Gute Punkte, schlechte Punkte 

Hui! Das war doch eine recht aufregende europäische Wahlnacht… Bis zuletzt schien offen, welcher (Buchmacher-)Favorit sich durchsetzt. Ging Loreen aus Schweden mit ihrem Song „Tattoo“ dank der Jurystimmen zwar schnell in Führung, war den Zuschauer*innen bewusst: Mit den Stimmen derselben durch Televotings (dieses Mal auch möglich für Länder, die nicht am ESC teilnahmen und vielleicht eine Öffnung hin zu einem World Song Contest) könnte sich alles drehen und so schienen auch Käärijä aus Finnland mit „Cha Cha Cha“ sowie Noa Kirel aus Israel mit ihrem Beitrag „Unicorn“ als mögliche Siegeroptionen.

„Ich sag’s immer wieder gerne, insbesondere nach Italien letztes Jahr: Einmal mit Profis arbeiten… Eine MEEEEGA-Show von der BBC mit drei kurzweiligen Abenden, von denen ich keinen einzigen Moment missen möchte. Loreen hat nicht unverdient gewonnen, wenn sie in ihrer Performance auch weit hinter ihrer Leistung aus dem Semi zurück geblieben ist… Mal schauen, wann Måns Zelmerlöw wieder antritt… 2024?“

Unser Autor Frank Hebenstreit zum 67. Eurovision Song Contest – und einem Blick in die Zukunft

The Greatest Show

Und schon sind wir mittendrin in unserem kleinen Eurovision Song Contest 2023 Nachklapp. Wir müssen gestehen, dass wir in diesem Jahr schon gespannt die beiden Halbfinal-Shows geschaut haben. Was nicht zuletzt auch daran lag, dass wir — bei allen kleinen Witzchen, die mensch so macht — noch einmal möglichst viel Peter Urban abbekommen wollten, der nach 25 Jahren und kurz nach seinem 75. Geburtstag seinen Kommentatoren-Glitzerhut weiterreichen wird. Aber auch das britisch-ukrainische Moderationsteam Julia Sanina, Hannah Waddingham und Alesha Dixon lieferte bei den Semi-Finals ordentlich ab; immer wieder tauchte auch der ukrainische ESC-Moderator Timur Miroshnychenko auf.

So auch gestern Abend, ergänzt um Graham Norton, der zuvor für die BBC kommentierte. Ausgetragen wurde dieser wieder sehr queer-reiche ESC in der Liverpooler M&S Bank Arena am Mersey River, da das Gewinnerland des letzten Jahres, die Ukraine, aus offensichtlichen Gründen kaum in der Lage gewesen wäre, hier als sicherer Gastgeber aufzutreten. Der ukrainische Vorentscheid fand etwa unterirdisch statt. Bombenalarm und so

Euphorische Kopie

Ganz und gar nicht unterirdisch hingegen war der Act, den das Land nach Liverpool schickte: Tvorchi kam mit der schön-düsteren Elektro-Rap-Antikriegs-Hymne „Heart of Steel“, die auch der von den russischen Kräften zerstörten Stadt Mariupol gedachte, auf den sechsten Platz, dies vor allem dank 189 Publikumspunkten. Diese verhalfen auch dem norwegischen Beitrag „Queen of Kings“ von Alessandra auf Patz fünf. Die oberen vier Plätze hingegen, zu denen neben den oben genannten noch der wunderschöne italienische Song „Due vite“ von Marco Mengoni (nach allem, was wir in unserem Umfeld und den sozialen Netzwerken so mitbekommen haben, ein Favorit der LGBTIQ*-Community) gehörte, waren bei Jury und Publikum gleichermaßen hoch angesehen. 

Marco Mengoni schmettert uns mit „Due vite“ bei seiner zweiten ESC-Teilnahme einen so kraft- wie gefühlvollen Song entgegen // © EBU, Foto: Chloe Hashemi

Das erstaunt dann doch ein wenig. Jedenfalls in Bezug auf Loreens Beitrag aus Schweden. Sie hat eine klasse Stimme, die Message des Songs ist ebenfalls eine unterstützenswerte (Schlussstrich unter eine toxische Beziehung), der Auftritt war souverän. Allein klang „Tattoo“ wirklich beinahe exakt so wie „Euphoria“ — ihr Siegertitel aus dem Jahre 2012 und, wie der diesjährige Track, ebenfalls geschrieben von Peter Boström und Thomas G:son. Auffallend, dass die Jurys scheinbar bekannte Künstler*innen bevorzugen, es nicht so mit Innovation haben und einen quasi eigenkopierten Song präferieren. Andererseits: Auch das Publikumsvoting ergab durch das komplexe Rechenmodell 243 Punkte.

Herzen für Finnland und die Ukraine

Dennoch räumte hier Käärijä mit seinem Metal-Rap-Elektro-150BPM-Song für Finnland solide ab. Nach „nur“ 150 Jurypunkten gab es sagenhafte 376 vom Publikum. Sicherlich erhielt das Kalush Orchestra im vergangenen Jahr weit mehr, das durfte aber auch als solidarisches Zeichen gegenüber der von Putins Russland angegriffen Ukraine gewertet werden. Da sahen wir: Der Eurovision ist politisch. Da können die Statuten behaupten, was sie wollen. Das vermeintlich Unpolitische führte auch dazu, dass die European Broadcast Union (EBU) dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj den Wunsch eine Grußbotschaft an die Zuschauer*innen des ESC zu richten abschlug. Wir finden das eher bedauerlich, verstehen es aber auch irgendwo. Auf Twitter stellten wir genau diese Frage und 62,5 % der Abstimmenden meinen, dass so eine Botschaft nicht gepasst hätte. Auf Instagram sieht es, bei einer noch laufenden Abstimmung, exakt konträr aus.

Immerhin wurde durch die wirklich gelungene Inszenierung der BBC in Zusammenarbeit mit dem ukrainischen Rundfunk Suspilne deutlich, dass der ESC unter dem Motto „United by Music“ ein ukrainischer war. Zwar traten am Ende ESC-Musiker*innen aus aller Welt auf, u. a. Mahmood, Netta und Duncan Laurence, und sangen bekannte mit Liverpool verknüpfte Hits. Doch wenn zu „You’ll Never Walk Alone“ alle Beteiligen gemeinsam singen und in der Ukraine Fahnen geschwenkt werden, ist das ein politischer Gänsehaut-Moment. Ebenso gab es immer wieder Intervall-Acts aus der Ukraine und auch die starke Eröffnungssequenz, in der Kalush nochmals ihren Siegertitel „Stefania“ zum Besten gaben, war großes pro-ukrainisches Freundschaftskino.

Clowns und Female Empowerment

Auch die Einspielerfilme haben immer wieder bekannte Orte des kriegsgeschundenen Landes gezeigt. Dabei dachten wir immer wieder an den Fotoband Ukraine — Unsere Heimat ohne Krieg, der im vergangenen Winter bei Frederking & Thaler erschienen ist (eine Besprechung folgt). Das Bühnendesign beruhte auf dem Motto „Zusammensein, Feiern und Gemeinschaft“ und die Architektur ließ sich von einer Umarmung inspirieren und öffne ihre Arme für die Ukraine, die Darsteller der Show und Gäste aus der ganzen Welt, erklärte der Designer Julio Himede. Auch dies scheint maximal politisch: Über die Kunst, den Spaß und die Lebensfreude der Musik scheinen die Brits ihrer Unzufriedenheit mit dem Brexit Ausdruck verleihen zu wollen.

Let 3 gibt bei „Mama ŠČ!“ beinahe das letzte Hemd // © EBU, Foto: Chloe Hashemi

Politisch auch der Song der kroatischen Satire-Band Let 3 „Mama ŠČ!“: In bunten Kostümen, mit viel Make-up und weißen Schlüpfern sowie einem Teufel mit Raketen ist der Titel eine Ansage an all die Autokraten dieser Welt: Ihr seid Clowns. Wunderbar! Aber nicht nur in dieser Hinsicht ging es politisch zu, auch in Bezug auf Female Empowerment war dieses Jahr viel geboten: Ob aus Tschechien Vesna mit „My Sister’s Crown“, Teya & Salena aus Österreich mit dem sehr feinen Auftakttitel „Who the Hell is Edgar?“, Loreen und Alessandra wurden erwähnt oder auch „I Wrote A Song“ von Mae Muller aus Großbritannien — die erstaunlicherweise und leider nur auf dem vorletzten 25. Platz landete (Jury 15, Publikum 9 Punkte).

Totalausfälle über Glitzerblut

Womit wir zum letzten Platz kommen wollen, müssen: Germany Eigtheen Points heißt es hier für Lord of the Lost und den Glam-Metal-Pop-Song „Blood and Glitter“, womit die Gruppe auf Platz 26 strandete (Jury 3, Publikum 15 Punkte). Das ist schade und unverdient. Der Track mag kein Siegertitel sein, ebenso fiel diese ESC-Performance etwas kraftloser aus, als jene im deutschen Vorentscheid „Unser Song für Liverpool“. Doch so schlecht war’s nun wirklich nicht (bitte mal Blick nach Moldau oder Albanien, gern auch Spanien — drei Totalausfälle). Zumal die Jurys ihre Punkte ja nach der Generalprobe tags zuvor vergaben. (In der deutschen Jury übrigens: Katja Ebstein, Arne Ghosh, Anica Russo, Alina Süggeler und Kai Tölk die Israel Zero Points gaben — irritierend.)

Indirekt bekam Deutschland immerhin ein paar Punkte: Der dröge Song „Promise“ der australischen Band Voyager landete auf dem neunten Platz und immerhin stammt der Sänger, Danny Estrin, aus Buchholz in der Nordheide. Mensch, toll. Überhaupt erstaunte manch Wertung, aber das ist beim Eurovision doch auch irgendwie nichts Neues und immer wieder ein Faszinosum. 

Weniger als erhofft kommt oft

Festzuhalten bleibt, dass es im Gegensatz zum vergangenen Jahr eine wirklich unterhaltsame Show war und es weit mehr Freude macht, die Playlist aller 37 möglichen ESC-Titel (bedauerlich, dass Wild Youth aus Irland mit „We Are One“, The Busker aus Malta mit „Dance (Our Own Party) und Reiley aus Dänemark mit „Breaking My Heart“ in den Halbfinal-Shows ausgeschieden sind, gerade wenn wir auf den netten Song mit unfähigem Sänger „Samo mi se spava“ von Luke Black aus Serbien blicken) in der Playlist zu hören. Dabei fällt auch auf, dass es in diesem Jahr sehr, sehr poppig und uptempo-reich zuging, wir viele sich steigernde Refrains sowie eine Menge tanzbarer Tracks hatten – dafür jedoch keine einzige schmalzige Ballade und keine schönen Schlager

„You wanna see me dance?“, fragt Noa Kirel aus Israel in ihrem Song Unicorn – und legt los! // © EBU, Foto: Sarah Louise Bennett

Das Ergebnis dürfte wie so oft umstritten sein (in der Halle wurde während der Verkündung der Punkte immer mal wieder laut „Cha Cha Cha, Cha Cha Cha, Cha Cha Cha“ oder „Käärijä, Käärijä, Käärijä“ gerufen), die Debatte darüber, was Deutschland anders machen muss, entbrennen (weniger debattieren?) und natürlich die Frage im Raum stehen, wer Peter Urban nachfolgen soll. Dieser kommentierte die Platzierung Deutschlands übrigens wie folgt: „Ach, ich hätte mir von meinem letzten ESC mehr erhofft. Wirklich.“ 

Wir uns auch. War dennoch schön. Also: Bis zum nächsten Jahr. 

QR

PS: Hörenswert sind auch die Tracks „Because of You“ von Gustaph aus Belgien, mit vielen feinen Elementen der 70er und 90er, „Èvidemment“ von La Zarra aus Frankreich, „Ai Coração“ von Mimicat aus Portugal sowie „Carpe Diem“ von Joker Out aus Slowenien, der irgendwie hervorragend zum François Ozon-Film Sommer 85 passt und uns an die Band Sugarplum Fairy denken ließ.

PPS: Deutschland ist nun zum neunten Mal Letztplatzierter (so oft wie kein anderes Land, wobei auch nicht alle Länder immer teilnehmen); Schweden ist mit sieben Siegen nun gleichauf mit Irland, aus beiden Länder hat jeweils ein Act zwei Mal gewonnen.

PPPS: Ebenfalls noch der Hinweis auf Jan Böhmermanns Hammer-Song „Allemange Zero Points“.

LED-Boxen und Futurismus bei Tvorchi und ihrem „Heart of Steel“ für die Ukraine // © EBU, Foto: Chloe Hashemi

PPPPS: Heute um 15:00 Uhr wird in der Frankfurter Paulskirche der diesjährige Internationale Karlspreis zu Aachen an den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und an das ukrainische Volk verliehen. Die Jury begründet die Vergabe so: „Das ukrainische Volk verteidigt unter der Führung seines Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nicht nur die Souveränität seines Landes und das Leben seiner Bürger, sondern auch Europa und die europäischen Werte.“ Selenskyj kam bereits am späten Samstagabend in Berlin an und wird, genau wie Kanzler Olaf Scholz, der die Laudatio hält, an der Verleihung teilnehmen. Phoenix beträgt diese live (nein, hat nichts mit Conchita Wurst zu tun). 

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