wurde) geht, beinahe eher ein Drama denn ein Horrorfilm. Wenn natürlich auch in der ersten der zwei Stunden Laufzeit schon manch ein grausiger Moment kommt.

Das Grauen allerdings spielt sich in diesem starken Horror-DramaThriller allerdings auch stark auf zwischenmenschlicher Ebene ab. Denn Dr. Cecilia Perderson (Synnøve Macody Lund, Ragnarök, Riviera) und ihr Behandlungsteam Diego (Joshau Okamoto), Gabriela (Renata Vaca), Mateo (Octavio Hinojosa) und Valentina (Paulette Hernández) machen Kramer nur etwas vor. Die OP – Johns letzte Chance, nachdem ein anderer Arzt ihm dazu riet, behaglich zu sterben – die er auf einem Bildschirm zu beobachten meint, ist eigentlich nur das Video einer Lern-DVD.

Gebrochenes Porzellan kleben

Blöderweise hat sich die Truppe aber eben doch wohl mit dem falschen Kranken angelegt. Wie sagt John in einem Gespräch zu Frau Doktor – im Grunde sei er sowas wie ein Life-Coach. Joar, passt scho. Mit Hilfe seiner Schülerin Amanda (Shawnee Smith) kascht er nach und nach alle Beteiligten und bringt sie mit Ausnahme Diegos, der schon vorher abgehandelt wurde, in der stillgelegten Chemiefabrik, in der er angeblich operiert wurde, wieder zusammen um sein persönlichstes aber auch bislang herausforderndstes Spiel zu spielen.

Hello Amanda // © Lionsgate / Alexandro Bolaños Escamilla

Auch uns Zuschauer*innen verlangt dieser zehnte Eintrag ins Sawiversum einiges ab. Die Fallen oder eher Aufgaben sind so kreativ und fies wie lange nicht. Dazu so passend zu den Individuen wie lange nicht. Natürlich ist‘s auch hier wieder so, dass manch eine*r nur wenige Sekunden vor Bewältigung der Prüfung draufgeht. Ist die knapp bemessene Zeit abgelaufen, isch eben over. Entschiedenes Vorgehen gewinnt, Zögerlichkeit verliert. Auch irgendwie eine Allegorie aufs Leben.

Kopfweh // © Lionsgate / Alexandro Bolaños Escamilla

Der philosophisch veranlagte Jigsaw jedenfalls kennt da bekanntlich keine Gnade. Bei der ihm zugeneigten Amanda sehen wir jedoch bereits erste Zweifel ob der Brutalität ihrer Tätigkeiten. So dient SAW X, an dem wohl sieben Jahre gearbeitet wurde, auch dazu, uns ein wenig mehr Input zu geben, wie es zu Amandas späterem Wandel und ihrer Abwendung von John Kramer kam. Das ist gut, schien dies damals doch recht unvermittelt zu geschehen (ihre Hysterie im dritten Teil hat die Figur nachhaltig beschädigt und ihr viel von ihrer Faszination genommen).

Wer wagt, gewinnt das Spiel

Auch im durchweg gut besetzten und glaubwürdig gespielten zehnten Teil ist Amanda an mancher Stelle fahrig, dies jedoch eher aus Sorge um John, der sichtlich geschwächt auch die eine oder andere Fehleinschätzung trifft. Offenbar schon zu Beginn des Films, als seine Angst vor dem quälenden Krebstod und die vermeintliche Chance diesem zu entrinnen, ihn seine Menschenkenntnis vergessen und eben auf eine betrügerische – und sehr charismatische – Bande reinfallen lässt.

Halsweh // © Lionsgate / Alexandro Bolaños Escamilla

Das allerdings ist unter den für ihn gegebenen Umständen recht verständlich. Und schließlich kam er auf Empfehlung eines Bekannten aus einer Selbshilfegruppe (Michael Beach in einer Nebenrolle) zu Dr. Pederson. Es menschelt also sehr in diesem Film, was manchen sicherlich sauer aufstoßen mag, ist es doch nahezu unumgänglich, Sympathie für den Mörder, der selber nicht mordet, zu empfinden. Spannend ist SAW X vor allem auch in jenen Momenten, in denen Cecilia Pederson sich einen Schlagabtausch mit John über dessen durchaus auch als heuchlerisch anzusehenden Moralkodex leistet.

Ebenso war ein Saw-Finale, gewohnt stimmungsvoll begleitet vom Score Charlie Clousers, selten so spannend wie hier. Überhaupt ist die ganze Struktur des Films eine andere als zuvor. Schon beginnend mit dem Einstieg: SAW X startet nicht mit der ersten Prüfung, sondern einem desillusionierten John Kramer. So lässt sich also sagen, dass die Macher*innen in SAW X einiges gewagt haben und sich dieses Wagnis bezahlt macht. Eine absolute Empfehlung, vor allem für jene, die die Reihe von Beginn an verfolgt haben und noch immer gern an die blutig-cleveren Anfänge zurückdenken.

AS

PS: „We have a rope.“ – Und was für eines…

PPS: „Not water-boarding, huh?! Blood-boarding.“

SAW X; USA 2023; Buch: Peter Goldfinger, Josh Stolberg; Regie und Schnitt: Kevin Greutert; Bildgestaltung: Nick Matthews; Musik: Charlie Clouser; Darsteller*innen: Tobin Bell, Shawnee Smith, Synnøve Macody Lund, Steven Brand, Joshua Okamoto, Octavio Hinojosa, Renata Vaca, Michael Beach, Paulette Hernández, Jorge Briseñ, Isan Beomhyun Lee, Costas Mandylor; Laufzeit ca. 119 Minuten; FSK 18; ab dem 30. November 2023 im Kino im Verleih von Studiocanal

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert